Minette Walters : Die Schandmaske

Die Schandmaske
Originalausgabe: The Scold's Bridle Macmillan, London 1994 Die Schandmaske Übersetzung: Mechtild Sandberg-Ciletti Wilhelm Goldmann Verlag, München 1996 ISBN 978-3-442-30622-0, 407 Seiten Neuausgabe: 2016 ISBN: 978-3-641-18603-6 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Mathilda Gillespie, eine wegen ihrer Böswilligkeit verrufene 65-Jährige, liegt mit einer Schandmaske und aufgeschnittenen Pulsadern tot in ihrer Badewanne. Zunächst sieht es nach einem Suizid aus, aber bald nimmt die Polizei ein Gewaltverbrechen an. Unter Mordverdacht gerät nicht zuletzt die Hausärztin Sarah Blakeney, die als Alleinerbin eingesetzt worden ist, während Mathildas Tochter und ihre Enkelin leer ausgehen sollen ...
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Kritik

Nach und nach deckt Minette Walters in dem spannenden Kriminalroman "Die Schandmaske" das komplexe Beziehungsgeflecht der gut ausgeleuchteten, facettenreichen und lebendig dargestellten Charaktere auf.
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Jenny Spede, die zweimal in der Woche zu Mathilda Beryl Gillespies Anwesen Cedar House in Fontwell kommt, um zu putzen, während sich ihr Ehemann um den Garten kümmert, findet die 65-Jährige am Montag, 8. November, tot in der Badewanne vor. Das Wasser ist rot gefärbt vom Blut. Das Messer, mit dem die Pulsadern aufgeschnitten wurden, liegt noch da. Mathilda Gillespie trägt eine mit Brennnesseln und Maßliebchen geschmückte mittelalterliche Schandmaske aus dem Familienbesitz. Der Gerichtsmediziner Dr. Cameron schätzt, dass der Tod am Samstagabend eintrat. Nicht zuletzt, weil es keine Einbruchspuren gibt, sieht es nach einem Selbstmord aus. Allerdings fehlt ein Abschiedsbrief.

Mathilda Gillespie war als böswillig verrufen. Ihre Tochter Joanna Lascelles lebt als selbstständige Floristin in London, die 17-jährige Enkelin Ruth Lascelles ist in einem Internat in Southcliffe untergebracht. Vor fünf Jahren, als Duncan Orloff in Rente ging, verkaufte Mathilda Gillespie ihm und seiner Ehefrau Violet die andere Hälfte ihres Doppelhauses: Wing Cottage. Sie kannten sich seit 50 Jahren. Sergeant Thomas Cooper von der Polizeidienststelle Learmouth, der die Ermittlungen leitet, befragt nicht nur die Nachbarn Duncan und Violet Orloff, sondern auch Mathilda Gillespies seit einem Jahr als Nachfolgerin von Hugh Hendry praktizierende Hausärztin Dr. Sarah Penelope Blakeney und deren Ehemann Jack, einen eigenwilligen Maler, dem Mathilda Gillespie für ein Porträt nackt Modell gestanden hatte. Sarah Blakeneys Sprechstundenhilfe Jane Marriott war mit Mathilda Gillespie zusammen aufgewachsen. Von ihr erfährt der 56 Jahre alte Sergeant, dass James Gillespie seine Frau vor langer Zeit verlassen habe und nach Hongkong gegangen sei. Was aus ihm geworden ist, weiß Jane Marriott nicht, aber sie geht davon aus, dass die Ehe der Gillespies nie geschieden wurde.

Weil Jack Blakeney für seine Gemälde viel zu hohe Preise verlangt und deshalb nichts verkauft, lebt er seit der Eheschließung vor vier Jahren auf Kosten seiner Frau in Long Upton. Sarah konfrontiert ihn mit der Nachricht, dass sie die junge Schauspielerin Sally Bennedict ins Krankenhaus überwiesen habe, und zwar zur Abtreibung des von ihm gezeugten Kindes. Jack wusste nicht, dass Sally schwanger war.

„Du hättest es mir sagen sollen“, sagte er lahm.
Sie lachte mit echter Erheiterung. „Warum denn? Du warst nicht mein Patient, Jack. Sally war meine Patientin. Und sie hatte nicht die geringste Absicht, dein kleines Überraschungsei auszutragen.“

Sarah wirft ihren Mann hinaus und wendet sich wegen der Scheidung an den Rechtsanwalt Keith Smollett, mit dem sie seit Studientagen befreundet ist.

Zwei Wochen nach Mathilda Gillespies Tod meldet der Anwalt Paul Duggan einen Besuch in Cedar House an und erklärt, dass nicht nur die Anwesenheit der Tochter und der Enkelin der Verstorbenen erforderlich sei, sondern auch die ihrer Hausärztin. Kurz vor ihrem Tod hinterlegte Mathilda Gillespie in der Kanzlei Duggan, Smith und Drew in Poole ein Testament, mit dem sie alle vorherigen Bestimmungen widerrief und Sarah Blakeney als Alleinerbin einsetzte. Die Ärztin ist ebenso überrascht wie entsetzt. Das sind auch Joanna und Ruth Lascelles: Sie sollen leer ausgehen. Für den Fall, dass Sarah die Erbschaft ausschlägt, gibt es in dem Testament eine Alternativverfügung: Dann soll der gesamte Besitz dem Seton-Heim für alte und kranke Esel zugute kommen.

In einer vor ihrem Tod aufgezeichneten Videobotschaft wendet sich Mathilda Gillespie an die Anwesenden und berichtet aus der Familiengeschichte.

Nach dem Tod ihrer Mutter wurden sie und ihr damals noch mittelloser Vater William Cavendish von dessen älterem Bruder Gerald in Cedar House aufgenommen. Im Alter von zehn Jahren wurde Mathilde erstmals von ihrem Vater missbraucht, drei Jahre später auch von ihrem Onkel Gerald Cavendish.

„Zwölf Jahre lang wurde ich immer wieder von meinem Onkel missbraucht, bis ich schließlich in meiner Verzweiflung mit meinem Vater sprach. […]
Mein Vater gab natürlich mir die Schuld an allem, was geschehen war, nannte mich eine widerwärtige Hure.“

Sir William Cavendish, der inzwischen einen Sitz im Parlament hatte, in den Adelsstand erhoben worden war und einen karriereschädigenden Skandal vermeiden wollte, sorgte dafür, dass seine Tochter James Gillespie heiratete, der eine Eheschließung anstrebte, um seine Homosexualität zu tarnen.

„Leider war ich zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger, und als weniger als fünf Monate nach der Hochzeit Joanna zur Welt kam, begriff selbst James, der gewiss nicht einer der Intelligentesten war, dass sie unmöglich sein Kind sein konnte.“

Eineinhalb Jahre später setzte sich James Gillespie nach Hongkong ab. Danach klärte Mathilda Gillespie ihren Onkel Gerald Cavendish darüber auf, dass Joanna seine Tochter war und verlangte Unterhalt. Auf die Nachricht hin, so Mathilda Gillespie weiter, habe er sich mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben genommen. Zwei Jahre später starb auch sein Bruder William.

Die Leute in Fontwell und Umgebung unterstellen Sarah Blakeney, dass sie ihre Position als Hausärztin dazu missbrauchte, einer einsamen Frau den Besitz abzuschwatzen. Dass Jack Blakeney von Joanna Lascelles im Gartenhaus des von ihr trotz des Testaments bewohnten Anwesens ihrer Mutter einquartiert wird und sie sich wie zuvor schon Mathilda Gillespie nackt von ihm porträtieren lässt, heizt die Gerüchteküche zusätzlich an. Darüber hinaus wachsen die Zweifel, dass Mathilda Gillespie sich selbst eine Schandmaske aufsetzte und die Pulsadern aufschnitt.

Sergeant Cooper, der inzwischen von einem Gewaltverbrechen ausgeht, weist Sarah Blakeney darauf hin, dass ihr Leben gefährdet sein könnte:

„Haben Sie ein Testament gemacht, Dr. Blakeney?“
„Ja.“
„Zugunsten Ihres Mannes?“
Sie nickte.
„Wenn Sie also morgen sterben, bekommt er alles, auch das, was Sie von Mrs. Gillespie geerbt haben.“
Sie ließ den Wagen an. „Wollen Sie unterstellen, dass Jack vorhat, mich zu ermorden?“
„Nicht unbedingt.“ Er machte ein nachdenkliches Gesicht. „Mich interessiert mehr die Tatsache, dass er – potentiell – ein sehr erstrebenswerter Ehemann ist. Immer vorausgesetzt natürlich, Sie sterben, ehe Sie Ihr Testament ändern können. […]“

Aufgrund eines anonymen Hinweises, dass Ruth am Todestag ihrer Großmutter in Cedar House gesehen worden sei, sucht Cooper sie im Internat auf.

Ihr Vater Steven Lascelles war ein drogensüchtiger Bassgitarrist. 1978, als Ruth sechs Monate alt war, starb er an einer Überdosis. Cooper findet heraus, dass sie ihre Großmutter seit Monaten bestahl und dazu von dem 29-jährigen Ganoven Dave Hughes angehalten wurde. Der fuhr sie auch am 6. November nach Fontwell und brachte sie danach zu einem Juwelier in Southampton, der die zuvor in Cedar House gestohlenen Ohrringe ankaufte. Dave Hughes wohnt in einem besetzten Haus in Bournemouth. Ruth, die ihn für ihren Freund hält und zugleich fürchtet, ist von ihm schwanger.

Auf Coopers Rat hin vertraut Ruth sich der Internatsleiterin an – und wird von der Lehranstalt verwiesen. Der Ermittler, der mehr Nachsicht erwartete und über die Relegation entsetzt ist, bringt Ruth nach Long Upton, zu Jack und Sarah Blakeney, die sich inzwischen versöhnt haben. Sie sind bereit, die verstörte Jugendliche vorübergehend aufzunehmen, deren Verhältnis zur Mutter so gestört ist, dass sie sich weigert, zu ihr zu ziehen – was Joanna Lascelles offenbar nicht weiter bekümmert.

Sobald sich das herumspricht, ändern sich die Gerüchte: Nun heißt es, Ruth Lascelles fürchte sich vor ihrer Mutter Joanna, deren Verhaftung wegen des Mordes bevorstehe.

Der Polizei in Bournemouth ist Dave Hughes längst bekannt. Er lässt junge, romantische Mädchen an eine Liebesbeziehung glauben und bringt sie wohl auch durch Einschüchterung dazu, für ihn zu stehlen. Weil sie die Beute für ihn rauben und verhökern, ist ihm ohne ihre Zeugenaussagen kaum etwas nachzuweisen. Und die Familien der betroffenen Mädchen schrecken wegen der befürchteten Rufschädigung vor Anzeigen zurück. Dreimal wurde Hughes bereits vernommen, aber die Polizei musste ihn jedes Mal wieder laufen lassen.

Sarah Blakeney versucht, mit Ruths Mutter zu reden, aber Joanna Lascelles öffnet nicht. Da erinnert sie sich an den zur Küchentür passenden Schlüssel, den Mathilda Gillespie unter einem Blumentopf versteckt hatte, damit die Ärztin auch dann zu ihr ins Haus kommen konnte, wenn sie wegen ihrer Arthritis nicht aufstehen konnte. Kurzerhand nimmt Sarah den Schlüssel und betritt das Haus. Joanna protestiert.

„Wie können Sie sich unterstehen, ohne Aufforderung in mein Haus zu kommen“, zischte Joanna von der Tür zur Diele her.“
[…]
„Nein“, entgegnete Sarah kurz und griff gleichzeitig zum Telefon auf dem Tisch im Vestibül, „dem Testament Ihrer Mutter gemäß gehört das Cedar House mir.“

Zu spät denkt Sarah daran, dass auch der Mörder den Schlüssel benutzt haben könnte. Sie wählt die Nummer der Polizeidienststelle Learmouth und berichtet Sergeant Cooper von dem Schlüssel. Der Ermittler kommt sofort, um das potenzielle Beweisstück sicherzustellen, kritisiert Sarah Blakeney aber auch, weil sie möglicherweise Fingerabdrücke verwischt hat.

In der Kanzlei Duggan, Smith und Drew in Poole taucht überraschend ein Mann auf, der einen in Hongkong ausgestellten Pass auf den Namen James Gillespie und eine Heiratsurkunde vorlegt. Der Witwer, der nicht verrät, wie er vom Tod seiner Frau erfuhr, verlangt die Herausgabe der wertvollen Uhren, die er von seinem Vater geerbt hatte. Bei einem Einbruch in Cedar House an Weihnachten 1960 wurden sie angeblich gestohlen. Aber das war eine Lüge Mathildas, die ihn im Frühjahr 1961 dazu brachte, das Geld von der Versicherung anzunehmen und nach Hongkong zu ziehen. James Gillespie rät dem Anwalt, in Mathildas Tagebücher zu schauen.

„Lesen Sie ihre Tagebücher“, knurrte er ärgerlich. „Dann bekommen Sie den Beweis, dass sie mir die Uhren gestohlen hat. Sie konnte es nicht lassen, vor sich selbst mit ihrer Schlauheit zu prahlen.“

Paul Duggan gibt die Neuigkeit sogleich telefonisch an Sergeant Cooper weiter. Aber in Cedar House werden keine Tagebücher gefunden. Falls sie existierten, sind sie verschwunden.

Cooper sucht James Gillespie in dessen Behausung in einer Mietskaserne auf.

Im Zimmer stank es nach Whisky, Urin und ungewaschenem alten Mann. Gillespies Hose war vorn durchnässt.

Er sei vor einem halben Jahr aus Hongkong zurückgekommen, sagt James Gillespie. Er habe seine Frau besucht und dabei sowohl die Uhren als auch die Tagebücher gesehen. 1961 erpresste Mathilda ihn mit kompromittierenden Fotos, die ein Privatdetektiv von ihm und einem anderen Mann in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt gemacht hatte. Sie zwang ihn, das Land zu verlassen. Nicht James Gillespie, sondern Paul Marriott ist Ruths leiblicher Vater. Er weiß auch, dass Gerald Cavendish nicht aus eigenem Entschluss an einer Überdosis Schlafmittel starb, sondern von seiner Nichte mit einem Kissen erstickt wurde. Vorher hatte sie ihn mit von ihrer Freundin Jane Marriott in der Arztpraxis deren Vaters gestohlenen Barbituraten betäubt. Mit der Drohung, alles aufzudecken und einen Skandal auszulösen, erpresste James Gillespie Mathilda nach seiner Rückkehr aus Hongkong.

„Ich war zweimal bei ihr und hab ihr klargemacht, in was für einer schwachen Position sie sich befand. Am Tag vor ihrem Tod waren wir bei einer Abfindung von fünfzigtausend angelangt. Aber ich wollte hundert. Und die hätte ich auch bekommen.“


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Als Ruth ihren wohlmeinenden Gastgebern anvertraut, dass Dave Hughes sie von seinen Kumpanen fünf Stunden lang vergewaltigen ließ, handelt Jack Blakeney auf eigene Faust. Von seinem Auto aus observiert er das besetzte Haus in Bournemouth. Nach Einbruch der Dunkelheit steigt Dave Hughes in seinen Lieferwagen, und seine Begleiter verstecken sich im Laderaum. Jack folgt ihnen und beobachtet, wie Hughes in der Nähe einer Villa hält, um ein dort wartendes junges Mädchen auf den Beifahrersitz klettern zu lassen. Auf einem menschenleeren Parkplatz am Meer steigt Hughes aus, zerrt das sich sträubende Mädchen zum Heck und schleudert es zu seinen Kumpanen hinein. Nachdem er die Türen geschlossen hat, schlendert er zum Wasser hinunter. Jack befreit die Jugendliche und holt sie in sein Auto. Dave Hughes kommt angerannt. Er wird vom linken Kotflügel erfasst. Jack reißt ihn hoch und zwingt ihn auf den Beifahrersitz. Mit einer Hand auf der Hupe flieht er vor dem ihn verfolgenden Lieferwagen, bis ihn die von in ihrer Nachtruhe gestörten Anwohnern alarmierte Polizei anhält und erst einmal mit allen anderen zusammen festnimmt.

Dave Hughes beteuert bei der Vernehmung, er habe nicht geahnt, was seine Freunde mit dem Mädchen vorhatten. Weil sein Lieferwagen an Mathilda Gillespies Todestag von Zeugen in Fontwell gesehen wurde, kann ihm Thomas Coopers Vorgesetzter, Chief Inspector Charlie Jones, jedoch mit einer Mordanklage drohen und ihn damit zum Reden bringen.

Die Polizei findet heraus, dass Joanna Lascelles vermutlich schon seit ihrer Ehe mit dem drogensüchtigen Musiker große Mengen von Drogen – darunter auch Heroin – konsumiert. Von ihren Einkünften als Floristin hätte sie sich das nicht leisten können. Stimmt der anonyme Hinweis, sie prostituiere sich in London? Joanna gibt zu, ihre Abhängigkeit habe begonnen, als ihre Mutter ihr Valium verschreiben ließ. Das war, nachdem Mathilda sie davon abgehalten hatte, das Baby Ruth mit einem Kissen zu ersticken. Bis zuletzt bekam sie von ihrer Mutter das Geld zur Finanzierung des Drogenkonsums.

Die polizeilichen Ermittlungen ergeben, dass Paul Marriott zwei Kinder gezeugt und Mathilda Gillespie gut ein Jahr nach Joanna noch eine Tochter zur Welt gebracht hatte. In ihrer verständnisvollen Hausärztin Sarah Blakeney glaubte sie schließlich, das damals weggegebene Kind wiedergefunden zu haben. Jack Blakeney erfuhr es von ihr, sagte jedoch seiner Frau nichts davon, sondern suchte Ende Oktober heimlich seinen Schwiegervater in Cheltenham auf und ließ sich bestätigen, dass Sarah kein Adoptivkind ist.

Mit einem Hausdurchsuchungsbefehl klingelt Sergeant Cooper bei den Orloffs. Violet Orloff bleibt bei ihrer früheren Aussage, sie habe zur Tatzeit nichts aus dem Nachbarhaus gehört, gibt nun aber zu, Whisky getrunken zu haben und vor dem Fernsehgerät eingeschlafen zu sein. Cooper vermutet, dass Duncan Orloff seine Frau mit Schlafmittel im Whisky betäubte und dann seine heimliche Liebe Mathilda Gillespie besuchte. Nachdem er ihr ebenfalls unbemerkt ein Schlafmittel in den Whisky gemischt hatte, vergewisserte er sich, dass seine Frau schlief. Er zog Handschuhe an, pflückte passende Pflanzen, sperrte mit dem unter einem Blumentopf versteckten Schlüssel die Küchentür des Nachbarhauses auf, zog die bewusstlose Bewohnerin aus, drapierte sie in der Badewanne und schnitt ihr die Pulsadern auf. Die Schandmaske hatte ihm Mathilda zu Lebzeiten aufgesetzt, um ihn sexuell zu erregen.

Warum Duncan Orloff mordete? Weil Mathilda Gillespie die Absicht hatte, ihren großen Garten für den Bau einer Wohnanlage zu verkaufen. Das wusste er von ihr. Bei dem Bauunternehmen Howard & Sons in Learmouth wunderte man sich nicht über den Abbruch der Verhandlungen mit einem Schreiben Mathilda Gillespies. Dass sie zu diesem Zeitpunkt bereits tot war, wusste man zunächst nicht, und später fiel es nicht auf. Die Schreibmaschine, die Duncan Orloff benutzte, wird bei ihm sichergestellt. Von Mathilda Gillespies Tagebüchern, in denen sie offenbar Material über Familienmitglieder und Bekannte gesammelt hatte, findet die Polizei nur noch verkohlte Reste in der Asche.

Sarah Blakeney will Ruth helfen, den geplanten Schwangerschaftsabbruch und die Zeugenaussage im Prozess gegen David Hughes gut zu überstehen. Einen Teil des Erbes wird sie in einem Treuhandfonds für Ruth anlegen. Auf dem Grundstück, das Mathilda verkaufen wollte, soll ein Pflegeheim gebaut werden.

Nach wie vor nimmt Sarah an, ihr Mann sei zu der Zeit, als Mathilda Gillespie ermordet wurde, bei Sally Bennedict gewesen. Erst jetzt versichert Jack, dass er nicht der Vater des ungewollten Kindes gewesen sein kann.

„Ich habe mit diesem schrecklichen kleinen Luder nicht mal geschlafen.“

Endlich berichtet Jack seiner Frau auch, dass Mathilda Gillespie sich eingebildet habe, Sarah sei ihre zweite Tochter.

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In „Die Schandmaske“ – einer Mischung aus Kriminalroman, Ehedrama und vier Generationen umfassender Familientragödie – blicken wir in menschliche Abgründe: Mord, Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, Erpressung, Betrug. Hinter bürgerlichen Fassaden sind düstere Geheimnisse verborgen.

Nach und nach lässt uns Minette Walters die komplexen Zusammenhänge erkennen. Zahlreich sind die Figuren in „Die Schandmaske“, aber die Autorin leuchtet fast alle Charaktere gründlich aus. Und sie sind nicht nur facettenreich, sondern auch widersprüchlich angelegt. Das macht sie interessant und lebendig, zumal Minette Walters dafür sorgt, dass wir unsere anfänglichen Vorstellungen in den meisten Fällen während der Lektüre revidieren müssen. Weil es allerdings keine Romanfigur gibt, aus deren Blickwinkel Minette Walters zumindest vorwiegend erzählt, fehlt es in „Die Schandmaske“ an einer Identifikationsfigur. Des Öfteren schiebt Minette Walters kursiv gesetzte Auszüge aus Mathilda Gillespies Tagebüchern ein. Das sind Rückblenden bis in die Kindheit der bei ihrem Tod 65 Jahre alten Frau. Weil die Tagebücher im Verlauf der Geschichte verbrannt werden, wirkt dieses Stilmittel allerdings am Ende ein wenig fragwürdig. Zu den Pluspunkten von „Die Schandmaske“ gehören neben der Spannung und der souveränen Beherrschung der Komplexität die realistischen Dialoge in wörtlicher Rede.

Unter einer Schandmaske versteht man eine zumeist aus Metall angefertigte Gesichtsmaske. Zum Tragen verurteilt wurden Delinquenten im Mittelalter und bis ins 17. Jahrhundert wegen leichter Vergehen. Sie mussten damit mitunter tagelang am Pranger stehen.

Die Drapierung der toten Shakespeare-Kennerin Mathilda Gillespie mit Schandmaske, Brennnesseln und Maßliebchen wird von Zeugen und Ermittlern zunächst für eine Anspielung auf Ophelia in „Hamlet“ gehalten. Als sich herausstellt, dass Mathilda Gillespie nicht nur zwei Töchter hatte, sondern ein weiteres Mädchen gleich nach der Geburt zur Adoption freigab, wird über Parallelen zu einer anderen Shakespeare-Tragödie nachgedacht. Der von Herrschsucht geblendete König Lear enterbt seine bescheidene Tochter Cordelia, weil sie ihm nicht wie ihre durchtriebenen älteren Schwestern Goneril und Regan bei einer entsprechenden Prüfung überschwängliche Gefühle vortäuscht.

Ärgerlich sind Unstimmigkeiten in „Die Schandmaske“. Minette Walters gibt an, dass Ruth Lascelles Vater 1978 starb, ein halbes Jahr nach der Geburt seiner Tochter. In der Gegenwart ist sie 17. Wir wären also in den Jahren 1994 oder 1995. Da die Originalausgabe des Buches 1994 erschien und die Handlung nicht in der Zukunft spielt, kann es nur 1994 sein. Aber Mathilda Gillespies Todestag, der 6. November, soll ein Samstag gewesen sein. Der 6. November 1994 war jedoch ein Sonntag. Das könnte zu einer anderen Stelle in „Die Schandmaske“ passen, wo es heißt, der Brief an das Bauunternehmen Howard & Sons in Learmouth sei vom Sonntag, 6. November, datiert. Allerdings widerspricht dies wiederum der mehrfachen Angabe, dass der 6. November ein Samstag gewesen sei.

Den Kriminalroman „Die Schandmaske“ von Minette Walters gibt es auch als Hörspiel mit Angrid Andree, Otto Sander, Corinna Kirchhoff u. a. (Bearbeitung und Regie: Walter Adler; ISBN: 978-3-89940-327-5).

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Wilhelm Goldmann Verlag

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M. J. Adler, C. van Doren - Wie man ein Buch liest
Mortimer J. Adler und Charles van Doren fokussieren sich in "Wie man ein Buch liest" auf Sachbücher. Die von ihnen für Belletristik aufgestellten Leseregeln sind recht trivial. Auf Themen wie Stil und Sprachniveau gehen sie überhaupt nicht ein.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.