Alan Bennett : Die souveräne Leserin
Inhaltsangabe
Kritik
Als die Queen mit ihren Hunden von einem Spaziergang zum Palast zurückkommt, rennen diese um eine Ecke herum und bellen. Die Queen geht ihnen nach und sieht zum ersten Mal den Bücherbus der Bezirksbibliothek der City of Westminster vor dem Küchentrakt stehen. Sie versucht, die Hunde zu beruhigen, die das Fahrzeug anbellen, und entschuldigt sich dann beim Fahrer, der auch die Bücher ausgibt, Mr Hutchings. Er komme jeden Mittwoch, erklärt er Ihrer Majestät. Bei dem jungen Mann, der sich gerade ein Buch über den Bühnenbildner und Fotografen Sir Cecil Walter Hardy Beaton ausleiht, handelt es sich um den Küchenjungen Norman Seakin.
Die Queen liest keine Bücher.
Sie hatte sich nie sehr fürs Lesen interessiert. Natürlich las sie, wie man das eben tat, aber Bücher gern lesen, das überließ sie anderen. Das war ein Hobby, und ihr Beruf brachte es mit sich, keine Hobbys zu haben. Jogging, Rosenzüchten, Modellflugzeuge. Nein. Hobbys bedeuteten Vorlieben, und Vorlieben mussten vermieden werden; sie schlossen bestimmte Menschen aus. Man hatte keine Vorlieben zu haben. Ihr Beruf verlangte, Interesse zu zeigen, aber keine Interessen zu haben.
Aber die Queen möchte Mr Hutchings auch nicht brüskieren. Deshalb nimmt sie ein Buch in die Hand, dessen Autorin sie geadelt hat: Dame Ivy Compton-Burnett. Das leiht sie aus.
Am nächsten Mittwoch bringt sie es zurück in den Bücherbus, wo sie auch wieder auf den Küchenjungen Norman trifft, der dieses Mal in einem Bildband über den Maler und Fotografen David Hockney blättert. Eigentlich hat sie nicht vor, ein weiteres Buch auszuleihen, aber dann fällt ihr Blick auf den Roman „Englische Liebschaften“ von Nancy Mitford.
Sie nimmt das Buch in die Hand. „Hat ihre Schwester nicht diesen Mosley geheiratet?“
Mr Hutchings sagte, er glaube schon.
„Und die Schwiegermutter einer weiteren Schwester war meine Oberhofmeisterin?“
„Darüber weiß ich nichts, Ma’am.“
„Und dann war da natürlich noch dieser eher traurige Fall, die Schwester, die ein Techtelmechtel mit Hitler hatte. Und eine wurde Kommunistin. Und dann, glaube ich, gab es noch eine andere. Aber das hier ist also Nancy?“
„Jawohl, Ma’am.“
Sir Kevin Scatchard, der aus Neuseeland stammende Privatsekretär Ihrer Majestät, wundert sich darüber, dass die Queen neuerdings Bücher liest und im Bücherbus ausleiht, obwohl es doch im Palast eine große Bibliothek gibt. Er glaubt, sie wolle sich die Zeit vertreiben, aber sie protestiert:
„Die Zeit vertreiben?“, fragte die Queen. „Bücher sind kein Zeitvertreib. Sie handeln von anderen Leben. Anderen Welten. Man will sich ganz und gar nicht die Zeit vertreiben, Sir Kevin, man wünscht sich im Gegenteil mehr davon.“
Und sie erklärt ihrem Privatsekretär den Unterschied zwischen Information und Literatur.
„[Information] ist im Grunde sogar der Gegenpol des Lesens. Information ist kurz, bündig und sachlich. Lesen ist ungeordnet, diskursiv und eine ständige Einladung. Information schließt ein Thema ab, Lesen eröffnet es.“
Auch der Herzog von Edinburgh schüttelt den Kopf, als er mit seiner Wärmeflasche an ihrer Schlafzimmertüre vorbeigeht und sie zum zweiten Mal beim Lesen eines Buches ertappt.
„Alles in Ordnung, altes Mädchen?“
„Natürlich. Ich lese.“
„Schon wieder?“
Es kommt noch schlimmer: Die Queen ordnet an, den belesenen Küchenjungen als Pagen einzukleiden und für den Dienst vor ihren Gemächern einzuteilen. Weil sie am nächsten Mittwoch keine Zeit hat, schickt sie Norman mit dem Auftrag zum Bücherbus, ihr ein Buch auszuleihen. Er bringt ihr „Mein Hund Tulip“ von J. R. Ackerley. Norman fällt auf, „wie scharf ihr Verstand [ist] und wie verschwendet an ihre Aufgaben“.
Nur wenn die Pflichterfüllung nicht darunter leidet, erlaubt die Queen sich ein Vergnügen. Aber die Repräsentationspflichten werden ihr lästig, weil die Pflichttermine sie vom Lesen abhalten.
Der Reiz des Lesens lag in seiner Indifferenz: Literatur hatte etwas Erhabenes. […] Bücher buckelten nicht. Alle Leser waren gleich, und das erinnerte sie an ihre frühen Lebensjahre. Einer der aufregendsten Momente ihrer Jugend war die Siegesnacht am Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen, als sie und ihre Schwester sich aus dem Palast geschlichen und unerkannt unter die feiernde Menge gemischt hatten. Etwas Ähnliches geschah beim Lesen, spürte sie. Es war anonym, gemeinsam und allgemein […] Auf diesen Seiten, zwischen diesen Buchdeckeln konnte sie unerkannt umherschweifen.
Sie nutzt jede Gelegenheit, um zu lesen und beherrscht bald die Kunst, aus ihrer geschlossenen Kutsche mit einer Hand huldvoll zu winken und mit der anderen unterhalb der Fensterkante ein Buch zu halten. Als sie zur Eröffnung des Parlaments gefahren wird, liest sie ein Buch von Anita Brookner. Bei der Ankunft in Westminster versteckt sie es hinter einem Polster. Nachdem sie das Regierungsprogramm des Premierministers vorgestellt hat, sucht sie in der Kutsche vergeblich nach dem Buch. Im Palast erkundigt sie sich nach dessen Verbleib. Der Sicherheitsdienst habe das verdächtigte Objekt entdeckt und gesprengt, heißt es.
Der Bücherbus wird abgeschafft, weil die Stadtverwaltung die Mittel kürzt, aber die Queen lässt sich von Norman Bücher aus der London Library bringen und sucht sich welche in ihrer eigenen Bibliothek aus.
Zugegeben, sie hatte eher furchtsam und mit Unbehagen zu lesen begonnen. Die schiere Unendlichkeit der Literatur hatte sie eingeschüchtert, sie wusste nicht, wie sie die Sache angehen sollte; ihre Lektüre folgte keinem System, ein Buch führte zum anderen, oft las sie zwei oder drei gleichzeitig. In der nächsten Phase hatte sie angefangen, sich Notizen zu machen, und bald schon las sie nie mehr ohne Bleistift.
Auch weiterhin reist die Queen durchs Land. Hofbeamte bereiten die Menschen, die in ihre Nähe gelassen werden, auf mögliche Gesprächsthemen vor. Aber statt die üblichen Fragen zu stellen – „Hatten Sie einen weiten Weg?“ –, erkundigt Ihre Majestät sich plötzlich: „Was lesen Sie denn gerade?“ Damit bringt sie die meisten Gesprächspartner in Verlegenheit. Allmählich spricht es sich jedoch herum, dass die Queen sich für Literatur interessiert.
Viele hofften auf ein […] Gespräch unter Gleichgesinnten, wenn sie sagten, sie läsen Harry Potter, aber darauf antwortete die Queen (die mit Fantasy nichts anfangen konnte) regelmäßig mit einem knappen „Ja, das hebe ich mir für Regentage auf“ und wandte sich rasch zum Gehen.
Statt Blumen überreichen ihr die Menschen nun Bücher. Darüber klagt eine Hofdame:
„Heutzutage bringen sie die Bücher mit, die sie gerade lesen, oder, man stelle sich vor, die sie schreiben, und wenn man das Pech hat, Dienst zu haben, braucht man praktisch einen Einkaufswagen. Wenn ich Romane durch die Gegend schieben wollte, wäre ich Buchhändlerin geworden. Ich fürchte, Ihre Majestät wird langsam ein bisschen schwierig, wie man so sagt.“
Eines Tages meint die Queen, es wäre doch amüsant, Autoren einzuladen, deren Bücher sie inzwischen kennt. Aber der Empfang ist eine Enttäuschung, denn auch schüchterne Schriftsteller werden in der Gruppe schwatzhaft und lassen es an Respekt gegenüber Ihrer Majestät fehlen, um ihre intellektuelle Unabhängigkeit zu demonstrieren.
Schriftsteller, so war ihr bald klar, begegnete man am besten auf den Seiten ihrer Bücher, und sie waren ebenso sehr Fantasiefiguren ihrer Leser wie ihre Romanhelden.
Während eines Sommeraufenthalts im Schloss Balmoral liest die Queen „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust und dazu die Proust-Biografie von George Painter.
Bei einem Staatsbesuch in Kanada lernt sie Alice Munro („Tricks“) kennen. Als sie zurückkommt, ist Norman nicht mehr da. Sir Kevin nutzte nämlich ihre Abwesenheit, um den Pagen, den man für die neue Leidenschaft der Königin verantwortlich macht, zum Literaturstudium an die Universität von East Anglia in Norwich abzuschieben.
Durch das Lesen von Romanen entwickelt die Queen die Fähigkeit, sich in die Lage anderer Menschen zu versetzen. Das bleibt nicht unbemerkt, aber die Hofbeamten halten das ungewohnte Mitgefühl der Queen für ein Zeichen ihrer Vergreisung, und als sich herumspricht, dass sie neuerdings auch Notizen macht, befürchtet man allgemein, dass sie an Alzheimer leidet und deshalb auf Gedankenstützen angewiesen ist. Anlass zur Sorge gibt auch die Beobachtung einer gewissen Verwahrlosung der Königin: Es kommt vor, dass sie innerhalb von zwei Wochen zweimal dasselbe Kleid trägt!
Nach einer Weile reduziert die Queen die Zahl der Bücher, die sie liest, schreibt jedoch umso mehr in ihre Notizhefte und denkt nach.
Lesen war nicht viel mehr als Zuschauen, Schreiben jedoch war Tun, und Tun war ihre Pflicht.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Zu ihrem 80. Geburtstag lädt sie alle, die ihr im Lauf der Jahrzehnte als Berater gedient haben, zum Tee ein. In einer kleinen Ansprache erklärt sie, die Zeit sei gekommen, den Schritt vom Lesen zum Schreiben zu vollziehen, es mindestens zu versuchen. Der Premierminister zuckt zusammen, pflichtet ihr jedoch bei:
„Ein Buch, Eure Majestät. Oh ja. Ja. Erinnerungen an Ihre Kindheit, Ma’am, an den Krieg, die Bombardierung des Palastes […]“
Die Queen stellt klar, dass sie nicht an eine Autobiografie denkt, sondern an ein ernstzunehmendes Buch. Da hält ihr der Regierungschef entgegen, kein regierender britischer Monarch habe jemals ein Buch geschrieben. Die Königin korrigiert ihn, verweist auf das Buch gegen die Ketzerei von Heinrich VIII., auf „Blätter aus dem Tagebuch der Königin Victoria“ und die Autobiografie ihres Onkels. Da hakt der Premier triumphierend ein:
„Ja, Ma’am, da stimme ich Ihnen zu, aber der entscheidende Unterschied ist doch, dass Seine Königliche Hoheit dieses Buch als Herzog von Windsor geschrieben hat. Er konnte es nur schreiben, weil er vorher abgedankt hatte.“
„Ach, habe ich das noch gar nicht gesagt?“, fragte die Queen. „Aber was glauben Sie denn, warum Sie alle hier sind?“
Bei der humorvollen Erzählung „Die souveräne Leserin“ von Alan Bennett handelt es sich um eine Hommage sowohl an Königin Elisabeth II. als auch das Lesen. Sigrid Löffler bezeichnete das Buch treffend als „funkelndes, geistreiches, pointensicheres Capriccio über die Kunst des Lesens und über eine ganz ungewöhnliche Leserin“. Alan Bennett veranschaulicht in satirischer Form die Sprengkraft der Literatur und nimmt die erstarrten Konventionen der Monarchie aufs Korn. Der Humor ist „very British“. Viele komische Szenen machen „Die souveräne Leserin“ zu einer vergnüglichen Lektüre.
Namen von Schriftstellern, die in „Die souveräne Leserin“ genannt werden: J. R. Ackerley, Jane Austen, Samuel Beckett, die Schwestern Brontë, Anita Brookner, Ivy Compton-Burnett, Charles Dickens, Jean Genet, Christopher Isherwood, Nancy Mitford, Alice Munro, Andy McNab, Vladimir Nabokov, Marcel Proust, Philip Roth, Joanna Trollope, Denton Welch, Virgina Woolf.
„Die souveräne Leserin“ wurde am 8. März 2007 in der englischen Literaturzeitschrift „London Review of Books“ veröffentlicht und erschien im Jahr darauf erstmals als Buch (Faber & Faber).
Die Erzählung „Die souveräne Leserin“ von Alan Bennett gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Jürgen Thormann (Regie: Hans-Gerd Koch, Düsseldorf 2008, 3 CDs, ISBN 978-3-491-91288-5).
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach
Königin Elisabeth II. (Kurzbiografie)