Sebastian Barry : Tausend Monde

Tausend Monde
A Thousand Moons Faber and Faber, London 2020 Tausend Monde Übersetzung: Hans-Christian Oeser Steidl Verlag, Göttingen 2020 ISBN 978-3-95829-775-3, 256 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Das ungefähr 17 Jahre alte, kluge und mutige Lakota-Mädchen Ojinjintka, das von den schwulen Adoptiveltern den leichter auszusprechenden Namen Winona bekommen hat, muss sich in der rassistischen Gesellschaft des Staates Tennessee in Acht nehmen. Nachdem sie vergewaltigt wurde und jemand den Verdächtigen ermordete, verurteilt das Gericht Winona zum Tod durch den Strang ...
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Kritik

Sebastian Barry präsentiert in "Tausend Monde" ein düsteres Bild der USA nach dem Bürgerkrieg: Weiße gegen indigene Völker, Rassisten gegen Afroamerikaner, Unionisten gegen Konföderierte. Er entwickelt nicht nur eine ungewöhnliche Geschichte mit Versatzstücken eines Westerns, sondern schreibt auch in einer eigenen Prosa abseits der Alltagssprache.
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Was bisher geschah: „Tage ohne Ende“

Winona Cole

Nachdem die beiden schwulen Unionssoldaten John Cole und Thomas McNulty 1865 aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg zurückkehrten und sich im Jahr darauf kirchlich trauen ließen, zieht das Paar mit seiner Adoptivtochter Winona Cole nach Tennessee, wo sie dem Freund Eljah („Lige“) Magan auf der kleinen Farm außerhalb von Paris im Henry County helfen, die er mit seiner Frau Rosalee und deren Bruder Tennyson Bouguereau betreibt, einem freigelassenen afroamerikanischen Geschwisterpaar, das vor dem Krieg noch versklavt war.

Winona heißt eigentlich Ojinjintka, aber diesen Namen fanden die Adoptiveltern John Cole und Thomas McNulty unaussprechlich und sie gaben der verwaisten Nichte des Lakota-Häuptlings Caught-His-Horse-First den Namen seiner von John Cole versehentlich erschossenen Tochter. Als sie sechs oder sieben Jahre alt gewesen war, hatten Unionssoldaten die Mutter, die ältere Schwester, die Cousinen und Tanten in Wyoming getötet. Seither sind zehn Jahre vergangen.

Könnte sein, dass ich von Dingen rede, die sich 1873 oder 1874 im Henry County, Tennessee, zugetragen haben, doch was Daten betrifft war ich noch nie verlässlich. Und falls sie sich zugetragen haben, gab es zu der Zeit keine wahrheitsgetreue Darstellung. Es gab nackte Tatsachen und eine Leiche, und dann gab es die wahren Ereignisse, die niemand kannte. Dass Jas Jonski getötet wurde, war die nackte Tatsache. Auch andere wurden getötet, doch deren Mörder waren bekannt. Wer hatte ihn getötet? Eine Weile war das die große Frage in der Stadt. Länger als Sie denken. Vielleicht reden sie heute noch darüber, dort unten in Paris, Tennessee. Wenn ich behauptete, dass im Folgenden die wahren Ereignisse geschildert werden, sollten Sie bedenken, dass sie in großem zeitlichem Abstand zum Geschehen geschildert werden. Und dass es niemanden mehr gibt, der meiner Schilderung zustimmen oder widersprechen könnte. Einigen Dingen würde ich am liebsten selbst widersprechen, denn ich sage mir: Kann es wirklich so gewesen sein, und habe ich das wirklich getan? Aber durch den Morast der Erinnerungen führt meist nur ein Weg.

Anwalt Briscoe

In Tennessee wird ein Lakota-Mädchen wie Winona nicht als menschliches Wesen angesehen, sondern als rechtlose Wilde, und einer allgemeinen Meinung zufolge lässt sich die native Bevölkerung auch nicht zivilisieren.

Der etwa 60 Jahre alte Anwalt Briscoe teilt diese Auffassung nicht: Er stellt Winona für Büroarbeiten ein. Seit seine Frau mit den sieben Kindern nach Boston zurückgekehrt ist, führt ihm Lana Jane Sugrue den Haushalt, und ihre zwei Brüder Joe und Virg Sugrue, die sie mit ins Haus des Anwalts gebracht hat, helfen wo immer sie können.

Jas Jonski

Der weiße Verkäufer James („Jas“) Henryk Jonski umwirbt Winona, und sie verliebt sich in ihn. Gegen den Willen seiner in Nashville lebenden rassistischen Mutter möchte er Winona heiraten und betrachtet sie als seine Verlobte.

Aber nachdem Winona mit blutiger Vulva, Prellungen und Quetschungen aus Paris auf die Farm zurückgekehrt ist, lässt sie Rosalee Bouguereau nicht weiter am halbfertigen Hochzeitskleid schneidern, denn sie verdächtigt Jas Jonski, sie in Frank Parkmans Mietstall vergewaltigt zu haben. Allerdings kann sie sich nur noch daran erinnern, mit ihm aus dem Lagerbestand seines Arbeitgebers gestohlenen Whiskey getrunken zu haben. Was sonst geschah? Sie erinnert sich nicht mehr daran.

Zwei Wochen später reitet Jas Jonski zu Lige Magans Farm und fragt nach seiner „Verlobten“. Die Männer sperren ihn ein, aber als er schwört, dass er Winona nichts angetan habe, lassen sie ihn laufen.

„Nachtreiter“

Sicherheitshalber schneidet sich Winona das lange schwarze Haar ab, schnürt den Busen ein und verkleidet sich als Junge, wenn sie zu Briscoe reitet, um für ihn Berechnungen durchzuführen.

Tennyson Bouguereau wird auf dem Weg zwischen Paris und der Farm fast totgeschlagen.

Colonel Purton behauptet, Tennyson Bouguereau sei von Zach Petries Bande überfallen worden und erhält auf diese Weise die schriftliche Genehmigung für einen Angriff auf das Lager der „Nachtreiter“ genannten Rebellen am West Sandy Creek.
Winona reitet den 200 Männern des Colonels auf einem Maultier nach, und Tennyson Bouguereau hat ihr seinen Karabiner mitgegeben.

Während die Angreifer die Banditen im Schlaf überraschen, trifft Winona auf ein anderes Indianer-Mädchen, das auf sie schießt und sie in die Schulter trifft. Aber die Schützin stürzt gleich darauf in einen über den Fluss hängenden Busch und droht, von den Fluten mitgerissen zu werden. Trotz der schmerzhaften Verletzung zieht Winona sie auf den festen Boden.

Peg – so heißt das gerettete Indianermädchen – ist ebenso verwaist wie Winona. Als ihre Eltern noch lebten, ritten sie für den Partisanenführer William Clark Quantrill.

In Frank Parkmans Mietstall kommt Winona wieder zu sich. Zuerst heißt es, Männer des Colonels hätten die Verletzte bewusstlos auf der Straße nach Nashville entdeckt. Dann wird behauptet, der zu den Nachtreitern gehörende Wynkle King habe sie gerettet und nach Paris gebracht.

Jas Jonski kommt mit Dr. Memucan Tharp in den Mietstall. Als der Arzt sieht, das es sich bei der Verletzten um eine Indianerin handelt, sieht er zunächst keinen Grund, ihr zu helfen, aber nachdem ihm Jas Jonski eine entsprechende Bezahlung zugesichert hat, schneidet er ihr dann doch die Kugel aus der Schulter und näht die Wundränder zusammen.

Die Nachtreiter setzen das Haus des Anwalts Briscoe in Brand. Der beschließt noch während der Löscharbeiten einen Wiederaufbau, ernennt Winona zur Bauleiterin und richtet sich mit Lana Jane Sugrue und ihren Brüdern notdürftig in seiner Scheune ein.

Das Maultier, mit dem Winona der Kolonne des Colonels gefolgt war, ist zwar zur Farm zurückgebracht worden, aber das Tennyson Bouguereau gehörende Gewehr steckte nicht mehr im Holster. Winona sucht danach und fragt sich erst einmal zu Wynkle King durch, wobei sie feststellt, dass zwei verwahrloste Personen den gleichen Namen tragen: Vater und Sohn. Der Senior behauptet, sie gerettet und den Karabiner als Entgelt genommen zu haben. Als Winona ihn auffordert, ihr die Waffe zurückzugeben, erklärt er hämisch, er habe sie Zach Petrie verkauft.

Um das Gewehr zu holen, reitet Winona erneut zum Lager der Bande. Glücklicherweise stößt sie dort ebenso wie beim ersten Mal auf Peg, bevor die inzwischen aufgestellten Wachen sie bemerken. Weil Zach Petrie nicht da ist, führt Peg Winona zu dessen Vertreter Aurelius Littlefair, der bereitwillig mit ihnen zur Waffenkammer geht, wo Winona den markanten Karabiner mit dem eingravierten Namen Luther auch tatsächlich findet. Ob „er“ so heiße, fragt Aurelius Littlefair, der Winona für einen Jungen hält. Gedankenlos antwortet sie, nein, das Gewehr habe Lige Magans Vater Luther gehört. Das hätte sie besser nicht gesagt, denn bei einem Überfall auf die Farm wurde Zach Petries Bruder Tach erschossen. Bevor Aurelius Littlefair etwas unternehmen kann, packt Winona das Gewehr und rennt zu ihrem Maultier. Peg folgt ihr, und sie fliehen zu zweit.

Winona gibt Tennyson Bouguereau das Gewehr zurück, und mit Peg gewinnt die Farm eine weitere tüchtige Hilfskraft.

Später findet Winona heraus, dass Tennyson Bouguereau nicht von Nachtreitern, sondern von Colonel Purtons Männern zusammengeschlagen wurde, der sich damit einen Vorwand verschaffte, um Zach Petries Lager angreifen zu können.

Der Mord

Als Sheriff Flynn mit seiner Frau nach Jacksonville/Florida zieht, folgt ihm Frank Parkman im Amt, und fast zur gleichen Zeit wird Aurelius Littlefair zum Richter des Henry County ernannt.

Der Anwalt Briscoe setzt sich dafür ein, dass Tennyson Bouguereau an der Fisk Free Colored School in Nashville studieren kann. In der Nacht, die Tennyson Bouguereau bei einem Freund in Paris verbringt, um am Morgen den Zug nach Nashville zu nehmen, wird Jas Jonski ermordet.

Colonel Purton reitet am Morgen danach zur Farm, befragt Winona und berichtet, dass Sheriff Parkman sie verdächtigt, Jas Jonski mit zwanzig Messerstichen getötet zu haben.

Als er fort ist, gesteht Peg, sie habe sich in der Nacht aus dem Bett der schlafenden Geliebten geschlichen und sei nach Paris geritten, um Winonas Vergewaltigung zu rächen. Von zwei jungen Männern erfuhr sie, wo Jas Jonski wohnte. Aber als sie dort durchs Fenster spähte, lag Jas Jonski bereits blutüberströmt auf dem Bett. Daraufhin kehrte sie zur Farm zurück und legte sich wieder neben Winona.

Winona schärft Peg ein, das für sich zu behalten, denn sie befürchtet, dass man sonst Peg zum Tod durch den Strang verurteilen würde, und das wäre für sie mindestens ebenso furchtbar, wie selbst hingerichtet zu werden.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Spoiler

Sheriff Parkman nimmt Winona bei Briscoe fest, und der Anwalt bereitet ihre Verteidigung vor. Aber als zwei Zeugen eine Woche später vor Gericht aussagen, dass eine Indianerin sie in der Mordnacht gefragt habe, wo Jas Jonski wohne und auf die Angeklagte deuten, kann er einen Schuldspruch der Geschworenen nicht mehr verhindern, und Richter Aurelius Littlefair verurteilt Winona zum Tod durch den Strang.

Nach der Gerichtsverhandlung kommt Frank Parkman zu Winona in die Zelle. Ob sie sich wirklich nicht daran erinnere, was passierte, als sie mit Jas Jonski Whiskey trank, fragt er hämisch und klärt sie dann darüber auf, dass er sie auf dem Heuboden des Mietstalls festhielt, während sein Freund sie gewaltsam penetrierte.

Es drängt ihn, ihr auch die Wahrheit über den Mord zu verraten, und weil er nicht daran zweifelt, dass Winona in wenigen Tagen hingerichtet wird, hält er es für unbedenklich. Jas Jonski wurde von der eigenen Mutter getötet! Die Geisteskranke brach aus dem Tennessee Lunatic Asylum in Nashville aus und ritt nach Paris, um die Eheschließung ihres Sohnes mit einer Indianerin zu verhindern. Sie erstach ihn, schnitt ihm das Herz heraus und aß es. Als Frank Parkman dazu kam, meinte sie, sie habe ihren Sohn befreit und seine Seele gerettet. Der Sheriff brachte die Mutter seines Freundes daraufhin nach Nashville zurück, statt sie festzunehmen. Weil aber jemand für den Mord büßen muss, sorgte er wider besseren Wissens für Winonas Verurteilung.

Sein Deputy Wynkle King junior, der gerade von der Toilette zurückkommt, hört das Geständnis und erklärt, dass er nicht bereit sei, die Ungerechtigkeit hinzunehmen. Er zieht seinen Revolver. Frank Parkman meint, er werde es nicht wagen, auf den Sheriff zu schießen und zielt mit seiner Waffe auf Wynkle Kings Brust. Der drückt ab. Frank Parkman wird tödlich getroffen, kann aber auch noch einen Schuss abfeuern und Wynkle King töten.

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Mit „Tausend Monde“ setzt der irische Schriftsteller Sebastian Barry seinen Roman „Tage ohne Ende“ fort, aber wer den älteren Roman nicht gelesen hat, kann auch ohne Vorkenntnisse in den neuen eintauchen.

In beiden Büchern präsentiert Sebastian Barry ein düsteres Bild der USA im 19. Jahrhundert: Weiße gegen indigene Völker, Rassisten gegen Afroamerikaner, Unionisten gegen Konföderierte.

Nachdem Sebastian Barry in „Tage ohne Ende“ den schwulen Iren Thomas McNulty als Ich-Erzähler auftreten ließ, überlässt er in „Tausend Monde“ dem ungefähr 17 Jahre alten Lakota-Mädchen Ojinjintka das Wort, das von den schwulen Adoptiveltern den leichter auszusprechenden Namen Winona bekommen hat.

Winona ist klug und mutig. In „Tausend Monde“ geht es um ihre Identitätsfindung in einer Gesellschaft, die Nachfahren von Sklaven und Angehörige indigener Völker nicht als menschliche Wesen wahrnimmt, sondern als rechtlose Wilde, die sich nicht zivilisieren lassen. Nachdem sie von einem Mann vergewaltigt wurde, beginnt sie eine lesbische Liebesbeziehung mit einem anderen Indianermädchen. Aber ihr Glück ist von kurzer Dauer, denn ein Gericht verurteilt sie zu Unrecht wegen Mordes zum Tod durch den Strang. und sie muss sich auf ihre Hinrichtung in wenigen Tagen gefasst machen.

Sebastian Barry entwickelt in „Tausend Monde“ nicht nur eine ungewöhnliche Geschichte mit Versatzstücken eines Westerns, sondern schreibt auch in einer eigenen Prosa abseits der Alltagssprache.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Steidl Verlag

Sebastian Barry (kurze Biografie)

Sebastian Barry: Tage ohne Ende

Kai Weyand - Applaus für Bronikowski
Kai Weyand wechselt in der leise-melancholischen Tragikomödie "Applaus für Bronikowski" zwischen Ernst und Slapstick. Skurril sind nicht nur die Romanfiguren, sondern auch die Szenen, die Kai Weyand lako­nisch-beiläufig veranschaulicht.
Applaus für Bronikowski

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.