Delphine de Vigan : Die Kinder sind Könige

Die Kinder sind Könige
Les enfants sont rois Gallimard, Paris 2021 Die Kinder sind Könige Übersetzung: Doris Heinemann DuMont Buchverlag, Köln 2022 ISBN 978-3-8321-8188-8, 316 Seiten ISBN 978-3-8321-7130-8 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mélanie Claux fühlt sich im Schatten ihrer Schwester und leidet darunter, dass sie glaubt, von den Eltern zu wenig beachtet zu werden. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung wird schließlich im Internet erfüllt, als sie Videos ihrer Kinder ins Netz stellt, starken Zuspruch erhält und mit der Selbstvermarktung Millionen verdient.
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Kritik

Mit ihrem Roman "Die Kinder sind Könige" prangert Delphine de Vigan Eltern an, die ihre Kinder im Internet ausstellen oder gar vermarkten. Die in einen unterhaltsamen Roman gekleidete Gesellschaftskritik im Allgemeinen und an den Sozialen Medien im Besonderen ist brisant und wichtig.
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2001 – 2013

Im Alter von 17 Jahren sitzt Mélanie Claux am 5. Juli 2001 in La Roche-sur-Yon südlich von Nantes mit ihrer älteren Schwester Sandra und den Eltern vor dem Fernsehgerät und verfolgt den Abschluss der Reality-Show „Loft Story“.

Nach dem Abitur verlässt Mélanie ihr Elternhaus, zieht nach Paris und bewirbt sich 2010 erfolgreich als Teilnehmerin der Reality-Show „Rendez-vous dans le noir“. Aber bereits nach der ersten Runde fliegt sie raus.

2011 heiratet Mélanie den IT-Angestellten Bruno Diore, den die Algorithmen des Internetportals „Attractive World“ für passend halten. Sie ziehen nach Châtenay-Malabry. Noch im selben Jahr wird der Sohn Sammy geboren, und zwei Jahre später kommt die Tochter Kimmy zur Welt.

Clara Roussel ist zwei Jahre jünger als Mélanie. Zum anfänglichen Entsetzen ihrer linksliberalen Eltern Réjane und Philippe, beide Lehrer, bewirbt sie sich nach dem Jurastudium an der Sorbonne bei der Kriminalpolizei in Paris – und beginnt im Alter von 24 Jahren 2010 ihren Dienst.

2019

Am 10. November 2019 verschwindet die sechs Jahre alte Kimmy Diore beim Versteckspiel mit ihrem Bruder und Nachbarkindern in einer exklusiven Wohnsiedlung in Sceaux. Die von Lionel Théry geleitete Polizeibrigade, zu der auch Clara Roussel und ihr Vorgesetzter Capitaine Cédric Berger gehören, übernimmt die Ermittlungen.

Mélanie Diore und ihre Kinder Kimmy und Sammy sind berühmt. Als das Mädchen noch keine drei Jahre alt war, begann die Mutter, Videoaufnahmen von ihr und dem Bruder im Internet zu „teilen“. Inzwischen hat ihr YouTube-Kanal „Happy Récré“ fünf Millionen Abonnenten, und die Familie nimmt durch Product Placement so viel ein, dass Bruno Diore, der längst seine Anstellung aufgegeben hat, in einer Nachbarwohnung ein Aufnahmestudio eingerichtet hat.

Für Mélanie Diore ist die Sichtbarkeit in den Sozialen Medien der bedeutsame Kern ihres Lebens.

Sie hatte eine Gemeinschaft geschaffen. Das war nicht bloß ein Wort. Es war eine Realität. Eine Gemeinschaft, deren Epizentrum sie war.

Weil die Kinder in der öffentlichen Schule mitunter von neidischen Mitschülerinnen oder -schülern angefeindet wurden, fährt Mélanie sie jeden Tag zu einer Privatschule in Sceaux und holt sie nach dem Unterricht wieder ab.

Die Polizei vernimmt am 12. November Loïc Serment, den 31-jährigen Betreiber des Kanals „Chevalier du Net“, der sich seit 2016 gegen kindliche Influencer engagiert. Er hält das für Ausbeutung und Missbrauch, aber die von den Eltern vorgegebene Tätigkeit gilt rechtlich als Freizeitbeschäftigung und ist deshalb nicht eingeschränkt wie der Auftritt von Kindern als Models.

Am 15. November meldet sich Mélanie Diore von sich aus bei Clara Roussel zu einer zweiten Vernehmung, denn sie hält es für möglich, dass Kimmy von Grégoire („Greg“) Larondo entführt wurde. Bei einem Seitensprung mit ihm könnte Kimmy gezeugt worden sein. Mélanie weiß selbst nicht, ob er oder ihr Ehemann Bruno Kimmys leiblicher Vater ist.

Greg ist arbeitslos und lebt bei seiner Mutter. Eine Hausdurchsuchung bleibt ohne Ergebnis.

Mélanie erhält ein Kuvert mit einem Milchzahn und der Forderung, eine halbe Million Euro an die Kinderschutz-Organisation „Enfants en danger“ zu überweisen.

Am 18. November 2019 stellt sich Élise Favart bei der Polizei. Sie gebar ihren Sohn Ilian zur gleichen Zeit und in derselben Klinik wie Mélanie ihre Tochter Kimmy. Die beiden Mütter wurden Freundinnen, doch während Kimmy zum Internet-Star avancierte, wurde bei Ilian eine geistige Behinderung diagnostiziert. Er kam in eine Spezialeinrichtung, und Élise zog in die Nähe. Die Freundschaft mit Mélanie zerbrach, aber Élise besucht noch regelmäßig Madame Sabourin an ihrem früheren Wohnort in der Nachbarschaft der Familie Diore. Als sie am 10. November in der Tiefgarage parkte, kam Kimmy angelaufen, die mit anderen Kindern spielte und sich bei ihr im Auto verstecken wollte. Nach einer Weile ließ Élise spontan den Motor an und fuhr mit Kimmy los. Zu Hause redete sie dem Kind ein, Mélanie habe sie gebeten, Kimmy für ein paar Tage zu betreuen.

2031

Bei dem Psychiater und Psychoanalytiker Santiago Valdo meldet sich 2031 ein verzweifelter Mann, der seit Monaten seine Wohnung nicht mehr verlassen hat, weil er überzeugt ist, dass er auf Schritt und Tritt heimlich für einen Kanal im Dark Net gefilmt wird. Santiago Valdo hält das für ein nach dem Kinofilm „Die Truman-Show“ benanntes Syndrom. Er besucht den 20 Jahre alten Anrufer, um zu sehen, wie er ihm helfen kann.

Es handelt sich um Sammy Diore. Der Hype um die Entführung seiner Schwester Kimmy erhöhte die Zahl der Abonnenten des YouTube-Kanals „Happy Récré“ von fünf auf sieben Millionen. Weil Kimmy im Alter von acht Jahren einen nervösen Tick entwickelte und dann einen Ausschlag bekam, machte die Mutter mit Sammy allein weiter. Von 2016 bis 2023 stellte sie mehr als 1500 Videos von ihm ins Netz. 2029 zog Sammy sich ohne Ankündigung nicht nur in der virtuellen, sondern auch in der analogen Welt zurück. Er hat auch keinen Kontakt mehr zu seiner Schwester oder zu den Eltern. Was er zum Essen benötigt, lässt er sich liefern und vor die Tür stellen.

Kimmy fragt im Polizeipräsidium in Paris nach Clara Roussel. Es treibt sie um, dass die wohlmeinende Frau, bei der sie 2019 einige Tage ohne Video-Auftritte verbringen konnte, eine zweijährige Haftstrafe verbüßen musste, während ihre Mutter mit der Vermarktung der Kinder weitermachen durfte. Sie möchte die Ermittlungsakten von damals einsehen und verklagt nun ihre Eltern.

Mélanie und Bruno Diore leben inzwischen in Sanary-sur-Mer. Dort verfügt Mélanie über modernste Videotechnik, mit der sie ihren Tagesablauf im Internet zeigt. Dabei ist sie zugleich Produzentin, Regisseurin und Hauptdarstellerin. Vlogger heißt das.

Sie fällt aus allen Wolken, als sie aus den Nachrichten erfährt, dass Kimmy sie wegen der Missachtung ihrer Rechte bei der Produktion von „Happy Récré“ verklagt hat.

All das ist so ungerecht. Warum wollen die Leute nicht begreifen, dass sie immer ihr Bestes getan hat? Dass sie ihr Privatleben und ihre Jugend geopfert hat, damit ihre Kinder berühmt und glücklich werden?

Kurz darauf verlässt Bruno Diore seine Frau und zieht erst einmal in ein Hotel.

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Mélanie Claux fühlt sich im Schatten ihrer Schwester und leidet darunter, dass sie glaubt, von den Eltern zu wenig beachtet zu werden. Ihr Bedürfnis nach Anerkennung wird schließlich im Internet erfüllt, als sie Videos ihrer Kinder ins Netz stellt, starken Zuspruch erhält und mit der Selbstvermarktung Millionen verdient.

Mit ihrem Roman „Die Kinder sind Könige“ prangert Delphine de Vigan Eltern an, die ihre Kinder im Internet ausstellen oder gar vermarkten. Für Mélanies Kinder Sammy und Kimmy gibt es kaum eine Trennung von Privatem und Öffentlichem, keine Unterscheidung zwischen Job und Freizeit. Die Mutter instrumentalisiert sie, ohne dass ihr der Missbrauch bewusst wird. Im Gegenteil: Sie ist überzeugt, eine gute Mutter zu sein und das Beste für ihre Kinder zu tun.

Delphine de Vigan beginnt „Die Kinder sind Könige“ wie einen Kriminalroman, mit einem Entführungsfall, aber auf Seite 233 springt sie in die Zukunft, ins Jahr 2031, zeigt einerseits Sammys Traumatisierung und lässt uns wissen, dass Kimmy ihre Eltern verklagt.

„Die Kinder sind Könige“ dreht sich um Sammy und Kimmy, aber mehr noch um zwei gegensätzliche Frauen: Mélanie, die in einer virtuellen Parallelwelt lebt und ihre Kinder ohne böse Absicht für den eigenen Erfolg missbraucht, und Clara, die faktenbasiert arbeitende Kommissarin. Geschickt wechselt Delphine de Vigan zwischen den Perspektiven der beiden Protagonistinnen und fügt zwischendurch (fiktive) Protokolle ein.

Die mit „Die Kinder sind Könige“ transportierte Gesellschaftskritik im Allgemeinen und an den Sozialen Medien im Besonderen ist brisant und wichtig. Delphine de Vigan kleidet sie in einen unterhaltsamen Roman. Große Literatur wird daraus nicht. Dafür steht die Botschaft zu deutlich im Vordergrund. Die Figuren in „Die Kinder sind Könige“ werden nicht als Charaktere entwickelt, und Delphine de Vigan erklärt ihr Verhalten klischeehaft.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © DuMont Buchverlag

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