Éric Vuillard : Die Tagesordnung

Die Tagesordnung
L'ordre du jour Actes Sud, Arles 2017 Die Tagesordnung Übersetzung: Nicola Denis MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft, Berlin 2018 ISBN 978-3-95757-576-0, 118 Seiten ISBN 978-3-95757-581-4
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1. Kapitel: Am 20. Februar 1933 erwarten Hitler und Göring von 24 im Reichspräsidentenpalais versammelten Großindustriellen Spenden. – 16. Kapitel: Gustav Krupp, der eine Million Reichsmark spendete, sitzt im Frühjahr 1944 in der Villa Hügel in Essen beim Abendessen – und glaubt plötzlich, er sähe Leute im Raum. Tote Zwangsarbeiter?
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Kritik

"Die Tagesordnung" ist eine Mischung von Sachbuch und Erzählung. Éric Vuillard geht es nicht darum, die Entwicklung systematisch nachzuvollziehen, sondern er beleuchtet in 16 kurzen Kapiteln schlaglichtartig einige schräge Episoden, an denen er das Possenhafte der handelnden Politiker veranschaulicht.
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Ein geheimes Treffen / Die Masken

Am 20. Februar 1933 versammeln sich 24 „Avatare“ deutscher Industrieunternehmen im Reichstagspräsidentenpalais in Berlin und warten geduldig auf den Empfang durch Hermann Göring, der sie eingeladen hat:

Gustav Krupp, Albert Vögler, Günther Quandt, Friedrich Flick, Ernst Tengelmann, Fritz Springorum, August Rosterg, Ernst Brandi, Karl Büren, Günther Heubel, Georg von Schnitzler, Hugo Stinnes Jr., Eduard Schulte, Ludwig von Winterfeld, Wolf-Dietrich von Witzleben, Wolfgang Reuter, August Diehn, Erich Fickler, Hans von Loewenstein zu Loewenstein, Ludwig Grauert, Kurt Schmitt, August von Finck und Doktor Stein.

Mit solchen Treffen kennt man sich aus, alle sitzen in Verwaltungs- oder Aufsichtsräten, alle gehören irgendeinem Arbeitgeberverband an. Ganz zu schweigen von den trostlosen Familientreffen dieses knochentrockenen, öden Patriarchats.

Hermann Göring – „Reichsluftfahrtminister, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Reichsjagdminister, Präsident des verblichenen Reichstags und Erfinder der Gestapo“ – weist den „Klerus der Großindustrie“ auf die bevorstehenden Wahlen am 5. März hin und meint, mit der „Instabilität des Regimes müsse nun endlich Schluss sein; die Wirtschaftstätigkeit verlange Umsicht und Entschlossenheit“. Hitler, seit drei Wochen Reichskanzler, tritt auf und fügt hinzu, es gelte „die kommunistische Bedrohung abzuwehren“ und „die Gewerkschaften abzuschaffen“. Nach der halbstündigen Ansprache Hitlers ergreift Göring erneut das Wort und erklärt, man benötige Geld, um einen Wahlkampf zu führen. Da greifen die Industriellen zu ihren Brieftaschen.

Die Mehrheit der Gäste zahlt umgehend etliche hunderttausend Reichsmark. Gustav Krupp spendet eine Million, Georg von Schnitzler vierhunderttausend, und so kommt ein hübsches Sümmchen zusammen. Dieses Treffen vom 20. Februar 1933, in dem man einen einmaligen Moment der Arbeitgebergeschichte sehen könnte, ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis, ist für die Krupps, die Opels und die Siemens nicht mehr als eine alltägliche Episode des Geschäftslebens, ein banales Fundraising. Sie alle sollten das Regime überleben und in Zukunft mit ihren jeweiligen Erträgen noch weitere Parteien finanzieren.

Ein Anstandsbesuch

Mitte November 1937 empfängt Hermann Göring auf seinem repräsentativen Landsitz Carinhall in der Schorfheide den amtierenden Lord President of the Council im Kabinett des britischen Premierministers Neville Chamberlain: Edward Frederick Lindley Wood, 1. Earl of Halifax. Der Besuch des ehemaligen Vizekönigs von Indien gilt als privat.

„Halalifax“ – wie ihn der Reichsjägermeister Hermann Göring heimlich genannt haben soll – reist dann weiter nach Süddeutschland, um auch Hitler zu treffen.

Als sich Lord Halifax in Berchtesgaden absetzen ließ, erblickte er eine Silhouette neben dem Wagen, die er für einen Lakaien hielt. Er glaubte, der Mann sei ihm entgegengekommen, um ihm die Stufen der Freitreppe hinaufzuhelfen. Als der Wagenschlag geöffnet wurde, reichte er seinen Mantel hinaus. Doch unverzüglich fauchte von Neurath oder jemand anders, ein Lakai womöglich, ihm ein heiseres „Der Führer!“ ins Ohr. Lord Halifax hob die Augen. Tatsächlich, es war Hitler. Er hatte ihn für einen Lakaien gehalten!

Gegen den ausdrücklichen Rat seiner Regierung warnt Lord Halifax die Deutschen nicht vor Gebietsforderungen gegenüber Österreich oder der Tschechoslowakei, sondern deutet an, dass London  gewaltlosen Regelungen nicht im Weg stehen werde. Wahrscheinlich weiß er nicht, dass Hitler eineinhalb Wochen zuvor, am 5. November 1937, der militärischen Führung die Grundzüge seiner auf gewaltsame Expansion ausgerichteten Außenpolitik erläuterte.

Als Erstes würde man in Österreich und der Tschechoslowakei einfallen. Man fühlte sich in Deutschland ein bisschen beengt […].

Einschüchterungen / Die Unterredung auf dem Berghof

Drei Monate nach dem Besuch des britischen Appeasement-Politikers ist die Zeit der heimlichen Machenschaften vorbei. Hitler bestellt den diktatorisch in Österreich regierenden Bundeskanzler Kurt Schuschnigg am 12. Februar 1938 auf den Berghof am Obersalzberg bei Berchtesgaden. Alles ist darauf ausgerichtet, den Österreicher einzuschüchtern.

Vorhang auf für eine der grandiosesten und groteskesten Szenen aller Zeiten

Nachdem Hitler den österreichischen Regierungschef mit Vorwürfen überschüttet und über den ununterbrochenen Volksverrat der Österreicher geschimpft hat, nimmt er ihn mit in die Tischrunde, und beim Mittagessen plaudert Hitler als sei nichts gewesen. Dann zieht er sich erst einmal zurück und lässt Schuschnigg ein paar Stunden lang warten, bevor Franz von Papen, der Hitler direkt unterstellte Botschafter in Wien, und der seit acht Tagen amtierende Außenminister Joachim von Ribbentrop den Text für ein deutsch-österreichisches Abkommen vorlegen und erklären, „dass es sich dabei um die ultimativen Zugeständnisse des Führers handle“. Die Wiener Regierung soll sich unter anderem dazu verpflichten, die Dollfuß-Mörder zu begnadigen und den Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zum Innen- und Sicherheitsminister zu ernennen. Angesichts der Unterhöhlung der österreichischen Souveränität klingt es zynisch, wenn das Deutsche Reich zugleich die Unabhängigkeit des Bundesstaates Österreich anerkennt und auf jede innenpolitische Einmischung verzichtet.

Schuschnigg versucht, ein paar Änderungen zu erreichen, wird aber nach einiger Zeit zu Hitler gerufen, der ihm erklärt: „Verhandelt wird nicht; ich ändere keinen Beistrich.“ Da überrascht ihn Schuschnigg mit dem höflich vorgetragenen Hinweis, dass der Reichskanzler von seiner Unterschrift allein nichts habe, weil die Ernennung eines Ministers nach der Verfassung dem Bundespräsidenten vorbehalten ist.

Im Zustand äußerster Erregung reißt Hitler die Tür seines Arbeitszimmers auf und brüllt in den Vorraum: „General Keitel!“ Und, wieder zu Schuschnigg gewandt: „Ich werde Sie dann rufen lassen.“

Wilhelm Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, wird später berichten, was geschah, während er bei Hitler saß: Nichts. Das Manöver dient nur dazu, Schuschnigg zu zermürben. Am Ende unterzeichnen er und der österreichische Staatssekretär Guido Schmidt, Hitler und Ribbentrop das „Berchtesgadener Abkommen“.

Anleitung zum Unentschlossensein / Ein verzweifelter Versuch / Ein Tag am Telefon

Während die deutschen Militärs Vorbereitungen für einen Einmarsch im Nachbarland simulieren, denkt die österreichische Regierung darüber nach, ob man Hitler mit der Übergabe seiner Heimatstadt Braunau besänftigen könne. Schließlich bittet der verzweifelte Bundeskanzler sowohl die Opposition als auch die Gewerkschaften um Unterstützung und setzt eine Volksbefragung über die Unabhängigkeit Österreichs an. Hitler tobt, verlangt die Absage der Volksbefragung und die Ablösung Schuschniggs durch Seyß-Inquart. Um den drohenden deutschen Einmarsch abzuwenden, sagt Schuschnigg das Referendum am 11. März ab und bietet seinen Rücktritt an, aber Bundespräsident Wilhelm Miklas verweigert ihm die Demission.

Scheiße! Man ruft Göring an. Göring hat die Nase voll von den verfluchten Österreichern! Er hätte gern seine Ruhe! Aber Hitler sieht das anders; Miklas muss den Rücktritt akzeptieren, brüllt er, in jeder Hand einen Telefonhörer; es ist ein Befehl.

Wilhelm Miklas sieht sich genötigt, Kurt Schuschniggs Rücktritt anzunehmen, ist jedoch nicht bereit, Arthur Seyß-Inquart zum Bundeskanzler zu ernennen und versucht vergeblich, einen anderen Kandidaten für das Amt zu finden.

Ein lustiger Vogel, dieser Miklas. Er, früher derartig blass, ein einfacher Statist, Präsident einer seit fünf Jahren verblichenen Republik, muckt plötzlich auf. Mit seinem dicken Honoratiorengesicht, seiner Melone und seiner Taschenuhr kann er auf einmal nicht mehr „ja“ sagen. Der Mensch ist niemals sicher; ein armer Schlucker kann plötzlich tief in sich einen absurden Widerstand auftun, einen kleinen Nagel, einen Splitter. Und so kommt es, dass ein nicht sonderlich prinzipientreuer, ein dümmlicher Kerl ohne Selbstwertgefühl sich plötzlich aufbäumt. Oh, nicht lange, aber immerhin.

Die Deutschen wären gern auf eine offizielle Bitte der österreichischen Regierung einmarschiert, sind aber auch bereit, sich mit dem Hilfeersuchen eines Ministers zu begnügen. Das von Innen- und Sicherheitsminister Seyß-Inquart erwartete Telegramm bleibt jedoch aus. Die Deutschen schicken ihm schließlich den Text, den er telegrafieren soll – aber der Österreicher sträubt sich.

Während die Nazis schon die wichtigsten Machtzentren besetzt haben und Seyß-Inquart sich noch immer hartnäckig weigert, sein Telegramm abzuzeichnen, während in Wien Szenen des Wahnsinns toben – mörderische Aufständische, Feuersbrände, Geschrei, Juden, die an den Haaren über die trümmerübersäten Straßen geschleift werden –, während die großen Demokratien nichts zu merken scheinen, England gemütlich schnurrend zu Bett gegangen ist, Frankreich in süßen Träumen schwebt und kein Hahn nach Österreich kräht, da endlich ernennt der alte Miklas, mit seinen schweren Schultern zuckend, erschöpft und sicher überdrüssig, am Ende eines langen Korridors aus Diskussionen irgendwann widerstrebend den Nazi Seyß-Inquart zum österreichischen Bundeskanzler. Die größten Katastrophen kommen oft auf leisen Sohlen.

[Arthur Seyß-Inquart beschließt] seine erbärmliche Karriere als Mitläufer in Nürnberg. Und dort streitet er – natürlich – alles ab. Er, einer der Hauptakteure der Einverleibung Österreichs ins Dritte Reich, hatte nichts getan; er, dem der SS-Ehrentitel des Obergruppenführers verliehen worden war, hatte nichts gesehen; ihm, Reichsminister ohne Geschäftsbereich in Hitlers Regierung, hatte man nichts gesagt; er, als Stellvertretender Generalgouverneur von Polen in die brutale Niederschlagung des polnischen Widerstands verwickelt, hatte nichts angeordnet; er, der schließlich Reichskommissar für die Niederlande werden sollte und laut Nürnberger Anklage mehr als viertausend Menschen hatte hinrichten lassen, er, ein überzeugter Antisemit, der die Juden aus allen verantwortlichen Positionen vertrieben hatte und mit den Maßnahmen vertraut war, die zum Tod von ungefähr hunderttausend niederländischen Juden führten, hatte nichts gewusst. Und während die Trompeten ertönen, diesmal allerdings für ihn, kramt er seine Anwaltsgewohnheiten hervor, plädiert, beruft sich auf das eine oder andere Schriftstück und studiert gewissenhaft die Bündel mit Beweisstücken.

Am 16. Oktober 1946 wird Arthur Seyß-Inquart in Nürnberg gehängt.

Abschiedslunch in der Downing Street

Joachim von Ribbentrop amtierte von 1936 bis zu seiner Ernennung zum Reichsaußenminister am 4. Februar 1938 als deutscher Botschafter in London.

In der Nazi-Partei, einem Haufen aus Schurken und Verbrechern, war er Adolf Hitler übrigens wegen seiner Gewandtheit, seiner old fashioned Eleganz und seiner Höflichkeit aufgefallen.

Am 12. März 1938 folgen Joachim von Ribbentrop und seine Frau Annelies – eine Tochter des Sektfabrikanten Otto Henkell – einer Einladung des britischen Premierministers Neville Chamberlain zum Abschiedslunch in der Downing Street. Während der deutsche Minister gut gelaunt plaudert, reicht Sir Alexander Cardogan vom Foreign Office dem Premier eine schriftliche Mitteilung, die dieser mit besorgter Miene liest – was Winston Churchill nicht entgeht. Die Briten werden unruhig, aber Ribbentrop doziert über französische Weine, und Annelies von Ribbentrop verwickelt Anne Chamberlain in ein Gespräch. Das zieht sich hin, bis der britische Regierungschef es nicht länger erträgt: „Bitte entschuldigen Sie, eine dringende Angelegenheit ruft mich.“

Im Mercedes mit Hakenkreuz-Stander platzen die Ribbentrops vor Lachen, denn sie wissen, dass es sich bei der Mitteilung um die Nachricht vom deutschen Einmarsch in Österreich handelte.

Blitzkrieg / Ein Panzerstau

In Österreich warteten an diesem Vormittag viele auf die Deutschen. Für den Abend des 12. März war in Wien ein Fackelzug zu Ehren Hitlers geplant. Aber die deutsche Kriegsmaschinerie, die um 9 Uhr morgens ungehindert die Grenze überquert hatte, steckt in der Nähe von Linz fest.

Tatsächlich waren nicht nur ein paar vereinzelte Panzer steckengeblieben, hier und da ein kleiner Panzerwagen, nein, es handelte sich um den Großteil der deutschen Armee; die Straße war nunmehr restlos blockiert. Ach, fast wie in einer Slapstickkomödie: ein wutschnaubender Führer, Mechaniker, die über die Fahrbahn hetzen, hastig gebrüllte Befehle in der rauen, überreizten Sprache des Dritten Reichs.

Eine steckengebliebene Armee ist der Inbegriff von Lächerlichkeit.

Schließlich werden Panzer auf Güterzügen verladen und nach Wien transportiert.

Abgehörte Telefonate

Am 13. März, dem Tag nach dem „Anschluss“ Österreichs, hört der britische Geheimdienst ein Telefonat ab.

[Göring:] „Also, mein lieber Ribbentrop […], diese Erzählung, wir hätten Österreich ein Ultimatum gestellt, ist natürlich Quatsch. Die österreichischen nationalsozialistischen Minister haben uns gebeten, ihnen Rückendeckung zu geben, damit sie nicht wieder völlig zusammengeknüppelt werden!“
[Ribbentrop:] „Das ist ja unglaublich! Das muss die ganze Welt erfahren.“

Am 29. November 1945 wird der Mitschnitt vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg noch einmal abgespielt. Bei dem Telefongespräch handelte es sich um einen Doubletalk, mit dem andere in die Irre geführt werden sollten.

Das Requisitenlager

Der 1936 vor den Nationalsozialisten in die USA geflohene Schriftsteller Günther Anders (bürgerlich: Günther Siegmund Stern), schlägt sich dort zeitweise als Requisiteur im Hollywood Custom Palace in Los Angeles durch. Dort putzt er Gladiatoren-Kostüme ebenso wie Nazi-Stiefel.

Hier ist die wirkliche Tragödie fehl am Platz, die Kostüme müssen fertig sein für die Dreharbeiten, für die große Inszenierung der Welt. Und sie werden fertig sein; sogar originalgetreuer als die echten Stücke, detailreicher als die Museumsexemplare; perfekte Repliken, an denen nicht ein Knopf fehlt, kein Fädchen, und die, wie in den Regalen der Geschäfte, für jeden Körperbau existieren. Diese Kleider sollen jedoch nicht nur untadelige Repliken, sondern außerdem auch schäbig, löchrig und dreckig sein. Genau, die Welt ist schließlich keine Modenschau, und das Kino muss die Illusion aufrechterhalten. Es gilt also, falsche Sprünge, falsche Flecken und falschen Grünspan zu pflegen. Es soll der Eindruck entstehen, dass die Zeit ihre Spuren hinterlassen hat.

The Sound of Music

In der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 schließen die Regierungschefs von Deutschland, Italien, Großbritannien und Frankreich – Adolf Hitler, Benito Mussolini, Neville Chamberlain und Édouard Daladier – das Münchner Abkommen.

Und als wäre Hitlers Appetit damit zu stillen, verhökert man die Tschecheslowakei.

Édouard Daladier erklärt im Rundfunk, er sei überzeugt, dass damit der Frieden in Europa gerettet sei.

Er glaubt sich selbst kein Wort. „Ah! Diese Idioten, wenn sie wüssten!“, soll er beim Aussteigen aus dem Flugzeug angesichts der jubelnden Menge gemurmelt haben. In diesem großen Elends-Sammelsurium, das im Keim bereits die übelsten Ereignisse enthält, dominiert ein rätselhafter Respekt vor der Lüge. Die Machenschaften triumphieren über die Tatsachen; und die Erklärungen unserer Staatsoberhäupter werden bald schon mitgerissen wie ein Blechdach von einem Frühlingsgewitter.

Die Toten

Walter Benjamin schreibt in einem Brief an Margarete Steffin, dass den Wiener Juden das Gas abgestellt worden sei. Geschah das wegen der zahlreichen Selbstmorde?

Denn die Wiener Gasanstalt weigerte sich deshalb, die Juden zu beliefern, weil diese das Gas vorzugsweise zum Zweck des Selbstmords nutzten und ihre Rechnungen offenließen. Ich habe mich gefragt, ob das stimmte – derlei Grauenvolles erfand diese Epoche, in maßlosem Pragmatismus – oder ob es lediglich ein Scherz, ein im Schein der finsteren Kerzen ersonnener schrecklicher Scherz war. Doch eigentlich nimmt es sich wenig, ob es sich um einen abgründigen Spaß oder eine Tatsache handelt; wenn der Humor zu derartiger Schwärze neigt, sagt er die Wahrheit.

Wer sind eigentlich all diese Leute?

Im Frühjahr 1944, vor dem Rückzug nach Schloss Blühnbach bei Salzburg, sitzt Gustav Krupp mit seiner Frau Bertha und seinem ältesten Sohn Alfried in der Villa Hügel in Essener-Bredeney beim Abendessen. Plötzlich erhebt sich der 73-Jährige, weist entsetzt mit einem Finger in den Raum und murmelt: „Wer sind eigentlich all diese Leute?“ Aber da ist niemand. Glaubt er die Zwangsarbeiter zu sehen, die in seinen Fabriken umkamen?

Von den sechshundert, 1943 bei den Krupp-Werken eingegangenen Deportierten waren ein Jahr später nur noch zwanzig übrig. Bevor Gustav die Zügel seinem Sohn übergab, gründete er als eine seiner letzten Amtshandlungen das Berthawerk, eine auf den Namen seiner Frau getaufte konzentrationslagerartige Fabrik, offenbar als „Hommage“ gedacht. Dort lebte man verlaust und schwarz vor Dreck, lief winters wie sommers fünf Kilometer zu Fuß in einfachen Holzpantinen vom Lager zur Fabrik und von der Fabrik zum Lager. Dort wurde man um halb fünf geweckt, von SS-Wachen und abgerichteten Hunden flankiert, geschlagen und gefoltert. Das Abendessen dauerte manchmal zwei Stunden; nicht, weil man sich Zeit zum Essen gelassen hätte, sondern weil man warten musste: Es gab nicht genug Suppenschüsseln.

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Der französische Schriftsteller, Drehbuchautor und Filmregisseur Éric Vuillard (*1968) hat ein eigenes Genre entwickelt, das die Franzosen „récit“ nennen, für das es im Deutschen aber keine prägnante Bezeichnung gibt. Es ist eine einzigartige Mischung aus Sachbuch und Erzählung.

  • Conquistadors (2009)
  • La Bataille d’Occident (2012) / Ballade vom Abendland (2014)
  • Congo (2012) / Kongo (2015)
  • Tristesse de la terre. Une histoire de Buffalo Bill Cody (2014) / Traurigkeit der Erde. Eine Geschichte von Buffalo Bill Cody (2017)
  • 14 juillet (2016)
  • L’ordre du jour (2017) / Die Tagesordnung (2018)

 

In „Die Tagesordnung“ berichtet bzw. erzählt Éric Vuillard von den Jahren 1933 bis 1944, von einer heimlichen Geberkonferenz der deutschen Großindustrie für Hitler am 20. Februar 1933 bis zum letzten Abendessen der Krupps in der Villa Hügel im Frühsommer 1944. Dabei geht es ihm nicht darum, die Entwicklung systematisch nachzuvollziehen, sondern er beleuchtet in 16 kurzen Kapiteln schlaglichtartig einige schräge Episoden, an denen er das Possenhafte der handelnden Politiker veranschaulicht. Wie in einer Groteske bzw. Politsatire zeigt er, dass Hitler, Göring, Ribbentrop und andere selbstgefällige Nationalsozialisten ihre Auftritte inszenierten und ihre Gesprächspartner blufften.

Éric Vuillard springt nicht nur von Szene zu Szene, sondern auch zwischendurch ohne erkennbaren Grund zu anderen Personen und Schauplätzen, beispielsweise vom Berghof am Obersalzberg zum französischen Staatspräsidenten Albert Lebrun in Paris und zum Schweizer Maler Louis Soutter in Ballaigues im Kanton Waadt. Hin und wieder fügt er Kommentare der Erzählfigur ein.

Éric Vuillard beginnt „Die Tagesordnung“ mit großem Pathos:

Die Sonne ist ein kaltes Gestirn. Ihr Herz aus eisigen Dornen. Gnadenlos ihr Licht. Im Februar sind die Bäume tot, der Fluss ist versteinert, als speie die Quelle kein Wasser mehr aus, als könne das Meer keines mehr schlucken. Die Zeit erstarrt. Ein geräuschloser Morgen, kein Vogel singt, nichts. Dann ein Automobil, und noch eines, plötzlich Schritte, unsichtbare Silhouetten. Der Inspizient hat dreimal mit dem Stab geklopft, noch ist der Vorhang nicht aufgegangen.
Es ist Montag, die Stadt regt sich hinter ihrer Nebelwand. […]

Später spickt Éric Vuillard seinen Text mit Sprachwitz, Ironie und Zynismus:

Mit rasender Hast und größter Verwirrung wühlte Schuschnigg in den Taschen der Jahrhunderte. Doch sein Gedächtnis ist leer, die Welt ist leer, Österreich ist leer. Die Augen des Führers haben ihn hartnäckig im Visier.

Als Erstes würde man in Österreich und der Tschechoslowakei einfallen. Man fühlte sich in Deutschland ein bisschen beengt […].

Kehren wir für einen kurzen Moment zum Anfang unserer Geschichte zurück und schauen uns nochmal die vierundzwanzig um den Tisch versammelten Herren an. Es sieht aus wie ein x-beliebiges Treffen von Firmenchefs. Die gleichen dunklen oder gestreiften Krawatten, die gleichen Einstecktücher aus Seide, die gleichen Brillen mit Goldrand, die gleichen Glatzen und die gleichen vernünftigen Gesichter wie heutzutage. Eigentlich hat sich die Mode kaum verändert. In absehbarer Zeit werden alle statt des Goldenen Parteiabzeichens stolz das Bundesverdienstkreuz tragen wie in Frankreich die Ehrenlegion.

Auf dem Titel des Buches ist Gustav Krupp abgebildet.

Für „L’ordre du jour“ bzw. „Die Tagesordnung“ erhielt Éric Vuillard 2017 den Prix Goncourt.

Den Roman „Die Tagesordnung“ von Éric Vuillard gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Michael Rotschopf (ISBN 978-3-940018-50-2).

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH

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Unter dem Titel "Das Original" hat John Grisham keinen weiteren Justiz-Thriller verfasst, sondern eine amüsante Hommage an die Welt der Literatur. Damit bietet er eine unterhaltsame Urlaubslektüre.
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