Jörg-Uwe Albig : Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus

Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus
Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus Originalausgabe Klett-Cotta, Stuttgart 2021 ISBN 978-3-608-98416-3, 239 Seiten ISBN 978-3-608-12092-9 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Als ob es sich bei der Entführung des schwerreichen Kunstsammlers Frido von Sendmühl und der Lösegeldforderung um die nicht ungewöhnliche Geschäftstätigkeit einer mittelständischen Firma handeln würde, versucht die freie Mitarbeiterin Katrin Perger, die Kundenbindung zu erhöhen ...
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Kritik

Der Plot stellt die Welt auf den Kopf, aber Jörg-Uwe Albig entwickelt die Handlung bierernst – und macht gerade dadurch aus "Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus" eine Groteske, in der er die freie Marktwirtschaft mit einer Geiselnahme vergleicht.
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Die Bewerbung

Katrin Perger, die Tochter eines Fliesenlegers, studierte Psychologie in Tübingen. Ihre Diplomarbeit „Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus“ kam allerdings nicht über Fragmente hinaus, die sie im Blog „Gegenübertragung“ ihres Kommilitonen Mads Zastrow veröffentlichte, bevor sie das Studium abbrach. Ihre Ehe blieb kinderlos und wurde geschieden.

Nachdem Katrin Perger einige Zeit als Familientherapeutin und Unternehmens-Coach gearbeitet hat, bewirbt sie sich bei Human Solutions. Die Verwaltung des Unternehmens befindet sich in einem Businesspark in Glimpflingen in Baden-Württemberg.

Das Vorstellungsgespräch führt Katrin Perger mit der Unternehmerin Sabine Seggle persönlich. Deren Großvater Konstantin Seggle gründete die Firma 1954 und übergab sie 1980 seinem Sohn Theodor, einem Idealisten, der lieber Schriftsteller geworden wäre. Sabine Seggle absolvierte eine Banklehre und studierte dann BWL. Vor elf Jahren übernahm sie die Unternehmensleitung von ihrem Vater und benannte die Seggle GmbH in Human Solutions um.

Wir vertreiben Waren mit hohem Servicebedarf. […] Ein hochsensibler Geschäftszweig […]; alles beruht auf Diskretion, auf dem Vertrauen unserer Kunden.

Die Firma glaubt an Werte, sagte sie schließlich. […] Der Wert an sich, sagte Frau Seggle […]. Der Wert des Menschen.

Katrin Perger wird als freiberufliche Mitarbeiterin für ein Projekt engagiert.

Für meine Arbeit war es ohne Belang, ob ein Betrieb Ölfässer reinigte oder Backteiglinge herstellte oder Finanzprodukte, die ich nicht verstand.

Womit diese Betriebe ihr Geld verdienten, all diese Drosselrückschlagventile, Schlauchflanschen und Achtzehnkantmuttern, hatte ich nie verstanden. Ich hatte keine Vorstellung von ihren revolutionären Bezahlsystemen, ihren bahnbrechenden Kontrastmitteln für Traktorreifen, ihren umwälzenden Apps. Ihre Businesspläne, ihre Gewinnerwartungen gingen mich nichts an. Ich verkaufte meinen Service wie ein Taxifahrer. Ich brachte meine Kunden an das Ziel, das sie sich in den Kopf gesetzt hatten.

Das Projekt

Für die Projektarbeit quartiert sich Katrin Perger im Hotel Forsthaus ein, sechs Kilometer oberhalb von Brunckenschwang am Rand der oberbayrischen Alpen. Human Solutions hat zwei Kundenbetreuer als Leihkräfte von Reinboth Professionals besorgt: Gursky und Bachmayr. Einer der beiden fährt die Unternehmensberaterin mit einem Jeep hinauf zum Kunden in einer Berghütte bzw. zurück zum Hotel. Verantwortlich für den 24/7-Service ist Niels Klein, der Leiter des Kundendienstes.

Bevor Katrin Perger oder jemand vom Kundendienst den Raum betritt, in dem der zu betreuende Kunde eingesperrt und angekettet ist, setzen sie Schweißermasken auf, um ihre Gesichter zu verbergen.

Beim Kunden handelt es sich um Frido von Sendmühl. Er wurde 1971 geboren und wuchs als Sohn des Kunsthändlers Gero von Sendmühl im Schloss Stößenstein auf. Nachdem der Schüler einer Lehrerin an den Po gefasst hatte, kam er in ein Internat in Neuchâtel. Später wurde er Kunstsammler. Von seinem Erfolg zeugen die Stiftung Sendmühl Endowment for the Arts, die Sendmühl-Akademie, die Sendmühl-Malschule für Kinder und Jugendliche, der Sendmühl-Kunstpreis und das Sendmühl-Stipendium. Frido von Sendmühls französische Mutter Mathilde, die lange Zeit als Schauspielerin an den Tübinger Kammerspielen engagiert war, ist die Schirmherrin und Ehrenvorsitzende der Stiftung Sendmühl Endowment for the Arts. Sein Bruder Philipp arbeitet als Kunsthistoriker, seine Schwester Sophie-Marie als Bauunternehmerin und sein Halbbruder Moritz verschwand im Alter von 24 Jahren in einem Surferparadies. Verheiratet ist Frido von Sendmühl mit einer Französin namens Geneviève.

Er wolle sofort sein Handy zurück, forderte Sendmühl mit einer Ruhe, die vielleicht gefährlich wirken sollte. Wenigstens, sagte er, für zwei, drei Gespräche.
Herr Klein antwortete mit keinem Wort. Stattdessen überprüfte er eigenhändig den Sitz der eisernen Kette. Dann streifte er dem Kunstfreund die Patek Philippe vom Handgelenk und befreite ihn von der Tyrannei der Zeit. Die brauchen Sie hier nicht, sagte er. Wenn Sie wissen wollen, wie spät es ist, fragen Sie einfach unser Personal.

Katrin Pergers Aufgabe ist es, die Kundenbindung zu stärken. Immerhin beschäftigte sich die Psychologin bei der Vorbereitung ihrer Diplomarbeit mit dem Stockholm-Syndrom.

Ich bin nicht die Firma, sagte ich. Ich bin nur zuständig für den Prozess. Und ich lade sie ganz herzlich ein, dabei mit mir zusammenzuarbeiten.

Ich will hier raus.
Sehr gut, Herr von Sendmühl, sagte ich. Sie haben also eine klare Zielvorstellung.

Ich bekomme den Eindruck, dass sie von unseren gemeinsamen Zielen nicht völlig überzeugt sind. Habe ich recht.

Ich möchte gern, dass wir uns in der Definition unserer Ziele einig sind, sagte ich. Ich finde es wichtig, dass Sie es sofort ansprechen, falls Sie sich nicht verstanden fühlen sollten.

Bei Meetings in der Unternehmenszentrale in Glimpflingen lernt Katrin Perger die übrigen Mitglieder der Geschäftsführung von Human Solutions kennen. Der Vertriebsleiter Sebastian Zielinsky berichtet, dass die Verkaufsangebote auf dem Markt und die Verhandlungen angelaufen seien. Grete Yildiz ist für die Finanzen zuständig, Paula Liebherr für IT und Logistik, Rolf Schnelling fungiert als Personalchef, und Barbara Pfau ist Assistentin der Geschäftsleitung.

Die Chefin Sabine Seggle klagt über den Fachkräftemangel, den ausufernden Kündigungsschutz und die Hindernisse bei der Befristung von Arbeitsverträgen. Sie spricht von Produktivität, Benchmarks und hebt die Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur gerade in ihrer Branche hervor.

Der Preis für Frido von Sendmühl beträgt 20 Millionen.

Die Geiselnahme verwandelt den Wert des Menschen in einen Tauschwert. Nicht das menschliche Potenzial der Geisel ist für diesen Wert relevant, sondern der Preis, der sich für sie erzielen lässt. So wird der Mensch objektifiziert, aber auch objektiviert. Sein Wert wird messbar und so erst real.

Katrin Perger erfährt von einem Fehlschlag des Unternehmens im letzten Sommer. Entführt wurde Lucius Stringl, der Juniorchef der Mobiltoiletten-Mietfirma Lokus Pokus, Die Mitarbeiter sperrten den Kunden in eine Box, die sie zum Schnupperpreis für zehn Tage in einer Self-Storage-Facility gemietet hatten. Weil das Projekt in dieser Zeit nicht abgewickelt werden konnte und der Facility Manager die Box am elften Tag für die Reinigungskräfte entsperrte, gelang Lucius Stringl die Flucht.

Jeden Tag setzt Katrin Perger die Schweißermaske auf und redet mit dem Kunden.

Sie sind unzufrieden mit Ihrer Situation, fasste ich zusammen.

Ich lade Sie ein, nicht vor allem die Mängel Ihrer Lage zu betrachten, schärfte ich ihm wieder und wieder ein […].

Die Wende

Durch die Gespräche mit der Unternehmensberaterin beginnt Sabine Seggle über sich selbst nachzudenken. Sie nimmt Gesangsstunden und zieht sich für drei Wochen zu Schweigeexerzitien ins Ursulinenkloster Sankt Priska in Bertenbrunn zurück.

Bei ihrer Rückkehr wirkt sie wie ausgewechselt. Katrin Perger traut ihren Augen nicht, als sie zur Hütte hinaufkommt, denn die Unternehmerin geht mit dem Kunden spazieren und unterhält sich angeregt mit ihm.

Ausgerechnet der besonders loyale Vertriebschef Sebastian Zielinsky beklagt sich als Erster im Kollegenkreis über die neuen Verhaltensweisen der Chefin. Das sei Sabotage, meint er.

Dann begriff ich, dass diese Loyalität nur die nächste Ebene erreicht hatte. Dass sie nicht mehr Frau Seggle galt, sondern dem Markt, dem Übervater, der alles regelte und für alles sorgte.

Plötzlich steht ein Fremder in der Tür der Hütte. Als er sieht, dass sie nicht verlassen ist, rennt er weg, aber Gursky und Bachmayr schnappen ihn. Es handelt sich um einen Flüchtling, der vor der Polizei geflohen ist, weil er abgeschoben werden sollte. Nach ihm wird mit einer Hundestaffel gesucht, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Hütte entdeckt wird. Der Kunde und seine Betreuer sind dort nicht mehr sicher. Als sie in die Jeeps steigen, will der Flüchtling mitkommen.

Paula Liebherr übernahm es, dem Mann die grundlegenden Maximen des Geschäftslebens zu vermitteln. Human Solutions war ein gewinnorientiertes Wirtschaftsunternehmen. Es bewegte sich in einem sich ständig ausdehnenden Universum, das sich Markt nannte. Dieses Universum umfasste die Gesamtheit von Raum, Zeit, Materie und Energie. Außerhalb dieses Universums gab es nichts. Wer nicht am Markt teilnahm, für den konnte es Human Solutions gar nicht geben, und dann gab es ihn logischerweise auch für Human Solutions nicht.

Frido von Sendmühl schlägt vor, dass sie sich in seinem Chalet verstecken, und die Kundenbetreuer gehen darauf ein, weil sie nicht wüssten, wohin sie ihn sonst bringen sollten. Niels Klein und Katrin Perger bleiben bei ihm.

Die Verkaufsverhandlungen stocken, weil Geneviève von Sendmühl gar nicht auf die Kontaktversuche reagiert, die Geschwister des Kunden keine Entscheidung treffen und der Halbbruder Moritz nach wie vor verschollen ist. Obwohl man sich in diesem Fall im Premiumsegment bewegt, reduziert Sebastian Zielinsky den Preis von 20 auf 3 Millionen, aber nicht einmal das hilft weiter.

Nach einigen Tagen folgt Katrin Perger dem Beispiel von Niels Klein und setzt die Schweißermaske nicht mehr auf. Sie vertrauen dem Kunden die Schlüssel für die Fußkette an, damit er sich vor bzw. nach dem Duschen selbst ab- und ankoppeln kann und Niels Klein sich nicht mehr zu bücken braucht.

Als Sabine Seggle die Firmenkonten leerräumt und verschwindet, macht Frido von Sendmühl ein Angebot, das Niels Klein zunächst als Versuch einer feindlichen Übernahme abtut, bis er begreift, dass es keine andere Option gibt.

Epilog

Am 23. August 1923, auf den Tag genau 50 Jahre nach der Geiselnahme in der Schwedischen Kreditbank am Norrmalmstorg in Stockholm, eröffnet das Unternehmen Human Solutions auf dem Gelände einer stillgelegten Munitionsfabrik nahe der Autobahnausfahrt Bergleiten an der Schnatter den Freizeit- und Erlebnispark „Stockholm Story“. Frido von Sendmühl, der CEO von Human Solutions in Glimpflingen, hat hier 20 Millionen investiert, um sich einen Traum zu erfüllen. Die Gebäude sind exakt nach dem Vorbild der 1973 in Stockholm überfallenen Schwedischen Kreditbank gestaltet. Schauspieler übernehmen die Rollen der Geiselnehmer, und die Chefanimateurin Katrin Perger verspricht den Gästen einzigartige Erfahrungen mit Gruppendynamik.

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In seinem Roman „Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus“ erzählt Jörg-Uwe Albig von einer Geiselnahme, als ob es sich dabei um die nicht ungewöhnliche Geschäftstätigkeit eines mittelständischen Unternehmens in Baden-Württemberg handeln würde (Entführungsindustrie). Der Plot stellt die Welt auf den Kopf (verkehrte Welt), aber Jörg-Uwe Albig entwickelt die Handlung bierernst – und macht gerade dadurch aus dem Roman eine Groteske, zumal er in den sachlichen Text der Ich-Erzählerin Katrin Perger retardierende Gedankensplitter und knochentrockene Zitate aus Sachbüchern über Geiselnahmen und die Funktionsweise von Märkten einfügt. (Dementsprechend gibt es in „Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus“ ein Literaturverzeichnis mit mehr als 30 Titeln.)

Das Versprechen des Markts lautet: Freiheit. Ein Markt ist nur als freier Markt denkbar. Ein geplanter Markt ist ein Paradox. Die Freiheit des Markts ist aber ohne die Unfreiheit seiner Teilnehmer nicht zu haben.

In „Das Stockholm-Syndrom und der sadomasochistische Geist des Kapitalismus“ vergleicht Jörg-Uwe Albig die Marktwirtschaft mit einer Geiselnahme. Dabei kommt es zur Isolierung der Konsumenten und zu ihrer Solidarisierung bzw. Identifikation mit den Aggressoren (Stockholm-Syndrom).

Der Inbegriff des kapitalistischen „Gehäuses“ aber ist das Kreuzfahrtschiff. Hier sind Arbeit, Wohnen, Freizeit und Konsum zum Isolationskontinuum zusammengefasst und nicht nur durch die Architektur, sondern vor allem durch die Unbewohnbarkeit der sie umgebenden Natur gegen das Außen abgeschottet.

Der (nicht als solcher gekennzeichnete) Epilog ist in Form einer zweispaltigen Zeitungsmeldung gesetzt.

Jörg-Uwe Albig wurde 1960 in Bremen geboren. Er studierte Kunst und Musik in Kassel.1983 bis 1985 besuchte er die Henri-Nannen-Journalistenschule in Hamburg. 1999 debütierte er mit dem Roman „Velo“ als Schriftsteller.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH

Das Stockholm-Syndrom

A. L. Kennedy - Als lebten wir in einem barmherzigen Land
A. L. Kennedy zeigt, dass es zwischen Gut und Böse eine breite Grauzone gibt. Sie lässt beide Hauptfiguren abwechselnd in der Ich-Form auftreten. "Als lebten wir in einem barmherzigen Land" ist keine mitreißende Lektüre, denn A. L. Kennedy inszeniert nichts. Stattdessen lässt sie Anna und Buster breit, detailreich und langatmig erzählen.
Als lebten wir in einem barmherzigen Land