Christian Berkel : Der Apfelbaum
Inhaltsangabe
Kritik
Die Familien
Der Berliner Barbier Otto Joos fällt im Mai 1915 in der Schlacht von Gorlice-Tarnów und erlebt nicht mehr, wie seine Ehefrau Anna in Berlin den Sohn Otto zur Welt bringt. Die Witwe hat bereits eine sieben Jahre alte Tochter aus ihrer ersten Ehe, aber Ernas Vater Wilhelm hatte sich erhängt. Bald nach Ottos Tod heiratet Anna ein drittes Mal, und zwar den arbeitslosen Maurer Karl, der mit ihr die Tochter Ingeborg zeugt.
Annas Sohn Otto gerät durch seinen Freund Roland in eine kriminelle Bande, und im Alter von 17 Jahren begegnet er 1932 bei einem Einbruch der vier Jahre jüngeren Ursula („Sala“) Nohl, die allein zu Hause ist und ihn nicht verrät, als die Polizei anrückt. Daraufhin beschließt Otto, sich zu ändern. Durch Zufall macht er die Bekanntschaft von Salas Vater Johannes („Jean“) Nohl und sieht dadurch auch Sala wieder. Die beiden Jugendlichen verlieben sich, und auch Jean ‒ ein gebildeter, homosexueller Atheist ‒ fühlt sich zu Otto hingezogen, tritt aber zugunsten seiner Tochter zurück.
Salas Mutter Isabella („Iza“) Prussak stammt aus Łódź. Sie ist die älteste Tochter des Tuchfabrikanten Leijb Prussak und seiner Ehefrau Alta. Izas jüngste Schwester, Cesja, lebt in Buenos Aires. Lola, die mittlere der drei Schwestern, hat sich in Paris als Modeschöpferin einen Namen gemacht („La Prusac“). Iza selbst studierte Medizin in Bern und entwickelte sich dort zu einem selbstbewussten, emanzipierten Freigeist. In der alternativen pazifistischen Künstlerkommune am Monte Verità im Tessin lernte sie Johannes Nohl kennen, der dort seit 1907 mit seinem Gefährten, dem anarchistischen Aktivisten und Schriftsteller Erich Mühsam lebte. Die Tochter eines orthodoxen jüdischen Ehepaars ließ sich auf eine Dreiecksbeziehung ein und heiratete Johannes 1918 in Ascona. Zu diesem Zeitpunkt hatte das Paar bereits einen Sohn (Friedrich August Nohl). Als die 1919 geborene Tochter Sala zwei oder drei Jahre alt war, zog die Familie Nohl nach Berlin. Bald darauf brannte Iza mit dem 20 Jahre jüngeren jüdisch-ungarischen Maler Tomás Maloney nach Madrid durch.
Madrid und Paris
Otto beginnt 1934 in Berlin Medizin zu studieren. Die Nürnberger Rassengesetze vom September 1935 machen eine Eheschließung mit der „Halbjüdin“ Sala unmöglich. Schlimmer noch: Die intime Beziehung eines „Ariers“ mit einer Jüdin steht nun als „Rassenschande“ unter Strafe, und das Paar muss sich vor Ottos nationalsozialistischem Schwager Günter – dem Ehemann seiner jüngeren Schwester Ingeborg – in Acht nehmen.
Weil Iza befürchtet, dass ihre Tochter von den Nationalsozialisten verfolgt werden könnte, lädt sie die 17-Jährige 1937 nach Madrid ein. Sala würde lieber erst noch das Abitur machen, aber ihr Vater hält das Abitur für nutzlos, weil Sala unter der NS-Herrschaft ohnehin nicht studieren dürfte.
Iza betätigt sich in Madrid als Kunsthändlerin, denn ihr medizinischer Abschluss wird in Spanien nicht anerkannt. Sie und ihre Tochter vertragen sich nicht. Deshalb reist Sala bald weiter nach Paris, zu ihrer Tante Lola und ihrem Onkel Robert, einem Biologie-Professor. Lola arbeitet für das Unternehmen Hermès, und zu ihren Kundinnen gehört auch Wallis Simpson, die Herzogin von Windsor.
Sala beginnt an der Sorbonne Französisch und Spanisch zu studieren. Kurz nachdem sie den DPA-Journalisten Hannes Reinhard in Paris kennengelernt hat, kommt Otto Nohl zu einem kurzen Besuch ‒ ein Stabsarzt in Wehrmachtsuniform.
Lager Gurs
Lola verschafft ihrer Nichte einen Kontakt in Marseille. Sala wird jedoch unterwegs verraten, festgenommen und in das von der Vichy-Regierung eingerichtete Internierungslager Gurs nördlich der Pyrenäen gebracht. Unter den harten Bedingungen sterben viele, und Überlebende werden nach Auschwitz deportiert.
Zur selben Zeit sitzt Iza Prussak ebenso wie Tomás Maloney auf der anderen Seite der Pyrenäen in einer Todeszelle, weil die beiden im Spanischen Bürgerkrieg gegen General Francisco Franco kämpften. Fünf Jahre lang müssen sie mit ihrer Hinrichtung rechnen, dann kommen sie frei.
Sala gelingt nach einem Jahr und acht Monaten die Flucht aus Gurs. Ohne Papiere sitzt sie in einem Zug nach Leipzig. Mit ihr im Abteil reist das Ehepaar Ingrid und Ernst Kerber. Bei der Grenzkontrolle simuliert Ernst Kerber eine Herzattacke, und seiner resoluten Frau gelingt es, die Soldaten so einzuschüchtern, dass sie es aufgeben, nach den Pässen zu fragen.
Leipzig
Nach der Ankunft in Leipzig bricht Sala zusammen. Als sie zu sich kommt, erfährt sie von Dr. Wolffhardt, dass sie sich in der Frauenklinik befindet. Seine Ehefrau Maria leitet die zugehörige Schwesternschule, und die beiden sorgen dafür, dass Sala dort aufgenommen wird. Das Zimmer teilt sie sich mit der Schwesternschülerin Mopp Heinecke, die zu einer engen Freundin wird. Das Ehepaar Wolffhardt besorgt Sala auch gefälschte Ausweisdokumente auf den Namen Christa Meyerlein.
Während eines Luftangriffs beobachtet Sala, dass Maria Wolffhardt etwas versteckt. Minuten später werden Maria und ihr Mann von einer einstürzenden Hausfassade erschlagen.
Sala findet die drei von Maria Wolffhardt versteckten Aktenordner. Sie enthalten Dokumente über die Kinderklinik Leipzig-Dösen, die beweisen, dass Patienten im Rahmen des Euthanasie-Programms der Nationalsozialisten ermordet werden. In der Hoffnung, dass Hannes Reinhard das Verbrechen publik machen kann, wendet Sala sich an den DPA-Journalisten in Paris, und er kommt zu ihr nach Leipzig. Sie schlafen miteinander.
Kurz darauf sehen sich Sala und Otto nach vier Jahren während eines kurzen Fronturlaubs des Stabsarztes erstmals wieder. Auch mit ihm schläft Sala.
Einige Zeit später stellt sie entsetzt fest, dass sie schwanger ist. Die todkranke Patientin Erika Diebuck, die viel von Sala hält, sorgt dafür, dass ihr Ehemann Prof. Dr. Jürgen Diebuck, der Leiter der Kinderklinik Leipzig-Dösen, Kontakt mit der Pflegekraft aufnimmt. Er durchschaut, dass „Christa“ Jüdin ist und schlägt ihr eine Abmachung vor: Wenn sie seine Frau bis zum letzten Atemzug pflegt und ihm schriftlich bescheinigt, dass er Juden geholfen habe, hilft er ihr bei einer Abtreibung oder Geburt. Obwohl Sala weiß, dass Diebuck Kinder ermordet hat, lässt sie sich darauf ein, und im Februar 1945 bringt sie ihre Tochter Ada zur Welt. Dabei stellt sich heraus, dass sie mit Zwillingen schwanger war. Aber der zweite Fetus starb im Mutterleib (Fetus Papyracaeus). Bis zum Kriegsende versteckt Diebuck Mutter und Kind in seiner Villa, um dann behaupten zu können, er habe sich unter Lebensgefahr für Juden eingesetzt.
Buenos Aires
Während Otto 1945 in russische Kriegsgefangenschaft gerät, kommen Sala und Ada bei Freunden ihres Vaters unter, dem Maler Erich Blocher und seiner Frau Kläre. (Auf Seite 114 nennt Christian Berkel ihn Walter, auf Seite 322 Erich.)
Als Ada zwei Jahre alt ist, reist Sala mit ihr nach Madrid, aber sie gerät erneut mit ihrer Mutter Iza in Streit und sucht deshalb 1947 Zuflucht bei Izas Schwester Cesja und deren Ehemann Max in Buenos Aires.
Zunächst findet sie eine Anstellung als Erzieherin der fünfjährigen Zwillinge Diego und Juanita. Die Mutter Mercedes stammt aus einer der bedeutendsten Rinderzüchter-Familien des Landes, der Vater German ist Architekt. Mit ihrem Netzwerk sorgen Mercedes und German dafür, dass Sala und Ada nicht nur katholisch getauft werden, sondern auch die argentinische Staatsbürgerschaft erhalten. Allerdings verlangt Mercedes, dass Ada in ein katholisches Klosterinternat gebracht wird. Und einige Monate später kommt es zu einem Zerwürfnis zwischen Sala und ihren Arbeitgebern.
Johannes Nohl, der wegen seiner Homosexualität im „Dritten Reich“ Zwangsarbeit in den Siemenswerken in Berlin-Spandau verrichten musste, zieht nach dem Krieg in die DDR, nach Leipzig. 1950 heiratet er die Schauspielerin, Bildhauerin und Schriftstellerin Dora („Dorle“) Wentscher, die 1946 aus dem Exil in Moskau nach Weimar zurückkehrte und ihre lesbische Lebensgefährtin als Hausangestellte in die neue Partnerschaft mitbringt.
Otto Nohl schreibt Sala nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft im Jahr 1950, er werde ihr nicht nach Argentinien nachreisen, zweifle die Vaterschaft an und werde in Kürze in Berlin eine Frau namens Waldtraut heiraten. Er kündigt bei der Charité, wo er seinen Facharzt gemacht hat und übernimmt die HNO-Praxis des Arztes Dr. Lechlein.
Sala arbeitet inzwischen als Hausangestellte für ein exaltiertes Paar, die Malerin Isabella und den Staatsanwalt Antonio. Nachdem Ada gesehen hat, wie der Mann mit einem Küchenmesser auf seine hysterische Frau losging, will sie weg aus Argentinien.
Rückkehr nach Berlin
Im Herbst 1954 kehrt die inzwischen 35-jährige Mutter mit ihrer neunjährigen Tochter nach Deutschland zurück.
Die Juan de Garay legte im Hamburger Hafen an. […] Als die Brücke heruntergelassen wurde, traten die Passagiere in freudiger Erschöpfung an die Reling. Aufgeregt rannte Ada los. Gierig, als Erste von Bord zu gehen, drängelte sie sich an den Erwachsenen vorbei, setzte zum Sprung an, und noch ehe die Brücke ganz heruntergelassen war, wurde Ada von einer fremden Hand gepackt und mitten im Sprung mit einem heftigen Ruck zu Boden gerissen. Eine trockene Ohrfeige, ein paar kratzige Laute, die sie nicht verstand, ließen sie zurückweichen. […] Ihr erster Schritt auf deutschem Boden war ein Schritt auf Feindesland. […] Das war das Land der Erwachsenen, und sie war gestrandet.
Fürs Erste nimmt Mopp Heinecke die Freundin mit der Tochter auf – und drängt Sala, Ottos Anschluss im Telefonbuch zu suchen. Sala ruft ihn an, und die beiden verabreden sich im Café „Kranzler“.
Christian Berkel
Jahrzehnte später besucht Christian Berkel regelmäßig seine Mutter Sala in Berlin. Seinen Roman beginnt er mit einer solchen Besuchsszene, in der ihm Sala erzählt, sie sei vor kurzem mit Carl Benz verheiratet gewesen und der habe ihr vor seinem Tod zwei Millionen Euro überwiesen. In der Bankfiliale stellt sich allerdings heraus, dass der Kontostand gerade einmal 3766 Euro geträgt. Die alte Dame ist dement, aber zwischendurch erinnert sie sich an frühere Zeiten – und Christian Berkel hört aufmerksam zu, denn er hat sich vorgenommen, ein Buch über die Familiengeschichte zu schreiben.
Die Eltern lebten zwei Jahrzehnte lang in Andalusien. Erst nach Ottos Tod kehrte die Witwe Sala nach Berlin zurück.
Bei seinen Recherchen liest Christian Berkel das Buch, das der Erziehungswissenschaftler Peter Dudek über seinen Grossvater und dessen Bruder geschrieben hat: „Ein Leben im Schatten. Johannes und Herman Nohl – zwei deutsche Karrieren im Kontrast“ (Verlag Julius Klinkhardt, Bad Heilbrunn 2004).
Er reist auch nach Łódź, um mehr über seine Vorfahren herauszufinden.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)In seinem Debütroman „Der Apfelbaum“ erzählt Christian Berkel die Geschichte seiner Familie bis kurz vor seiner Geburt im Jahr 1957. Dabei kommen zwei Glücksfälle zusammen: Der Schauspieler hat Außergewöhnliches zu erzählen und zeigt mit „Der Apfelbaum“, dass er auch als Schriftsteller zu den Hochbegabten zählt.
Seine aus einer orthodoxen jüdischen Familie stammende freigeistige Großmutter Iza Prussak heiratet 1918 den gebildeten Atheisten Johannes Nohl, der dort seit Jahren mit seinem anarchistischen Gefährten Erich Mühsam in der alternativen pazifistischen Künstlerkommune am Monte Verità im Tessin lebt und später wegen seiner Homosexualität von den Nationalsozialisten zu Zwangsarbeit verurteilt wird, zu einer Zeit, als die inzwischen von ihm geschiedene Ärztin Iza Prussak fünf Jahre lang in einer Todeszelle mit ihrer Hinrichtung rechnen muss, weil sie im Spanischen Bürgerkrieg gegen General Franco kämpfte. Die Hauptfigur in „Der Apfelbaum“ ist Christian Berkels Mutter Sala, die Tochter von Iza Prussak und Johannes Nohl. Diese starke Frau flieht vor den Nationalsozialisten zunächst nach Madrid, dann nach Paris, kann aus einem Internierungslager der Vichy Regierung entkommen und taucht dann mit ihrer Tochter bei einem am Euthanasieprogramm des NS-Regimes mitwirkenden Kinderarzt in Leipzig unter. Von 1947 bis 1954 leben Mutter und Tochter in Buenos Aires, dann kehren sie nach Deutschland zurück, und Sala nimmt Kontakt mit dem Berliner HNO-Facharzt Otto Berkel auf, den sie in den Dreißiger Jahren wegen der Nürnberger Rassegesetze nicht hatte heiraten können.
Wenn das kein Stoff ist!
„Der Apfelbaum“ beginnt mit einem Besuch des Ich-Erzählers Christian Berkel bei seiner im Alter dementen Mutter Sala. Auch zwischendurch tritt dieser Ich-Erzähler auf, aber zumeist inszeniert er das Geschehen in Rückblenden. Schon dieser elegante Wechsel der Erzählweisen hebt den Roman weit über den Durchschnitt hinaus.
Eine Analyse der zeitgeschichtlichen Zusammenhänge ist in dem Roman „Der Apfelbaum“ nicht das Thema. Christian Berkel kommt es auf eine packende Dramaturgie, eine farbige Inszenierung und lebensnahe Dialoge an. Dabei leuchtet er die Gefühle und Gedanken der Romanfiguren intensiv aus.
Wenn „Der Apfelbaum“ endet, ist Christian Berkel noch gar nicht geboren. Bei seiner älteren Schwester Ada handelt es sich um eine fiktive Figur, die in der Fortsetzung „Ada“ zur Ich-Erzählerin wird.
Den Roman „Der Apfelbaum“ von Christian Berkel gibt es auch als Hörbuch, und selbstverständlich liest er selbst.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Ullstein Buchverlage
Christian Berkel: Ada