Sorj Chalandon : Am Tag davor

Am Tag davor
Le Jour d'avant Bernard Grasset, Paris 2017 Am Tag davor Übersetzung: Brigitte Große dtv Verlagsgesellschaft, München 2019 ISBN 978-3-423-28169-0, 317 Seiten ISBN 978-3-423-43533-8 (eBook) ISBN 978-3-423-14781-1 (Taschenbuch)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Fernfahrer Michel Flavent denkt obsessiv an ein Grubenunglück im Jahr 1974. Er will nicht nur seinen damals umgekommenen Bruder Joseph rächen, sondern auch den Vater, der sich ein Jahr nach dem Tod des älteren Sohnes erhängte. 40 Jahre nach der Katastrophe kehrt Michel unter falschem Namen in seinen Geburtsort zurück ...
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Kritik

Das reale Grubenunglück 1974 in Liévien regte Sorj Chalandon zu dem Roman "Am Tag davor" an. Am Beispiel eines nordfranzösischen Kohlebergwerks prangert er Unternehmen an, die aus Kostengründen unzureichend für die Sicherheit ihrer Belegschaft sorgen und entwickelt vor dem düsteren Hintergrund eine tragische Familiengeschichte, die sich um Schuld, Verdrängung und Erinnerung dreht.
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Die Katastrophe (1974)

Michel Flavent wurde am 16. Mai 1958 als zweites Kind der Bauernfamilie von Jean Flavent und Marie-Line Duez in Saint-Vaast-les-Mines geboren. Sein Bruder Joseph („Jojo“) ist 14 Jahre älter als er.

Der Vater hofft, dass der Erstgeborene später den Hof übernimmt, aber Joseph träumt davon, ein Rennauto zu fahren. Die Brüder schwärmen für Michael Delaney, dem von Steve McQueen im Film „Le Mans“ verkörperten Rennfahrer. Als Joseph begreift, dass er sein Ziel nicht erreichen wird, absolviert er in der Stadt Lens widerwillig eine Ausbildung zum Automechaniker.

Michel ist dabei, als sein von ihm bewunderter Bruder in der Kneipe „Chez Madeleine“ von dem Steiger Lucien Dravelle und dessen Freund überredet wird, zur Kohlenzeche Saint-Amé in Liévin zu wechseln. Jean Flavent missfällt es, dass sein älterer Sohn dort anfängt und mit seiner aus Polen stammenden Ehefrau Sylwia nach Liévin zieht, nicht nur, weil damit Josephs Arbeitskraft fehlt und er sich Sorgen um die Zukunft des Hofes macht, sondern auch, weil sein Bruder Philippe Flavent bei einem Grubenunglück ums Leben kam.

An Weihnachten 1974 ist Michel bei seinem Bruder und der Schwägerin zu Besuch in Liévien. Am Abend bevor die Arbeit im Bergwerk nach den Feiertagen mit der Frühschicht am 27. Dezember 1974 wieder beginnt, trinkt Joseph mit zwei polnischen Kollegen und schlägt dann seinem jüngeren Bruder noch eine Spritztour mit dem Moped vor, während Sylwia bereits zu Bett gegangen ist. Michel darf zum ersten Mal fahren. Joseph überlässt ihm seinen Helm und setzt sich auf den Gepäckträger. Der Bergmann grölt im Übermut, meint aber beim Anblick der Zeche:

„Die Grube wird uns noch alle umbringen, Kleiner.“

Um 6.19 Uhr kommt es in 700 Metern Tiefe zu einem Schlagwetter. Nach den Weihnachtstagen überprüfte man die Stollen nicht ausreichend. Das Methanmessgerät war nicht in Funktion, und aufgrund der mangelhaften Befeuchtung gab es zu viel Kohlenstaub. Ein Funke genügte, um den Stollen in einen Flammenwerfer zu verwandeln.

Acht Kumpel werden schwer verletzt geborgen, 42 Männer können nur noch tot heraufgebracht werden.

Joseph Flavent erliegt am 22. Januar 1975 im Krankenhaus in Bully-les-Mines seinen schweren Verletzungen, ohne noch einmal zu sich gekommen zu sein.

Michel bricht die Schule ab.

Die Witwen der 42 tot geborgenen Bergleute erhalten Lohnabrechnungen mit einem Abzug für die drei Tage Ende Dezember, an denen die Kumpel nicht mehr arbeiteten.

Sylwia stellt fest, dass sie schwanger ist und kehrt zu ihrer Familie nach Polen zurück.

Im Februar 1976 erhängt sich Jean Flavent. Die Witwe überlässt den Hof ihren Cousins und zieht zu ihrer Schwester nach Cucq, während Michel bei dem Automechaniker unterkommt, der ihn ausbildet.

Vier Jahre nach der Katastrophe wird die Zeche Saint-Amé in Liévien geschlossen.

Die Tat (2014/15)

Als Michel Flavents Ehefrau Cécile am 21. März 2014 stirbt, gibt er seine Tätigkeit als Fahrer eines Sattelzugs des Spediteurs Jacky Delgove in Paris auf und zieht unter dem falschen Namen Delanet in eine möblierte Wohnung in Saint-Vaast. Mit dem in Lille lebenden Vermieter Aimé Liénard, dessen Mutter Claudette Liénard im selben Haus wohnt, handelt er Barzahlung aus.

Zur Gedenkfeier für die Opfer der Katastrophe in der Kohlengrube Saint-Amé kommt im Dezember 2014 sogar der französische Premierminister Manuel Valls nach Liévin. Michel nimmt daran teil und schaut sich vergeblich nach Lucien Dravelle um, der Joseph für die Zeche angeworben hatte und als dessen Vorgesetzter für die Sicherheit im Stollen mitverantwortlich war.

Michel entdeckt ihn in der Kneipe „Chez Madeleine“. Der ehemalige Steiger sitzt mit einem Sauerstoffgerät im Rollstuhl. Nach 35 Jahren Arbeit im Bergwerk leidet er unter einer Staublunge. Das Haus in Lens, in dem er damals mit seiner Frau gewohnt hatte, verkaufte er nach Lucies Tod dem Anwaltsehepaar Aude und Francis Boulfroy und zog selbst in eine Wohnung in derselben Straße. Michel macht sich an den kranken Rentner heran und besucht ihn mehrmals.

Um den Tod des Bruders und des Vaters zu rächen, hat er sich vorgenommen, den Mann zu töten, den er für einen der Schuldigen an der Katastrophe in der Kohlengrube hält. Nachdem er sein Vorhaben mehrmals aufgeschoben hat, überfällt er Lucien Dravelle am 19. März 2015, wirft ihn zu Boden und würgt ihn, bis er leblos liegen bleibt.

Während Michel noch neben seinem Opfer am Boden liegt, brechen Polizisten die Tür auf und nehmen ihn fest.

Im Gefängnis (2015)

Als der Inhaftierte erfährt, dass Lucien Dravelle reanimiert wurde und lebt, merkt er erleichtert, dass seine Rachsucht verflogen ist.

Er verweigert die Aussage und schweigt zunächst auch gegenüber seiner Anwältin Aude Boulfroy.

Die Polizei findet heraus, dass er einen falschen Namen benutzte und identifiziert ihn als Michel Flavent.

Erst nach einiger Zeit verblüfft Michel seine Anwältin und sagt, sein Bruder sei bei der Grubenkatastrophe am 27. Dezember 1974 in Liévin umgekommen und weil keiner der Schuldigen verurteilt wurde, habe er Joseph rächen wollen, denn im Abschiedsbrief habe der Vater geschrieben: „Michel, räche uns an der Zeche!“ Vor Gericht wolle er die Katastrophe thematisieren und auf die Schuldigen hinweisen.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Am 22. September 2015 stellt Aude Boulfroy ihren Mandanten zur Rede, denn inzwischen weiß sie, dass Joseph Flavent nicht am 27. Dezember 1974 in der Zeche, sondern in der Nacht vorher bei einem Moped-Unfall ums Leben kam. Störrisch hält Michel an seiner Version fest.

„Die Zeche hat meinen Bruder getötet.“
Sie ließ mich nicht aus den Augen.
„Nein, er ist bei einem Verkehrsunfall gestorben.“
Ich gab nicht nach.
„Er gehörte zur Frühschicht des 27. Dezember.“
„Er ist fünf Stunden vor Antritt seiner Schicht verunglückt.“
„Er hätte mit den anderen anfahren sollen.“
„Aber das ist er nicht.“
„Und was ändert das, verdammt?“, schrie ich.

Joseph saß auf dem Gepäckträger des Mopeds hinter seinem jüngeren Bruder, dem er seinen Helm überlassen hatte. Übermütig beugte er sich über Michel, nahm den Lenker, gab Gas. Als er die Griffe plötzlich losließ, bekam Michel sie nicht gleich wieder zu fassen. Sie stürzten, prallten gegen eine Betonwand, und das Moped ging in Flammen auf. Michel überlebte den Unfall ohne nennenswerte Verletzungen, aber Joseph – in dessen Blut 1,7 Promille Alkohol gemessen wurden – war nicht mehr zu retten.

Vor Gericht (2017)

Der Prozess gegen Michel Flavent beginnt am 20. März 2017 in Saint-Omer.

Michel schweigt beharrlich und erträgt es kaum, dass über ihn gesprochen wird.

Der psychiatrische Gutachter Dr. Adrien Croizet gibt zu Protokoll, dass der Angeklagte voll schuldfähig sei und alles darauf angelegt habt, für den Tod des Bruders verurteilt zu werden.

„Er hatte seine Existenz auf einer Lüge aufgebaut, die für ihn lebenswichtig wurde. Selbst wenn das angesichts der Traumata, die das Opfer erleiden musste, kaum auszuhalten ist, würde ich sagen, dass das den Angeklagten vorgeworfene Verbrechen der Beginn eines Rekonstruktionsprozesses sein könnte.“

Der Nebenkläger Lucien Dravelle verzichtet auf Schmerzensgeld und erklärt, er habe seit der Katastrophe vor mehr als 40 Jahren Tag für Tag unter Schuldgefühlen gelitten, weil er nicht besser auf den Schutz seiner Männer geachtet hatte. Zu viel Sicherheit mindere den Ertrag, habe er damals ebenso wie seine Vorgesetzten gedacht. Zu den Geschworenen sagt er:

„Aber wenn Sie über die Strafe befinden, sollten Sie wissen dass das Verbrechen dieses Mannes mich erlöst hat.“

Der junge Staatsanwalt reagiert verärgert auf das Schweigen des Angeklagten und die Versöhnlichkeit des Nebenklägers. In seinem Schlussplädoyer verweist er auf Jean Flavents dem Gericht vorliegenden Abschiedsbrief, in dem der Satz „Michel, räche uns an der Zeche!“ nicht vorkommt. Stattdessen heißt es da:

Ich hatte zwei Söhne. Einer hat den anderen getötet. Dann wollte ich nicht mehr leben.

Er fordert die Geschworenen auf, den Angeklagten schuldig zu sprechen.

„Wegen des versuchten Mordes an Lucien Dravelle, der einzig der Vollendung Ihrer erlogenen Selbstdarstellung diente, und mangels des geringsten Anzeichens dafür, dass Sie Ihre Tat bereuen, beantrage ich eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren.“

Als der Vorsitzende Richter die Verteidigerin am 22. März zum Plädoyer auffordert, erklärt sie, ihr Mandant wünsche keines und sie werde deshalb nicht über ihn, sondern über ihren Großvater Charles Boulfroy reden. Der hatte 40 Jahre lang als Hauer in einer Kohlenzeche in Bruay geschuftet, um seine Familie ernähren zu können. Seine Frau Marthe wusch schließlich das Blut des Lungenkranken aus seinen Taschentüchern, und nach zwei Jahren Rente starb er am 4. November 1960.

„Hat ihn die Zeche umgebracht? Ja, natürlich! Ganz offensichtlich!“

Charles Boulfroy sei ebenso ein Opfer des Kohlebergbaus geworden wie der Nebenkläger Lucien Dravelle, der Angeklagte Michel Flavent und dessen Bruder Joseph Flavent.

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Das reale Grubenunglück am 27. Dezember 1974 in Liévien regte den 1952 in Tunis geborenen französischen Journalisten und Schriftsteller Sorj Chalandon zu dem Roman „Am Tag davor“ an. Die Namen der 42 Todesopfer der Katastrophe in der Grube Saint-Amé im nordfranzösischen Département Pas-de-Calais zählt er im Anhang auf.

Émile Zola veranschaulichte 1885 in seinem Roman „Germinal“ – dem Hauptwerk des 20-bändigen Zyklus „Das Leben der Familie Rougon-Macquart“ ‒ die Arbeitsbedingungen in den französischen Bergwerken seiner Zeit. Nach diesem Vorbild prangert Sorj Chalandon in „Am Tag davor“ am Beispiel eines nordfranzösischen Kohlebergwerks Unternehmen an, die aus Kostengründen unzureichend für die Sicherheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sorgen.

Vor dem düsteren historischen Hintergrund entwickelt Sorj Chalandon eine tragische Familiengeschichte. Der Bauernsohn Michel Flavent, der zum Zeitpunkt der Katastrophe am 27. Dezember 1974 in Liévien 16 Jahre alt ist, glaubt 40 Jahre später, nach dem Krebstod seiner Ehefrau, nicht nur den damals umgekommenen Bruder Joseph rächen zu müssen, sondern auch den Vater, der sich ein Jahr nach dem Tod des älteren Sohnes erhängte. Obsessiv hat der Fernfahrer Erinnerungsstücke aufbewahrt und in Notizheften Material gesammelt. Erzürnt darüber, dass niemand für die Katastrophe verantwortlich gemacht wurde, nimmt Michel sich vor, Josephs damaligen Vorgesetzten Lucien Dravelle zu töten.

Sorj Chalandon überlässt das Wort dem Protagonisten Michel Flavent. Der ist 57 Jahre alt, als er ‒ 40 Jahre nach der Traumatisierung ‒ von Paris in seinen Geburtsort zurückkehrt und nach dem Rentner Lucien Dravelle sucht. Die Vorgänge sind konsequent aus der subjektiven Perspektive des unzuverlässigen Ich-Erzählers dargestellt. Die Sprache dieses Fernfahrers ist einfach.

„Am Tag davor“ dreht sich um Schuld, Verdrängung und Erinnerung. Es ist auch eine tiefgründige Reflexion über den Zusammenhang von Erinnerung und Geschichte.

Nach und nach werden die wahren Vorgänge aufgedeckt. Deshalb kann man „Am Tag davor“ auch als spannenden Kriminalroman und den zweiten Teil als packendes Gerichtsdrama lesen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © dtv Verlagsgesellschaft

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.