José Saramago : Das steinerne Floß

Das steinerne Floß
Originalausgabe: A Jangada de Pedra Editorial Caminho, Lissabon 1986 Das steinerne Floß Übersetzung: Andreas Klotsch Rowohlt Verlag, Reinbek 1990 ISBN 3-498-06223-9, 414 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Unvermittelt bricht die Iberische Halbinsel vom Kontinent ab und treibt in den Atlantik hinaus. "Das steinerne Floß" handelt von der Reise einiger Menschen aus Spanien und Portugal zueinander, miteinander und zu sich selbst. Der Roman ist aber auch eine Gesellschaftssatire, in der die hohlen und verlogenen Reaktionen von Politikern ebenso ironisch kritisiert werden wie der Egoismus und die soziale Verantwortungslosigkeit der Eliten und der privilegierten Schichten.
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Kritik

Wie kaum einem anderen Schriftsteller gelingt es Saramago, das Denken in Metaphern aufgehen zu lassen und Vieldeutiges in einprägsamen Bildern zu veranschaulichen. Seine Sprache ist nicht nur bilderreich, sondern auch barock verschnörkelt und orientalisch ausschweifend; sie klingt zumindest über weite Strecken wie ein vergnüglicher mündlicher Vortrag.
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Unvermittelt beginnen die seit Urzeiten stummen Hunde, die Nachfahren des Höllenhundes Zerberus, in Cerbère (!) zu bellen. Die abergläubischen Bewohner des südfranzösischen Badeortes halten das für ein Zeichen des Weltuntergangs und legen vergiftete Köder aus, aber die Tiere ziehen sich in die Umgebung zurück, nachdem ein einziger betagter Hund namens Médor an dem Gift zugrunde ging.

Weil es auf dieser Welt allerdings noch einen Funken Gerechtigkeit gibt, hatte der Herrgott, auf poetische Weise, entschieden, dass Médor just an dem Fleischkloß stürbe, den das geliebte Frauchen, geklagt sei’s, einer ihr verhassten Hündin aus der Nachbarschaft zugedacht hatte. (Seite 9f)

Zu der Zeit, als die Hunde in Cerbère kläffen, geht der fünfunddreißig bis vierzig Jahre alte portugiesische Büroangestellte Joaquim Sassa, der gerade Urlaub hat, bei Porto am Strand spazieren, hebt einen kiloschweren Stein auf und wirft ihn Richtung Meer. Verblüfft starrt er dem Stein nach, der weit hinaus fliegt und mehrmals von der Wasseroberfläche abprallt, als handele es sich um einen kleinen, flachen Kieselstein.

Zuerst in den östlichen, dann auch in den westlichen Pyrenäen klaffen plötzlich Risse und Spalten. Im Flussbett des Irati fließt von jetzt auf gleich kein Wasser mehr, und als eine Expedition flussaufwärts vordringt, stellt sich heraus, dass die Wassermassen über einen gewaltigen Katarakt in eine Erdspalte stürzen und in der Tiefe verschwinden. Bei einer besser zugänglichen Bruchstelle in den Pyrenäen drängen sich die Schaulustigen.

Die Journalisten, kaum ausgestiegen, forschen nach, wie dies passiert ist, und nehmen alle dieselbe eine Geschichte auf, mit einigen Abweichungen, die ihre eigene Fantasie noch um etliches ausschmücken wird, aber, auf den einfachen Fall zurückgebracht, das Ereignis wurde von einem Autofahrer gemeldet, der am schon dunklen Abend hier vorbeikam und dabei spürte, dass sein Wagen plötzlich einen Hüpfer tat, als führen die Räder durch eine tiefe Querrinne, er stieg aus und sah nach, was dies bedeuten konnte, vielleicht Reparaturarbeiten an der Fahrbahndecke, unvorsichtigerweise nicht kenntlich gemacht. Der Spalt zu diesem Zeitpunkt eine halbe Spanne breit und etwa vier Meter lang, wenn überhaupt. Der Mann, ein Portugiese, namens Sousa, und mit der Ehefrau und Schwiegereltern auf Reisen, kehrte zum Wagen zurück und sagte, man könnte meinen, wir sind schon in Portugal, denkt euch, ein riesiger Graben, das hätte mir die Felge verbeulen oder die Achse brechen können. Nicht Graben und nicht riesig, doch die Worte, so von uns gesagt, haben ihr Gutes, sie helfen, denn allein schon weil übertrieben, besänftigen sie sogleich unseren Schrecken und unsere Erregung, und warum, weil sie dramatisieren. Die Frau, nicht sonderlich empfänglich für die Mitteilung, erwiderte, da schau, und er fand, er solle den Ratschlag befolgen, obwohl es vielleicht anders gemeint war, denn die Bemerkung der Senhora, mehr Ausruf denn kurzgefasste Empfehlung, gehörte zu jenen Sätzen, die stellvertretend als Erwiderung dienen, der Mann stieg wieder aus, prüfte die Felgen, erkennbare Schäden fand er nicht, ein Glück. Wenige Tage später, da schon in seiner portugiesischen Heimat, wird er ein Held sein, werden Fernsehen, Radio und Presse ihn befragen. Sie Senhor Sousa, haben es als Erster gesehen, erzählen Sie uns, was sie in jenem entsetzlichen Augenblick empfanden. (Seite 30f)

Sowohl aus Frankreich als auch als Spanien werden Betonmischmaschinen zu der Stelle gebracht, und Arbeiter beginnen die schätzungsweise zwanzig Meter tiefe Spalte zu füllen. Es dauert einige Zeit, aber schließlich ist das Loch im Boden verschlossen. Da setzt sich jedoch die Oberfläche des noch weichen Betons in Bewegung, und die Füllmasse wird nach unten abgesogen. Was geht im Erdinneren vor? Die Seismologen messen keine auffälligen Schwingungen, die auf ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch hinweisen würden.

Joaquim Sassa hört im Fernsehen eine kurze Nachricht ohne Bildeinblendung über einen in der Nähe von Granada lebenden Spanier namens Pedro Orce, der behauptet, er spüre die Erde vibrieren, seit er vor einer Woche beim Aufstehen von einem Stuhl hart mit den Füßen aufgetreten sei. Von seinem eigenen seltsamen Erlebnis und den Meldungen über die Risse in den Pyrenäen irritiert, beschließt Joaquim, diesen Mann aufzusuchen, und er macht sich in seinem alten Deux Chevaux auf den Weg nach Andalusien.

In einem Gürtel von hundert Kilometer beiderseits der spanisch-französischen Grenze verlassen die Menschen sicherheitshalber ihre Häuser und Wohnungen und ziehen sich nach Süden bzw. Norden zurück. Nachts reißen die Starkstromleitungen zwischen den beiden auseinanderstrebenden Landmassen. Fünfzehn Minuten lang herrscht auf der Iberischen Halbinsel Dunkelheit, bis über Notschaltungen wieder Strom fließt, obwohl die Talsperren mitten im August nur unzureichend gefüllt sind.

Panikartig fliehen die Touristen. Sie lassen ihre Autos im Umkreis der Flug- und Seehäfen stehen. Bald werden keine Tickets mehr gekauft, sondern die Flugzeuge gestürmt: die Männer voran; Frauen und Kinder folgen soweit wie möglich. Nicht wenige werden in dem Chaos niedergetrampelt.

Auch zwischen La Línea und Gibraltar tut sich ein Spalt auf. Während El Peñon im Mittelmeer stehen bleibt, bewegt die Iberische Halbinsel sich von ihm fort. Die Regierung in London bekräftigt unverzüglich die britischen Ansprüche auf Gibraltar und sieht jetzt auch keinen Sinn mehr darin, die bilateralen Gespräche mit Spanien über einen Interessenausgleich fortzusetzen.

In einem Marktflecken in der Provinz Ribatejo, wo Joaquim Sassa übernachten will, erfährt er zufällig, dass der örtliche Lehrer seit Tagen von einem riesigen Schwarm Stare begleitet wird. Trotz der späten Stunde sucht Joaquim den etwa gleichaltrigen Mann in seinem Haus neben der Schule auf und tauscht sich mit ihm über die seltsamen Phänomene der letzten Tage aus. Weil José Anaiço – so heißt der Lehrer – ebenfalls ungebunden ist und auch gerade Ferien hat, schließt er sich seinem Landsmann bei der Weiterreise nach Andalusien an. Und die Stare begleiten die beiden. Zwischen der Sierra Morena und der Sierra Aracena begegnen sie dem Spanier Roque Lozano aus Zufre in der Provinz Huelva, der mit seinem Esel Platero nach Norden unterwegs ist, um sich die Abbruchstelle in den Pyrenäen anzuschauen.

In Orce bei Granada finden die beiden Portugiesen Pedro Orce, einen über sechzigjährigen Apotheker, der zwar wie sein Wohnort heißt, aber nicht hier, sondern im benachbarten Venta Micena geboren wurde. Nachdem die drei Männer sich über ihre ungewöhnlichen Erlebnisse unterhalten haben, bittet Pedro seine Besucher, die wieder nach Portugal fahren wollen, ihn nach Lissabon mitzunehmen, damit er die Stadt einmal sehen kann. Irgendwie wird er von dort schon wieder zurückkommen, und seine ohnehin kaum etwas abwerfende Apotheke überlässt er währenddessen seinem Gehilfen.

Die Unterprivilegierten in Portugal besetzen die von den Touristen verlassenen Hotels, weil sie nicht einsehen, dass sie weiterhin in ihren schäbigen Behausungen leben sollen, während komfortable Zimmer mit fließendem Wasser und WC leer stehen. In Albufeira geraten Pedro, José und Joaquim in einen Straßenkampf zwischen der Polizei und den Hotelbesetzern. Am Ende überlassen sie die eroberten Zimmer bedürftigeren Menschen und fahren weiter Richtung Lissabon, während in den Hotels an der Algarve bereits demokratisch gewählte Mieterkommissionen amtieren und Gremien für Hygiene, Küche, Feste, Sport, Kultur, Bildung und staatsbürgerliche Erziehung eingesetzt werden.

Erschrocken setzen sich die Reichen innerhalb einer Woche mit ihrem beweglichen Vermögen – Geldeinlagen, Gold, Silber, Edelsteine – in andere Länder auf dem europäischen Kontinent ab, und auf der Iberischen Insel bleibt nur noch ein kleiner Rest von Banknoten zurück.

Wie sich nun zeigte, ist das gesellschaftliche Gebäude in seiner ganzen Vielfalt ein Kartenhaus, ist nur vermeintlich fest gefügt, sobald wir der Tischplatte, auf der es hochgebaut steht, einen Stoß versetzen, stürzt es zusammen. (Seite 291)

Die zwei Portugiesen und ihr spanischer Freund erreichen den Tejo und erblicken auf der anderen Seite der Bucht Lissabon.

Der Deux Chevaux fährt bedächtig über die Brücke, mit zulässiger Mindestgeschwindigkeit, damit der Spanier in Muße die Schönheiten des ländlichen und meerischen Panoramas bewundern kann, nicht minder dieses großartige Werk der Ingenieurskunst, das die beiden Ufer des Flusses verbindet, diese Konstruktion, wir meinen den Satz, ist umschreibend, wir gebrauchen sie lediglich, um das Wort Brücke nicht zu wiederholen, was Solözismus wäre, pleonastischer oder schwafeliger. In den verschiedenen Künsten, besonders in der des Schreibens, war, wird sein und ist der beste Weg zwischen zwei Punkten, selbst nahe gelegenen, nicht die sogenannte Gerade, nie, weil diese stets die energische und empathische Art ist, auf Zweifel zu antworten, sie zum Verstummen zu bringen. (Seite 132f)

Die Schar Stare, die ihnen folgt, lässt sich auf dem Dach des Hotels Bragança nieder, in dem sich die drei Reisenden einquartieren. Das fällt nicht nur der Polizei und den Ornithologen auf, sondern auch den Genießern gebratener Singvögel. Presse, Radio und Fernsehen schicken Reporter, Fotografen und Kameraleute zum Hotel Bragança, und ein smarter Journalist stößt dort schließlich auf einen Spanier, der im Fernsehen behauptete, er fühle die Erde beben und einen Portugiesen, der einen schweren Stein kilometermeterweit geworfen haben soll. Nur José Anaiço entgeht seiner Aufmerksamkeit, obwohl die Vögel doch gerade ihm gefolgt sind.

Am nächsten Morgen werden Joaquim Sassa und Pedro Orce von einer Delegation gut gekleideter Herren mit gewählten Umgangsformen zu einer Befragung abgeholt. Nach einigen Stunden sorgt José sich um seine Freunde und schickt sich an, nach ihnen zu suchen. Da teilt ihm ein Hotelangestellter mit, dass ihn eine junge Dame sprechen möchte. José begibt sich in die Halle und begrüßt die ihm fremde Frau, die mit einem Reiseköfferchen und einem ein bis eineinhalb Meter langen Ulmenstock dort steht. Joana Carda heißt sie. Um miteinander reden zu können, gehen sie hinüber in den nahen Park. Die Stare folgen ihnen zunächst, sammeln sich dann und ziehen unvermittelt ab – offenbar für immer.

Als José ins Hotel zurückkehrt, warten Pedro und Joaquim bereits auf ihn. Sie sind enttäuscht und verärgert, weil sie annehmen, er habe ein erotisches Abenteuer begonnen, statt sich um sie zu kümmern. Doch José berichtet ihnen, dass Joana in den Medien von ihren außergewöhnlichen Erlebnissen gehört habe und deshalb gekommen sei, um mit ihnen über eine eigene seltsame Erfahrung zu reden, die den Naturgesetzen widerspricht: Als sich die ersten Spalten in den Pyrenäen auftaten, hatte sie gerade einen Rüster- bzw. Ulmenzweig vom Boden aufgelesen und damit gedankenverloren einen Kratzer auf den Boden gemacht. Pedro und Joaquim spotten, mit dem unbedachten Kratzer habe sie wohl die Ablösung der Iberischen Halbinsel vom europäischen Kontinent verursacht, aber José versichert ihnen, Joana wundere sich nur darüber, dass der Kratzer nicht mehr zu beseitigen ist; weder Wind noch Wasser löschen ihn aus, und nicht einmal mit einem Besen lässt er sich zukehren.

Um nicht aufzufallen, hat Joana sich für die Nacht ein Zimmer in einem anderen Hotel genommen. Am nächsten Tag steigt sie zu den drei Männern in den Deux Chevaux, um sie zu der Stelle zu lotsen, an der sie den Kratzer hinterlassen hat.

[…] mein Bericht zieht sich schon hin, weshalb ich mir Abkürzung erlaube, drei Zeilen auf gefahrene zweihundert Kilometer verwende, so als reisten vier Personen in einem Automobil schweigend, ohne Gedanken und reglos, und als hätte die Reise nichts Erzählenswertes eingebracht. (Seite 175)

Die Iberische Insel driftet nach Südwesten, als ob sie auf dem Wasser schwimmen würde. Da dies jedoch nicht möglich ist, verschiebt sich wohl ihr Sockel in unbekannter Tiefe auf einer waagrechten Schicht. Es ist zu befürchten, dass diese Unterlage an irgendeiner Stelle plötzlich abbricht – die nicht schwimmfähige Iberische Insel also ins Meer stürzt und untergeht. Von sowjetischen Kriegsschiffen argwöhnisch beobachtet, werden die Küsten unter dem Deckmantel von NATO-Seemanövern genau untersucht, aber die Taucher können nichts Auffälliges feststellen, und die Unterwassermikrofone fangen keine abnormen Schleifgeräusche ein. Ein Wissenschaftler aus den USA an Deck eines Forschungsschiffes erklärt rundheraus, es sei gar nicht möglich, dass die Iberische Halbinsel sich bewege, aber ein italienischer Kollege murmelt: „E pur si muove!“ (Und sie bewegt sich doch!).

Bei Ereira führt Joana die drei Männer zu einer Lichtung und erzählt ihnen währenddessen, sie habe in Coimbra gewohnt, aber seit der Trennung von ihrem Ehemann halte sie sich bei Verwandten in Ereira auf, um über ihr Leben nachzudenken. Tatsächlich gelingt es auch den Männern nicht, den Kratzer zu beseitigen. Ebenso erfolglos versuchen sie, das Ereignis zu wiederholen: Alle neuen Striche, die sie mit dem Rüsterstab in den Sand malen, lassen sich anschließend wieder verwischen. Die Besonderheit beruhte also nicht auf dem Stab oder den Personen, sondern hing vom richtigen Augenblick ab, und der ist vorbei.

Unvermittelt erscheint ein wilder, furchterregender, jedoch augenscheinlich friedlicher Hund mit einem blauen Wollfaden im Maul am Waldrand und lässt sich nicht mehr vertreiben. Joana begreift als Erste, dass er sie führen will. Die vier Freunde beschließen, dem Tier am nächsten Morgen im Deux Chevaux zu folgen. Beim Abschied am Abend küsst Joana den überraschten José mitten auf den Mund. Als sie alle am nächsten Tag von Joaquim eingeladen werden, bei ihm in Porto zu übernachten, und es um die Zimmerverteilung geht, ergreift sie erneut die Initiative: „Wir bleiben zusammen!“, erklärt sie kategorisch und an José gewandt. In dieser Nacht werden die beiden ein Paar.

In Frankreich tauchen Graffiti auf: „Nous aussi, nous sommes ibériques“. Die Parole wird auf dem europäischen Kontinent in allen Sprachen von Millionen Jugendlichen aufgegriffen, die auf die Straße gehen, …

[…] bewaffnet nicht mit Argumenten, sondern mit Knüppeln, Fahrradketten, Bootshaken, Messern, Ahlen, Scheren, als wären sie übergeschnappt vor Grimm und auch vor Enttäuschung und vorweggenommenem Schmerz, und sie schrien, auch wir sind Iberer […] (Seite 203)

Die Regierungen schreiten dagegen ein und versuchen, die Solidaritätsbezeugungen mit den Iberern zu unterdrücken. Der portugiesische Ministerpräsident protestiert gegen das Vorgehen der europäischen Regierungen, tritt schließlich zurück und wird vom Staatspräsidenten mit der Bildung einer Regierung der Nationalen Rettung beauftragt, die auch von den bisherigen Oppositionsparteien getragen wird.

Joana und José, Pedro und Joaquim folgen dem Hund weiter nach Norden. Von Porto aus geht es durchs Landesinnere; deshalb kann Joaquim seinen Freunden den Strand nicht zeigen, an dem er den Stein geworfen hatte. Sie überqueren die Grenze nach Spanien, fahren durch Santiago de Compostela und sehen schließlich an der Küste ein einsames Haus vor sich. Ein blauer Wollfaden wallt durch die Luft. Joaquim ergreift ihn, rollt ihn übers Handgelenk und geht auf die Bewohnerin des Hauses zu, die das andere Ende des Fadens hält. Maria Guavaira, so heißt sie, fand vor einigen Tagen auf dem Dachboden einen uralten blauen Sparstrumpf und begann ihn aufzutrennen, aber der Faden scheint kein Ende zum nehmen. Dann erschien der Hund mit wundgelaufenen Pfoten. Sie pflegte ihn, aber vor einer Woche lief er wieder fort, um Joana und José, Pedro und Joaquim hierher zu führen, wie man jetzt sieht. Maria ist seit drei Jahren Witwe. Ihr Vater ist ebenfalls tot; ihre Mutter lebt in der Irrenanstalt in La Coruña, und ihre Geschwister sind nach Argentinien ausgewandert. Arbeiter helfen ihr, die Felder zu bestellen, darunter ein junger, kräftiger Mann, der ihr den Hof macht. Aber jetzt hat sie erst einmal Joaquim mit dem blauen Wollfaden an sich gebunden.

Bei einer einsamen Wanderung mit dem Hund entdeckt Pedro am Strand ein versteinertes Schiff, doch als er es seinen Freunden zeigen möchte, ist es verschwunden.

Da die Iberische Insel auf die Azoren zutreibt und mit der Insel Terceira zusammenzustoßen droht, werden die Küstenregionen in Spanien und Portugal evakuiert und die Menschen auf der Inselgruppe im Atlantik mit US-Maschinen ausgeflogen. Die spanische Regierung zieht nach León, die portugiesische nach Évora. Auch Pedro, Joana und José, Maria und Joaquim beschließen, ins Landesinnere zu fahren. Weil der Deux Chevaux nicht mehr anspringt, decken sie einen Karren mit einer Plane ab und lassen sich von Marias einzigem Pferd ziehen. Die Mähre erweist sich allerdings als zu schwach. Deshalb stiftet Maria unterwegs Joaquim dazu an, mit ihr zusammen ein zweites Pferd zu stehlen. José nennt die Mähre Pig und den gestohlenen Fuchs Al und verwirft den Einwand, „pig“ bedeute im Englischen Schwein, denn er hat die Namen von pigarço und alazão abgeleitet, den portugiesischen Wörtern für Grauschimmel und Fuchs.

Als die Iberische Insel nur noch 75 km von der Azoreninsel Santa Maria entfernt ist, beginnt sie unvermittelt nordwärts zu treiben: Die Gefahr des Aufpralls scheint gebannt zu sein. Tausende von Spaniern und Portugiesen, die ihre Wohnorte verlassen hatten, machen sich auf den Heimweg, voller Sorge um ihren Besitz, denn wie immer und überall sind Plünderer dabei, die für sie günstige Gelegenheit zu nutzen.

Die US-Regierung reagiert auf die Kursänderung der Iberischen Insel mit der Versicherung, keine vorrangigen politischen Absichten damit zu verbinden, die Souveränität und Unabhängigkeit Spaniens und Portugals nicht antasten zu wollen und ausschließlich humanitäre Absichten zu verfolgen. Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika beteuert, sein Land werde fest zu seinen Verpflichtungen gegenüber Zivilisation, Freiheit und Frieden stehen. Da noch unklar ist, ob die im Atlantik treibende Insel am Ende näher bei den USA oder vor der kanadischen Küste anlanden wird, schlägt er eine bilaterale Konferenz zur Klärung der offenen Fragen vor, an der auch Vertreter von Spanien und Portugal als Beobachter teilnehmen sollen. Die Sowjetunion wiederholt ihren Anspruch, an der Diskussion und Entscheidung beteiligt zu werden.

Die fünf Freunde möchten jetzt die neue Küste im Norden sehen und lenken ihre beiden Pferde dorthin. Sowohl Joana und José als auch Maria und Joaquim bleiben bei ihren Liebesspielen so dezent wie möglich, um ihren älteren Freund nicht zu verletzen. Die beiden Frauen bedauern Pedro, und eines Abends, als er, wie üblich, mit dem Hund den Lagerplatz verlässt, folgt Maria ihm unvermittelt in den Wald. Am nächsten Tag erhebt Joana sich, sobald Pedro außer Sichtweite ist und verschwindet im Gehölz. Zornig über die unverhohlenen Seitensprünge ihrer Partnerinnen, streben José und Joaquim die Trennung von ihnen und die vorzeitige Auflösung der Gruppe an, aber Joana und Maria überreden sie, zusammen weiterzureisen. So kommen sie schließlich an die Bruchkante in den Pyrenäen. Die letzten zehn Meter arbeiten sie sich auf Händen und Knien vor, damit ihnen nicht schwindelig wird, während sie fast 1800 Meter tief zum Meer hinunter schauen.

In diesem Augenblick hält die Insel inne. Dann beginnt sie sich gegen den Uhrzeigersinn zu drehen.

Joana und Maria stellen gleichzeitig fest, dass sie schwanger sind, aber sie wissen nicht, wer die Väter sind: José oder Pedro bzw. Pedro oder Joaquim. Als sie es ihren Partnern gestehen, reagieren diese mit einem Wutanfall, und es dauert einige Zeit, bis die Frauen sie besänftigen können.

Pedro begegnet auf einer seiner einsamen Wanderungen einem Landsmann aus Zufre, der sich als Roque Lozano vorstellt, und er bringt ihn mit zum Lager. Roque Lozano erinnert sich an die beiden Portugiesen, die ihm schon einmal im Deux Chevaux begegnet waren. Ohne das Meer im Norden gesehen zu haben, befindet er sich mit seinem Esel Platero inzwischen wieder auf dem Nachhauseweg, und er schließt sich der Gruppe an, um nicht länger allein zu sein.

José und Joaquin schlagen vor, Pedro Orce und Roque Lozano nach Andalusien zu bringen und dann das Vagabundenleben aufzugeben. Maria stimmt ihnen zu: Sie ist bereit, José in die Provinz Ribatejo zu begleiten, wo er wieder als Lehrer arbeiten kann, dann Joana weiter nach Norden, wo sie entscheiden müsse, ob sie bei ihrem Ehemann in Coimbra oder bei ihren Verwandten in Ereira leben wolle. Sie selbst werde dann zu ihrem Haus in Galicien fahren, wo ein junger Landarbeiter ihren Besitz hütet und auf sie wartet, um sie zu heiraten. Nach der Ankunft will sie den Karren in Brand setzen, ihn verbrennen wie einen Traum, und vielleicht gelingt es ihr, mit dem steinernden Schiff, das Pedro am Strand sah, in See zu stoßen.

Die Gruppe beschließt, erst einmal an der Mittelmeerküste entlang nach Süden zu reisen.

Auch die Iberische Insel nimmt wieder Fahrt auf, ebenfalls in Richtung Süden, zwischen Afrika und Lateinamerika hindurch. Alle gebärfähigen Frauen haben inzwischen gemerkt, dass sie schwanger sind. Der spanische und der portugiesische Regierungschef kündigen zwölf bis fünfzehn Millionen Geburten an und rufen im Interesse der Kinder zum Maßhalten auf, beschwören den nationalen Zusammenhalt und vergleichen die Fruchtbarkeit ihrer Völker mit der Sterilität der übrigen westlichen Welt.

Pedro sondert sich mehr und mehr ab und nimmt kaum noch an den Gesprächen teil. Maria und Joana spüren, dass es mit ihm zu Ende geht, und als sie ihre Partner darauf aufmerksam machen, vergessen die beiden ihren Groll gegen den Nebenbuhler und wetteifern dabei, dem älteren Freund beispielsweise beim Absteigen vom Karren behilflich zu sein. Eines Tages fühlt Pedro die Erde nicht mehr. Er sinkt zu Boden. Maria drückt ihm die Augen zu. Die Freunde bringen den Leichnam nach Venta Micena und bestatten ihn dort. Das Grab kennenzeichnen sie statt mit einem Kreuz mit Joanas Rüsterstab. Der Hund verharrt dort, bis die Gruppe sich zur Weiterreise nach Zufre anschickt, aber statt bei den Menschen zu bleiben, trollt er sich mit hängendem Kopf.

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In José Saramagos surrealistischen Romanen sind die Naturgesetze stellenweise aufgehoben, aber der Rest der Handlung folgt logisch nachvollziehbar aus den besonderen Vorkommnissen. Das gilt auch für „Das steinerne Floß“. Da bricht eine Halbinsel vom Kontinent ab und beginnt im Meer zu treiben, wie ein Fetus im Fruchtwasser. Zugleich werden alle Frauen auf der zur Insel gewordenen Halbinsel schwanger. Die Frauen sind sehr viel stärker und zielstrebiger als die Männer, die lächerlich wirken, wenn sie sich wie Machos gebärden.

„Das steinerne Floß“ handelt von der Reise einiger Menschen zueinander, miteinander und zu sich selbst. Der Roman ist aber auch eine Gesellschaftssatire, in der die hohlen und verlogenen Reaktionen von Politikern ebenso ironisch kritisiert werden wie der Egoismus und die soziale Verantwortungslosigkeit der Eliten und der privilegierten Schichten. Nebenbei beschwert José Saramago sich über die notorische Benachteiligung Portugals im Vergleich zu Spanien und äußert seinen Verdacht, dass die übrigen europäischen Regierungen die beiden iberischen Staaten gering schätzen, weil sie alles an wirtschaftlichen Maßstäben messen. Darüber hinaus kontrastiert Saramago den hilflosen Versuch internationaler Naturwissenschaftler, ein ungewöhnliches Phänomen zu erklären, mit der unkomplizierten Einstellung von Menschen aus dem Volk gegenüber Mythen und Legenden.

Obwohl José Saramago sich zum Atheismus, Kommunismus und Pessimismus bekennt, spielen für ihn die individuelle Eigenständigkeit, Liebe, Humanität und Großzügigkeit eine entscheidende Rolle.

Wie kaum einem anderen Schriftsteller gelingt es Saramago, das Denken in Metaphern aufgehen zu lassen und Vieldeutiges in einprägsamen Bildern zu veranschaulichen. Seine Sprache in „Das steinerne Floß“ ist nicht nur bilderreich, sondern auch barock verschnörkelt und orientalisch ausschweifend; sie klingt zumindest über weite Strecken wie ein vergnüglicher mündlicher Vortrag.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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