Henning Ahrens : Mitgift

Mitgift
Mitgift Klett-Cotta, Stuttgart 2021 ISBN 978-3-608-98414-9, 352 Seiten ISBN 978-3-608-11672-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Nationalsozialist Wilhelm Leeb, der sich als Herrenmensch fühlt, kommt nach vier Jahren Gefangenschaft traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg zurück, missachtet die Leistung der Familienmitglieder während seiner Abwesenheit und nimmt gewissermaßen alle und alles wieder in Besitz, während der gleichnamige Sohn an der Ausweglosigkeit seiner Situation verzweifelt.
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Kritik

Im Mittelpunkt des packenden Dorf- und Familienromans "Mitgift" steht ein Vater-Sohn-Konflikt. Henning Ahrens entwickelt die aus der subjektiven Sicht der Totenfrau des Dorfs gespiegelte Geschichte nicht chronologisch, aber alles strebt auf den Höhepunkt der Tragödie zu, und die Auftritte sind farbig inszeniert.
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Februar 1755 – Gott zu Gefallen

Der Kothsass (Kleinbauer) Hans Wilhelm Leeb (1705 –​ 1777) in Klein Ilsede bei Hannover ist in zweiter Ehe mit Catharina Sophie (1722 – ​1758) verheiratet. Anna Margarete, seine erste Frau, starb bei der Geburt des vierten Kindes. Von den Kindern aus der ersten Ehe überlebten nur die Töchter Eleonore und Karoline. Aber Catharina Sophie ist inzwischen auch zum dritten Mal schwanger.

September 1864 – Die Mission

Der Junggeselle Wilhelm August Leeb (1815 – ​1865) hat elf Geschwister bzw. Halbgeschwister, darunter den 16 Jahre jüngeren Halbbruder Ludwig Leeb (1831 – ​1910) aus der zweiten Ehe des Vaters, der in Celle einen Pachthof bewirtschaftet. Auf dem Hof in Klein Ilsede, der seit 1699 im Besitz der Familie Leeb ist, wird der derzeitige Besitzer Wilhelm August Leeb von der Zugehfrau Dorothee umsorgt, der Witwe des Brinksitzers (Kleinstbauern) Jochen Thies.

Ludwig Leeb nimmt den beschwerlichen Weg von Celle nach Klein Ilsede mit der Kutsche auf sich, um mit seinem lungenkranken Halbbruder Wilhelm August zu reden, denn als ältester Sohn aus der zweiten Ehe des Vaters glaubt er, nach dem Tod des letzten Sprosses aus der ersten Ehe Anspruch auf das Familienerbe zu haben.

„Du hast doch einen Hof.“
„Ja, aber nur in Pacht.“
Wilhelm August zuckt mit den Schultern, dann schenkt er Bier nach.
„Außerdem will ich heiraten.“
„Oh?“ Sein älterer Bruder blickt auf. „Tatsächlich?“
„Jawohl. Im kommenden Frühjahr.“
„Und die Glückliche ist …?“
„Elisabeth Breimann.“
„Die Groß Ilseder Breimanns?“
Ludwig nickt.

Aber Wilhelm August Leeb, der sich darüber ärgert, dass Ludwig ihn beharrlich mit „August“ anspricht, obwohl er wie alle Erstgeborenen der Familie Leeb „Wilhelm“ genannt werden möchte, hat bereits die Mission in Hermannsburg in einem notariellen Testament als Alleinerbin eingesetzt.

„Sie haben ein Missionsschiff, die ›Candance‹, und sie bringen den Afrikanern den christlichen Glauben.“

November 1895 – Eine Frage des Kleides

Ludwig Leeb, der den Hof der Familie in Klein Ilsede nach dem Tod seines Halbbruders von der Hermannsburger Mission zurückgekauft und sich dafür hoch verschuldet hat, erwartet von seinem Erstgeborenen Carl Wilhelm („Willi“, 1870 – 1944), dass dieser die 17-jährige, von ihm geschwängerte Magda Niebuhr heiratet und sich darauf vorbereitet, später den Hof zu übernehmen.

Die Tochter des Bauern Traugott Niebuhrs und seiner Frau Helene wird zwar nicht den Familienbesitz erben – das ist ihrem älteren Bruder Albert vorbehalten −, aber eine üppige Mitgift ist ihr sicher, und das hält Ludwig Leeb für entscheidend. Dass sein Sohn Carl Wilhelm lieber Lateinlehrer geworden wäre, zählt für ihn nicht. Es geht um Pflichterfüllung gegenüber der Familie.

Am 29. November 1895 findet die Hochzeit statt.

Drei Generationen wird es dauern, bis die durch Wilhelm August Leebs Testament bzw. den Rückkauf des Hofs durch Ludwig Leeb entstandenen Schulden abbezahlt sind.

Mai 1940 – Kind in der Krippe

Ernst August Martin Wilhelm Leeb (*1902) und seine Frau Käthe, eine geborene Kruse, haben drei Kinder: Wilhelm („Willem“, *1931), Grete (*1935) und Bruno (*1939). Zum Haushalt auf dem Familienhof in Klein Ilsede gehören außerdem die Großeltern der Kinder, Willi und Magda Leeb, Gustav und Herta Kruse (1869 – ​1952, 1871 – ​1949) sowie der Knecht Josef.

Im Mai 1940 erhält Wilhelm Leeb senior die Einberufung zum Kriegsdienst.

März 1944 – Feind vor der Tür

Leutnant Wilhelm Leeb, der als Landwirtschaftsführer zunächst in Pyrjatyn im Oblast Poltawa und dann in Chmelnyzkyj nordöstlich von Czernowitz im Einsatz war, erhält am 23. März 1944 den Rückzugsbefehl. Weil die Rote Armee im Bogen auf Czernowitz vorstößt und den Weg nach Westen abschneidet, müssen die Deutschen nach Süden, nach Rumänien, ausweichen.

Wilhelm Leeb und sein ukrainischer Fahrer Alex nehmen Larissa mit, die für den Leutnant dolmetschte, und deren Freundin Tanja, die für einen anderen Sonderführer tätig war, der bereits überstürzt geflohen ist.

April 1944 – Hundertfünfzig Störche

Vier Wochen nach dem hastigen Aufbruch in Chmelnyzkyj trifft Wilhelm Leeb senior mit seiner ukrainischen Begleitung in Klein Ilsede ein.

Seiner Frau wirft er vor, in ihrem Kleid „trutschig“ auszusehen. Dabei hat sie eigens ihr bestes angezogen. Dass Käthe mit Hilfe vor allem des Sohnes Wilhelm und des Knechts Josef den Hofbetrieb trotz der kriegsbedingten Schwierigkeiten am Laufen gehalten hat, ist ihm keinen Kommentar wert. Das findet der Junior ungerecht, und ihm missfällt es, als er die Hand seines Vaters auf Larissas Po sieht.

Der Vater denkt über den Sohn:

Der Junge ist groß für sein Alter und schlägt nach dem Großvater mütterlicherseits, Gustav Kruse, blonder Bollerkopp und hohe Stirn. Ja, der Junge ist äußerlich ein Kruse, eine Familie, die Wilhelm Leeb im Stillen verachtet, denn niemand reicht an die Leebs heran.

Nachdem Wilhelm Leeb senior Anstellung und Unterbringung von Alex, Tantja und Larissa auf seinem Hof amtlich geregelt hat, fährt er zurück nach Krakau und meldet sich erneut zum Kriegsdienst, obwohl er als Landwirt freigestellt werden könnte.

Sommer 1944 – Grummet

Während der Heuernte 1944 bricht Willi Leeb mit einem Herzinfarkt zusammen.

Sein Sohn kommt im September noch einmal kurz aus dem Krieg im Osten nach Klein Ilsede, um sich vom sterbenden Vater zu verabschieden.

April 1945 – Kacke am Dampfen

Kurz bevor die Amerikaner Peine und Klein Ilsede erreichen, räumen die Bewohner des Hofs der Familie Leeb das vor dem Krieg von Wilhelm Leeb senior geleitete SA-Büro, vernichten alle Papiere mit Hakenkreuz und versenken die Waffen in der Jauchegrube.

Die Stadt Peine, drei Kilometer nördlich, wird erst am folgenden Tag übergeben, kampflos und unzerstört, dies aufgrund des Mutes und der Besonnenheit der Stadtoberen […] Der Amerikaner rückt erst in den folgenden Tagen in das Dorf Klein Ilsede ein […].

Mai 1945 – Kot auf den Schuhen

Am 8. Mai 1945 brechen Leutnant Wilhelm Leeb und andere in Braunau auf, um sich zunächst nach Norden durchzuschlagen, aber in Lomnitz an der Popelka (Lomnice nad Popelkou) werden sie am Tag darauf von Freischärlern gefangen genommen.

Frühjahr 1946 – Blutiger Boden

Die auf dem Leeb-Hof in Klein Ilsede eingesetzten Zwangsarbeiter Martin und Pawel verließen Deutschland nach dem Krieg ebenso wie Alex, Tanja und Larissa. Wilhelm Leeb junior brach die Schule ab, um seine Mutter bei der Bewirtschaftung des Hofs nach Kräften unterstützen zu können.

September 1947 – Hitlerowiec

Wilhelm Leeb senior wird als Kriegsgefangener in Półwies als „Hitlerowiec“ beschimpft und schikaniert.

Pfingsten 1949 – Mann im Haus

Wilhelm Leeb junior verliebt sich in die 17-jährige Sophia Wely, deren früh verstorbener Vater Ernst Wely der letzte Gutsförster vor der Veräußerung des gräflichen Waldes gewesen war. Nicht nur seiner Großmutter Herta Kruse missfällt das:

„Lass die Finger von der Förstertochter. Die ist nichts für dich. Die hat kein Land. Die hat kein Geld. Die ist nicht besser als ein Flüchtling.“

Juni 1949 – Zungenragout

Nach vierjähriger Gefangenschaft kehrt Wilhelm Leeb senior endlich nach Hause zurück. Seit fast fünf Jahren hat er den Hof nicht mehr gesehen.

Er ärgert sich darüber, dass das Tor nicht zu seinem Empfang geschmückt ist, und als er erfährt, dass seine Jagdgewehre in der Jauchegrube verrotten, kann er es kaum fassen. Sein älterer Sohn meint:

„Wir haben gut gewirtschaftet, Vater, gemessen an den schwierigen Bedingungen während des Krieges. Und genauso danach, ja bis heute, denn vieles ist nach wie vor ein Problem, etwa die Beschaffung von Saatgut oder Setzkartoffeln, von Dünger ganz zu schweigen, und …“
Sein Vater unterbricht ihn. „Ich bin nach all der Zeit, nach vier erniedrigenden …“ – er presst das Wort zwischen den Zähnen hervor – „… Jahren nicht heimgekehrt, um mir Vorträge anzuhören, Wilhelm! Ich bin heimgekehrt, um zu handeln. Ich bin nicht heimgekehrt, um am Katzentisch zu sitzen, sondern …“ – er pocht auf die Tischplatte – „… um den mir gebührenden Platz einzunehmen. Was ihr gemacht habt, ist mir gleich. Was ich ab jetzt tue – das allein zählt. Nur das. Hast du verstanden, mein Sohn?“ Er starrt ihn herausfordernd an.
Der junge Wilhelm ist wie vor den Kopf gestoßen. „Ja, sicher“, murmelt er, „und trotzdem …“
„Ab jetzt gibt es kein ›Trotzdem‹ mehr. Keine Widerworte. Ab jetzt wird pariert. Und das …“ – sein Vater sieht sich in der Runde um – „… gilt für alle!“

Auch in der nächsten Zeit beklagt sich der Kriegsheimkehrer bei seinem älteren Sohn über den Zustand des Hofs.

„Der Hof befindet sich im Niedergang. Aber ich reiße das Ruder herum!“

„Ich muss hier so einiges ausbügeln, nicht zuletzt die lasche Erziehung durch eure Mutter, die weder konsequent noch tatkräftig genug ist.“

„Ich habe tausend Läuse zerdrückt, und was habt ihr unterdessen getan? Den Hof habt ihr verkommen lassen. Kein Geld, kein Saatgut? Unsinn: Keine Tatkraft, kein Wagemut, keine Visionen – das ist euer Problem.“

März 1956 – Heinkel Tourist und Schweinemist

Der inzwischen 17 Jahre alte Bruno Leeb, der einen Motorroller „Heinkel Tourist“ bekommen hat, um eine höhere Schule in der 20 Kilometer entfernten Stadt Hildesheim besuchen zu können, erwartet bessere Zeiten:

Bald bekommt das Dorf fließend Wasser, dann beginnt eine paradiesische Ära! Dann ist endlich Schluss mit Waschschüssel und Zinkwanne, in der alle nacheinander baden, sodass der Letzte in einem trüben, eisigen Sud hockt, aus dem er dreckiger auftaucht, als er eingetaucht ist, Schluss mit dem Schleppen und Erhitzen des Wassers. Dann brechen auch hier, in diesem Haus, moderne Zeiten an. Nie mehr kalt rasieren – ein Traum!

Von den Großeltern lebt nur noch Magda Leeb. Die Großmutter Herta Kruse starb 1949, einige Monate nach der Rückkehr ihres Schwiegersohns aus dem Krieg, der Witwer Gustav Kruse drei Jahre später.

Bruno erlebt mit, wie sein älterer Bruder mit dem Vater ringt.

„Ich werde fünfundzwanzig, war auf dem Lehrhof und arbeite trotzdem noch für ein Almosen. Ich muss um jeden Pfennig betteln. So geht das nicht. Ich brauche eine Perspektive. Du musst abgeben, Vater!“

„Ich gebe diesen Hof erst ab, wenn ich den Löffel abgebe, mein Sohn.“

August 1962 – Zeit der Geborgenheit

Früher als gewohnt wird in diesem Jahr auf dem Leeb-Hof geschlachtet. Bei Tagesanbruch kommt der Metzgermeister Barthold Klages mit seinem Gesellen und wetzt die Messer, während Wilhelm Leeb senior den Kessel anheizt.

Das Schlachten der gemästeten Sau gilt als Fest, aber der 31 Jahre alte Wilhelm hält sich von den anderen fern. Der Vater unterdrückt ihn, und er befürchtet, dass ihn inzwischen auch Sophia Wely verachtet, weil er sich nicht durchzusetzen vermag und ihr keine Zukunft bieten kann.

Nachts folgt er seinem Vater, der beim Schlachtfest zu viel getrunken hat, zum Plumpsklo. Er hat die 1945 vor dem Anrücken der Amerikaner von seiner Großmutter versteckte Pistole seines Vaters gefunden. Damit will er ihn erschießen, sobald er aus dem Verschlag wieder herauskommt.

Er hebt die Pistole. Jetzt puste ich den Alten weg. Soll er verbluten wie die Sau.

Aber als Wilhelm Leeb senior im mit Kot beschmutzten Nachthemd zurück ins Haus torkelt, bringt der Sohn es nicht fertig, ihn zu töten. Er hält sich für einen Verlierer und fühlt sich schuldig, gegenüber der Mutter, gegenüber Sophia und gegenüber sich selbst.

Noch kann er etwas tun! Mit neuem Mut pirscht er sich die Treppe hinauf und hört seinen Vater rasselnd schnarchen. Als er nach der Türklinke greift, taucht seine Großmutter hinter ihm auf.

Seine Hand zuckt von der Klinke, die sofort hochschnellt, und er fährt herum, wobei er versucht, die Waffe zu verbergen. „Oma …“, stottert er.
„Was tust du denn da? Um diese Zeit?“, will Oma Leeb nuschelnd wissen, denn sie hat ihr Gebiss herausgenommen.

Als Magda Leeb die 1945 von ihr versteckte und später nicht mehr gefundene Pistole erblickt, meint sie: „Ach, da ist sie ja.“ Sie fordert ihren Enkel auf, ihr „das grässliche Ding“ zu geben, damit sie die Waffe wegwerfen kann, und als Wilhelm sich sträubt, trägt sie ihm auf, ein guter Junge zu sein und die Pistole in der Jauchegrube zu versenken. Dann schlurft sie in ihr Schlafzimmer zurück.

Wilhelm fiel auf, dass die über dem Nachthemd getragene Strickjacke der Großmutter falsch zugeknöpft war.

Falsch zugeknöpft …, geht es ihm durch den Kopf, und er schüttelt sich, um Augenblicke später zu begreifen, dass auch hier alles verquer ist – die Möbel stehen verkehrt, sie bilden kein einträchtiges Ganzes […].

August 1962 – Die Totenfrau

Nebenan wohnt Gerda Derking. Sie ist bald Mitte 60.

Wilhelm Leeb senior hat ihr lebenslanges Wohnrecht zugesichert, und sie weiß, er wird Wort halten, in dieser Hinsicht ist er korrekt.

Ihr Verlobter war 1918 gefallen. Anfang der Dreißigerjahre verliebte sie sich in Wilhelm Leeb, und er erwiderte ihre Gefühle, ehelichte aber statt der nicht standesgemäßen Arbeitertochter die Hoferbin Käthe Kruse, und Gerda Derking blieb unverheiratet. Sie arbeitet als Deputatfrau bei den Leebs und anderen Landwirten. Und bis vor kurzem war sie auch die Totenfrau. Das heißt, man rief sie, wenn in Klein Ilsede jemand starb. Sie wusch dann die Leiche und richtete sie für das Begräbnis her. Aber der Tod der Menschen, die sie alle persönlich kannte, belastete sie immer stärker. Deshalb beendete sie im Frühsommer 1962 ihre Tätigkeit als Totenfrau.

Im August 1962 taucht überraschend Wilhelm Leeb senior bei ihr auf.

„Gerda“, wiederholt er, „… wir brauchen dich.“

Erst als sie erfährt, was geschehen ist, erklärt sie sich bereit, noch ein letztes Mal die Aufgaben der Totenfrau zu erfüllen. Mit dem Rad fährt sie zu ihrer am Ostrand des durch zahlreiche Flüchtlinge größer gewordenen Dorfes wohnenden Freundin Lisbeth Bohlweg, die aus Westpreußen stammt und deren Ehemann Hermann nicht aus dem Krieg zurückgekommen ist. Sie soll Gerda nun – wie in den Jahren zuvor – bei der Arbeit der Totenfrau helfen. Bei ihr zum Kaffeetrinken sind gerade zwei weitere vertriebene Frauen: die Masurin Trude Bajonzak und Fräulein Bernhard, deren Vater das renommierteste Bekleidungshaus in Stettin führte.

Als der Polizeimeister Klose mit dem VW-Käfer und der Arzt Dr. Fröbe aus Peine mit seinem Mercedes weggefahren sind, betreten Gerda und Lisbeth den Hof der Familie Leeb, um die Leiche für die Aufbahrung herzurichten. Wilhelm Leeb, seine Frau Käthe, seine Mutter Magda und der Knecht Josef sind allein. Grete arbeitet in Hannover in einem Reiseunternehmen, und Bruno ist in der Bundeswehr-Kaserne.

Magda Leeb klagt:

„Wir hätten auf den Jungen besser achtgeben müssen. Vor zwei Jahren …“ – auf einer runzeligen Wange glitzert etwas Feuchtes – „… da hat Käthe ihn im letzten Moment vom Strick geschnitten.“ […] „Und als er klein war“, ergänzt die alte Magda, „hat er sich in die Futterkrippe gelegt, um von den Ochsen gefressen zu werden.“

Einige Wochen danach fällt Gerda Derking auf, dass man sich auf dem Hof der Familie Leeb noch nicht auf die bald beginnende Zuckerrübenkampagne vorbereitet hat.

[…] auf dem Hof scheint die Zeit stillzustehen, niemand rührt eine Hand, alle sind wie gelähmt.

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In seinem Roman „Mitgift“ erzählt Henning Ahrens die Geschichte einer niedersächsischen Bauernfamilie von der Hofgründung im Jahr 1699 bis 1962. Die Familiensaga ist nicht zuletzt ein Panorama der bäuerlichen Lebenswelt, in der die Scholle und die Verantwortung für den Familienbesitz wichtiger sind als persönliche Vorlieben. Für Kunst, Kultur oder Müßiggang ist in dieser Welt kein Platz.

[…] im Dorf ist Lesen verdächtig. Wer liest, der hat erstens nichts Besseres zu tun, ist also faul, und zweitens hält er sich für was Besseres […]. Lesen, das darf nur der Lehrer, muss er ja auch, und natürlich der Pastor, muss er ja auch, alle anderen haben das gefälligst zu unterlassen, die sollen Mist fahren oder Fußböden schrubben, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen oder sich irgendwas einbilden auf ihre Neunmalklugheit.

Den weitaus größten Teil des Buches widmet Henning Ahrens den Ereignissen von 1940 bis 1962, und im Mittelpunkt steht der tragisch endende Konflikt von Wilhelm Leeb (*1902) und seinem 1931 geborenen gleichnamigen Sohn. Der Nationalsozialist Wilhelm Leeb senior, der sich als Herrenmensch fühlt, kommt nach vier Jahren Gefangenschaft traumatisiert aus dem Zweiten Weltkrieg zurück, missachtet die Leistung der Familienmitglieder, die den großen Hofbetrieb während seiner Abwesenheit weitergeführt haben und nimmt gewissermaßen alle und alles wieder in Besitz. Der Egomane verkörpert Gewalt, Unterdrückung und Manipulation; sein Sohn verzweifelt an der Ausweglosigkeit seiner Situation.

Henning Ahrens entwickelt die Geschichte in „Mitgift“ nicht chronologisch, sondern springt von Kapitel zu Kapitel zeitlich vor und zurück. Zwischendurch folgen wir immer wieder der Totenfrau Gerda Derking, die sich im August 1962 an frühere Zeiten erinnert und auch die aktuellen Ereignisse in Klein Ilsede miterlebt. Diese Romanfigur mit ihrer subjektiven Perspektive erweist sich als kluger Einfall, denn sie ermöglicht es Henning Ahrens, sich selbst zurückzunehmen und auf eigene Kommentare zu verzichten.

„Mitgift“ ist ein packender, mitreißender Roman, den Henning Ahrens dramaturgisch geschickt aufgebaut hat. Alles strebt auf den Höhepunkt der Tragödie zu. Obwohl der tödliche Ausgang von Anfang an zu erwarten ist, entsteht Spannung wie in einem Kriminalroman. Vielleicht sind manche Metaphern wie die mehrfach auftauchende pechschwarze Katze mit gekapptem Schwanz und verstümmeltem linken Vorderbein oder das dominante Büfett („dieses Trumm“) im Möbelensemble zu aufdringlich, aber Henning Ahrens versteht es auf jeden Fall, prägnante Auftritte lebendig und anschaulich zu inszenieren. Dabei helfen ihm seine profunden Kenntnisse über die dargestellten Lebensverhältnisse.

Henning Ahrens wurde am 22. November 1964 in Peine geboren und wuchs auf dem Bauernhof der Familie in Klein Ilsede auf, bevor er in Göttingen, London und Kiel Anglistik, Geschichte und Kunstgeschichte studierte. 1995 promovierte er in Kiel („John Cowper Powys‘ Elementalismus. Eine Lebensphilosophie“).

Nach Gedichten veröffentlichte Henning Ahrens 2002 mit „Lauf Jäger lauf!“ seinen ersten Roman. Außerdem übersetzt er aus dem Englischen.

Seinem Roman „Mitgift“ hat er eine Widmung vorangestellt:

Für meinen Vater Heinrich Ahrens (1931–1989)

Wenn ich richtig verstehe, was Henning Ahrens im Nachwort schreibt, hat er den realen Suizid seines – wie Wilhelm Leeb junior – 1931 geborenen Vaters im Jahr 1989 in „Mitgift“ ins Jahr 1962 verlegt. Wir können „Mitgift“ wohl als Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte auffassen, auch wenn Romanhandlung und Wirklichkeit einander nicht eins zu eins entsprechen.

„Mitgift“ erzählt von der Vergangenheit meiner Familie – gewissermaßen. Denn erstens hat Romanpersonal die Neigung, eigene Wesenszüge anzunehmen, verselbständigt sich also. Und zweitens habe ich auf Vorfahren zurückgegriffen, die ich in vielen Fällen nie kennengelernt habe […] die Romanfiguren […] lassen sich nicht ohne weiteres mit ihren Vorbildern gleichsetzen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

C. S. Forester - Tödliche Ohnmacht
C. S. Forester setzt in dem aus Majories Perspektive erzählten Rachedrama "Tödliche Ohnmacht" auf die Ausleuchtung der psychischen Vorgänge und eine sorgfältige, alle Sinne ansprechende Inszenierung.
Tödliche Ohnmacht