Arif Anwar : Kreise ziehen
Inhaltsangabe
Kritik
Burma / Ostbengalen, 1942
Die britische Ärztin Dr. Claire Louise Drake ist Stabsoffizierin am General Hospital von Rangun, als wegen der japanischen Besetzung Burmas Anfang März 1942 die Briten fortmüssen. Man bringt Claire, ihren Ehemann Theodore Drake und viele andere britische Offiziere mit einem Zug nach Chittagong in Ostbengalen.
Im April wird dort der japanische Leutnant Ichiro Washi eingeliefert, dessen Flugzeug über Chittagong abgeschossen wurde, als er Flugblätter abwarf. Das kleine Mädchen Rakhi Jaladas zerrte ihn aus dem brennenden Wrack und rettete ihm das Leben. Ein Offizier namens Selwyn drängt nun darauf, den an Händen und Füßen aufs Bett gefesselten schwer verletzten Kriegsgefangenen so rasch wie möglich ins Lager zu schaffen, um ihn dort einem strengen Verhör zu unterziehen. Aber Claire verhilft Ichiro zur Flucht und überredet den Fischer Hashim – nicht zuletzt mit einem Geldbündel –, den Japaner trotz eines aufziehenden Sturms über den Golf ins japanisch besetzte Burma zu bringen.
Als Hashim zurückkommt, wird er am Strand vor den Augen seines sechs oder sieben Jahre alten Sohnes Jamir von Selwyn erschossen.
Indien, 1946
Aufgrund der geplanten Unabhängigkeit Indiens steht die Abberufung des britischen Generaldirektors Theodore Drake in Kalkutta im August 1946 kurz bevor. Als Nachfolger hat er dem Vorstand des Unternehmens Britannia den 26 Jahre alten muslimischen Hauptbuchhalter Rahim Choudhury empfohlen, dessen fünf Jahre jüngere Ehefrau Zahira allerdings lieber in ihre Heimat Ostbengalen zurückkehren würde, denn die Hindus wollen die Muslime aus Indien verdrängen.
Auf der Rückfahrt von einer Unterredung mit Theodore Drake werden Rahim Choudhury und sein Chauffeur Motaleb von drei mit Bambusstangen bewaffneten jungen Männern angehalten. Die Hindus entführen Rahim. Motaleb eilt zur Villa (Choudhury Manzil) seines Chefs und überbringt dessen Ehefrau die Lösegeld-Forderung.
Zahira Choudhury ruft Theodore Drake an, und der sorgt dafür, dass Polizeiinspektor Vivek Nandi den Entführungsfall sofort übernimmt. Es stellt sich bald heraus, dass Motaleb ein Verräter ist und von den Hindus bezahlt wurde.
Indien / Ostbengalen, 1946
Nach seiner Rettung beschließt Rahim Choudhury, auf seine Frau zu hören und nach Ostbengalen zu ziehen. Er hat bereits Kontakt mit dem hinduistischen Zamindar in Chittagong aufgenommen, der es auf Choudhury Manzil in Kalkutta abgesehen hat und Rahim dafür seinen bisherigen Landbesitz überlassen möchte.
Im September 1946 packen Zahira und Rahim ihre Sachen. Sie verbringen eine Woche bei Zahiras Eltern in Mymensingh, bevor sie weiter nach Chittagong reisen. Auf die Frage seines Schwiegervaters Abu Bakar, was er in Chittagong machen wolle, antwortet Rahim:
„Zum Häusertausch gehören auch die gesamten Ländereien des alten Zamindar, an dessen Stelle ich trete, und das bedeutet Hunderte Bhiga an Pachtland, außerdem die Boote, die er wiederum an die örtlichen Fischer zu verpachten pflegte. Das will alles verwaltet werden.“
Abba, der muslimische Verwalter des Zamindars in Chittagong, empfängt seinen neuen Dienstherrn mit dem Vorschlag, die hinduistischen Fischer zu vertreiben und ihnen die Boote billig abzukaufen. Aber davon will Rahim nichts wissen. Ihm ist nicht entgangen, dass Abba mit seiner Frau Jamila und dem schätzungsweise zehnjährigen Sohn Manik nicht in einer Hütte wohnt, sondern in einem zweistöckigen Gebäude aus Ziegeln: Abba hat sich augenscheinlich bereichert.
„Kommen Sie mir noch einmal mit einem so niederträchtigen Vorschlag, und ich sorge dafür, dass Sie sich Ihr Brot fortan mühsam werden verdienen müssen. Falls das noch nicht klar geworden ist – ich bin nicht hergekommen, um mich an armen, verängstigten Hindus zu bereichern.“
Bangladesch, 1970
Im November 1970 befürchtet die Muslima Honufa in Chittagong das Heraufziehen eines schweren Sturms, der ihre Hütte fortreißen könnte. Ihr Ehemann, der Fischer Jamir, ist bereits im Morgengrauen auf einem Abbas gehörenden Trawler aufs Meer hinausgefahren. Während sie die zwei Hühner schlachtet, in Tontöpfe stopft und zusammen mit dem anderen Hab und Gut vergräbt, kommt ihre Freundin Rina und hilft ihr.
Rina bringt Honufas dreijährigen Sohn zum Zamindar Rahim Choudhury. Dort sucht sie mit ihm Zuflucht. Honufa soll nachkommen. Sie weiß, dass der Zamindar ein gütiger Mensch ist. Als sie noch ein Kind war und Rakhi Jaladas hieß, lehrte der Großgrundbesitzer sie lesen und schreiben. Jetzt will sie erst noch zum Grab ihres vor 18 Jahren tot geborenen Kindes.
Sie war damals mit einem vier Jahre älteren Studenten namens Siraj aus Dhaka zusammen gewesen. Als die 17-Jährige merkte, dass sie schwanger war und es ihm sagte, verschwand er. Der Moslem Jamir, den sie schon als Kind gekannt hatte, erklärte sich bereit, sie zu heiraten und das Kind wie sein eigenes anzunehmen. Rakhi Jaladas konvertierte zum Islam und nahm den Namen Honufa an. Aber die Dorfgemeinschaft stieß sie aus.
Die Dorfbewohner wandten sich an Rahim, der ihr in jener schweren Zeit stille Unterstützung und Zuspruch hatte zuteil werden lassen, und sprachen ein Ultimatum aus: Falls er Honufa weiterhin Protektion gewähre – der Frau, die einst als Rakhi Jaladas bekannt war, die außerhalb der Ehe schwanger geworden war und nun einen Mann mit einer anderen Religion heiratete, der nicht einmal Vater des Kindes war –, werde das Volk seinem Regiment das Vertrauen entziehen.
Einen Monat nach der Eheschließung gebar Honufa ein totes Kind.
Während sie trotz des aufziehenden Sturms dessen Grab aufsucht, befindet sich ihr Mann Jamir mit Kapitän Abbas, dessen Sohn Manik sowie den Deckarbeitern Gauranga und Humayun an Bord eines Trawlers. Abbas nimmt an, dass Jamir über einen ihn kompromittierenden Brief verfügt, den seine als Dienstmagd für Abbas‘ Familie arbeitende Frau Honufa vor zwei Monaten beim Abstauben der Bücherregale fand. Um das Schreiben zurückzubekommen, überwältigen und fesseln er und sein Sohn Manik den Fischer. Jamir gelingt es dennoch, sich über Bord zu wälzen und sich im Wasser von den Handfesseln zu befreien.
Absender des an Abbas in Chittagong adressierten Briefes war ein Mann namens Motaleb in Kalkutta. Dem Schreiben entnahm Honufa, dass Rahim Choudhury in Kalkutta entführt worden war, und zwar auf Initiative des damaligen Zamindars von Chittagong, der es auf Rahims Villa in Kalkutta abgesehen hatte. Weil Rahim mit der Entscheidung zögerte, schickte der Großgrundbesitzer seinen Verwalter Abbas nach Kalkutta. Der bestach den Chauffeur Motaleb und organisierte die Entführung Rahims. Dabei ging es weniger um das Lösegeld als um den Häusertausch: Rahim sollte sich in Indien nicht mehr sicher fühlen.
Honufa, die sich beim Rückweg vom Grab einen Fußknöchel verstaucht hat, schafft es nicht mehr bis zu Rahims Steinhaus. Um nicht vom Sturm hinweggefegt zu werden, bindet sie sich in der Krone einer kräftigen Palme fest.
Als das Auge des Zyklons Chittagong erreicht, schäumt unter ihr das Meerwasser. Von ihrer Hütte ist nichts übrig.
Da taucht Jamir auf. Er wurde von einem Fischer gerettet und überstand die erste Phase des Sturms in einer Höhle.
Nachdem sich Jamir und Honufa wie durch ein Wunder noch einmal gefunden haben, werden sie von einer meterhohen Welle ins Meer fortgerissen.
Mit ihnen kommt bei dem Zyklon im November 1970 eine halbe Million Menschen ums Leben.
USA / Bangladesch / Burma, 1993/94
Im August 1993 fliegt Shahryar („Shar“) Choudhury von London nach Washington, D. C., um sein Wirtschaftsstudium an der Georgetown University mit dem Master abzuschließen.
Seine muslimischen Eltern stammten aus Indien und waren nach dem Zerbrechen des von der Kolonialherrschaft befreiten Staates – 21 Jahre vor Shars Geburt im Jahr 1967 – nach Chittagong geflohen. Nach dem Bangladesch-Krieg im Dezember 1971 und der Teilung West- und Ostpakistans mussten sie Chittagong verlassen und siedelten sich mit ihm und dem Kindermädchen Rina in Dhaka an.
In Washington lernt er Valerie („Val“) Neider kennen, die dabei ist, ihren Master in Internationaler Entwicklung zu machen. Nach einem Jahr beabsichtigt sie, die intime Beziehung zu beenden. Aber bevor sie dazu kommt, mit ihm darüber zu reden, fliegt er nach Dhaka, weil sein Vater Rahim einen Herzinfarkt erlitt
Dort erfährt er nun, dass Rahim und Zahira Choudhury gar nicht seine leiblichen Eltern sind. Er ist der Sohn eines Fischers und dessen Frau, die bei dem Zyklon im November 1970 ums Leben kamen: Jamir und Honufa.
Während Shar nach Chittagong reist, um seinen Geburtsort zu sehen, stellt Val fest, dass sie von ihm schwanger ist. Shar erhält die Nachricht erst, als er nach mehreren Monaten von Chittagong nach Dhaka zurückkehrt. Zwei Wochen später fliegt er mit einem drei Monate gültigen Visum nach Washington.
USA, August – Oktober 2004
Auch nach der Geburt der Tochter Anna hielt Val nichts von einer Eheschließung mit Shar. Sie brach ihr Studium ab und absolvierte stattdessen eine kurze Ausbildung für Führungskräfte an der Drexel University in Philadelphia, wurde Wirtschaftsprüferin und avancierte schließlich bei einem Unternehmen in Maryland zur Finanzdirektorin.
Um in die USA zurückkehren und in der Nähe seiner Tochter sein zu können, bewarb Shar sich 1998 für ein Doktorat an der Sozialanthropologischen Fakultät der George Washington University und promovierte 2003.
Val zog 1998 mit Anna zu ihrem neuen Lebensgefährten Jeremy in McLean/Virginia.
Es fällt Shar zwar schwer, sich damit abzufinden, aber Val und Jeremy tun alles, um ihm die Situation zu erleichtern, und Anna liebt ihren leiblichen Vater ebenso wie ihren Stiefvater.
Seit der Promotion engagiert sich Shar als Forschungsanalytiker am Institut für Politischen Dialog, einem von der Regierung geförderten Thinktank, aber wenn sein verlängertes Studenten-Visum in drei Monaten abläuft, endet auch seine Anstellung.
Im September 2004 lernt Shar den auf Einwanderungsrecht spezialisierten Rechtsanwalt Faisal Ahmed und dessen Gehilfin Katerina kennen. Der Jurist verspricht ihm einen Job als Politikanalytiker und eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis in den USA, verlangt aber statt eines Honorars, dass Shar für ihn Dateien vom Bürocomputer des Institutsleiters Albert Volcker auf einen USB-Stick kopiert. Angeblich geht es ihm dabei um Informationen über einen von Senator Pablo Aguilar in Maryland forcierten Gesetzesentwurf zur Einwanderungspolitik.
„Wenn in diesem anstehenden Gesetzesentwurf irgendwas drinsteht, was meine Arbeit gefährden könnte, dann wüsste ich das natürlich gern.“
Tatsächlich konspiriert Faisal Ahmed mit Clarence Cummings, dem Attorney General von Maryland, der bei den bevorstehenden Wahlen gegen Senator Pablo Aguilar kandidieren will. Obwohl Shar von einem Freund gewarnt wird und herausfindet, dass der zwielichtige Anwalt wahrscheinlich bereits im Fokus der Staatsanwaltschaft steht, lässt er sich auf den Deal ein.
Kaum hat er Faisal Ahmed im Oktober 2004 den USB-Stick übergeben, wird der Anwalt festgenommen. Shar muss damit rechnen, dass das FBI auch den Datendiebstahl aufdeckt. Um sich in Sicherheit zu bringen, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die USA sofort zu verlassen.
Bangladesch / Myanmar, Oktober 2004
Zahira und Rahim holen ihn am Zia International Airport in Dhaka ab. Zwei Wochen später reisen sie zusammen nach Chittagong.
Dort überredet ihn der Thana Nirbahi Officer Sunil Das, also der oberste Verwaltungsbeamte auf Gemeindeebene, für das Amt des Kreisratsvorsitzenden zu kandidieren und sich für seinen Geburtsort zu engagieren.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In seinem Debütroman „The Storm“ / „Kreise ziehen“ spannt der in Bangladesch geborene, in Kanada lebende Autor Arif Anwar einen Bogen von 1942 bis 2004, vom Golf von Bengalen bis Nordamerika. Der Protagonist Shahryar Choudhury wurde wie Arif Anwar in Chittagong geboren. Neben ihm treten auf: Reiche und Arme, Muslime und Hindus in Indien, Burma (Myanmar) und Bangladesch, eine britische Militärärztin, ein japanischer Kampfpilot und eine Reihe von US-Bürgern.
Arif Anwar entwickelt die komplexe Geschichte vor dem Hintergrund historischer Ereignisse wie die Teilung des ehemaligen britischen Kolonialreichs Indien (1947) und die Spaltung Pakistans (1971/72). Auch der (Bhola-)Zyklon am 12. November 1970 spielt in „Kreise ziehen“ eine entscheidende Rolle.
Der Roman handelt von Familientragödien und von Menschen, die durch politische bzw. religiöse Konflikte aus ihrer Heimat vertrieben werden.
Arif Anwar hat den Roman „Kreise ziehen“ in drei Teile – Zusammenbrauen, Im Auge, Sturmflut – und einen Epilog gegliedert. Indem er zwischen fünf Zeitebenen, verschiedenen Handlungssträngen und den Perspektiven der acht Hauptfiguren hin und her springt, schafft er Cliffhanger und hält die Spannung hoch, weil die Leserinnen und Leser erfahren möchten, wie es zu bestimmten Situationen gekommen ist. Nach und nach setzt sich aus den miteinander verwobenen Geschichten ein farbiges Gesamtbild zusammen.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach