Laetitia Colombani : Das Mädchen mit dem Drachen

Das Mädchen mit dem Drachen
Le Cerf-volant Éditions Grasset & Fasquelle, Paris 2021 Das Mädchen mit dem Drachen Übersetzung: Claudia Marquardt S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2022 ISBN 978-3-10-397490-4, 269 Seiten ISBN 978-3-10-491495-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nachdem ihr Lebensgefährte bei einem Amoklauf ermordet wurde, reist die französische Lehrerin Léna nach Indien, um über den Verlust hinwegzukommen. Sie trifft dort auf eine Zehnjährige, der jeder Schulbesuch verweigert wird, weil sie als unbezahlte Hilfskraft in einem Imbiss benötigt wird. Léna unterrichtet Lalita nun jeden Tag vor der Arbeit eine Stunde lang im Schreiben und Lesen ...
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Kritik

Laetitia Colombani hält die Darstellung kurz, knapp und schnörkellos. Allerdings bleibt dabei auch wenig Raum für Nuancen, Reflexionen und Tiefgang. Empfehlenswert ist die leichte und unterhaltsame Lektüre, weil "Das Mädchen mit dem Drachen" am extremen Beispiel der indischen Gesellschaft die Entrechtung von Frauen thematisiert und dazu ermutigt, sich dagegen aufzulehnen.
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Vorgeschichte

Das französische Lehrerpaar Léna und François unterrichtet an einer Schule in Bouguenais südlich von Nantes. Beim Amoklauf des Schülers Lucas Meyer mit einem Jagdgewehr seines Vaters wird François erschossen. Léna kündigt einige Monate später und reist nach Indien.

Sich in der Ferne verlieren, um sich besser wiederzufinden.

Sie landet in Chennai, der Hauptstadt des Bundesstaates Tamil Nadu an der Koromandelküste, und nimmt sich in einem Guesthouse in Mahabalipuram ein Zimmer. Für Exkursionen oder andere Touristenprogramme fehlt ihr die Kraft. Wenn sie im Morgengrauen, bevor die Touristen an den Strand kommen, im Meer schwimmt, sieht sie zumeist ein Mädchen, das einen Drachen steigen lässt und wundert sich darüber, dass das Kind so früh am Tag allein unterwegs ist.

Eines Morgens beginnt die Strömung, Léna vom Strand wegzuziehen.

Als sie am Strand zu sich kommt, sieht sie in das Gesicht eines Kindes. Zwei dunkle Augen starren sie an, durchdringend, als gelte es, sie mit Blicken zum Leben wiederzuerwecken. Rot-schwarze Schatten hasten hin und her, rufen einander panisch Worte zu, deren Sinn Léna nicht erfasst. Das Bild des Kindes verschwimmt im allgemeinen Tumult, bis es sich schließlich vollständig in der sich bildenden Menschenmenge auflöst.

Rote Brigade

Im Krankenhaus erfährt Léna, dass das Mädchen mit dem Drachen die in der Nähe am Strand trainierende Rote Brigade zu Hilfe rief und ihr dadurch das Leben rettete.

Bei der Roten Brigade in Mahabalipuram handelt es sich um eine von zahlreichen Frauenkampftruppen in Indien, die sich am 2011 von Usha Vishwakarma in Lucknow gegründeten Vorbild orientieren. Die Mitglieder erlernen Nishastrakala, um sich und andere Frauen gegen Übergriffe verteidigen zu können. Das stärkt zugleich ihr Selbstvertrauen.

Um sich zu bedanken, lässt Léna sich zum Quartier der Roten Brigade im Armenviertel bringen, aber die stolze Anführerin Preeti weist das Geld zurück und bleibt auf Distanz.

Das Mädchen mit dem Drachen

Am nächsten Morgen folgt Léna dem Mädchen mit dem Drachen. Das Kind wohnt augenscheinlich in einem Dhaba (Straßenrestaurant) mit der Tafel „Willkommen bei James und Mary“. Léna versucht, dem Wirt, den sie für den Vater des Mädchens hält, zu erklären, dass seine Tochter ihr das Leben gerettet habe, aber er versteht nur Tamil und begreift nicht, was die Französin mitteilen möchte. Léna isst in dem Lokal und beobachtet, dass das Mädchen Tische zu decken und Geschirr abzuräumen hat.

Um mit James reden zu können, bittet Léna die Brigadechefin um Hilfe, und Preeti kommt mit, um zu dolmetschen.

So erfährt Léna, dass das Mädchen mit dem Drachen nicht die Tochter des Wirts und seiner Frau ist, sondern mit ihrer Mutter, einer mit Mary entfernt verwandten Latrinenreinigerin, aus dem Norden kam. Die Mutter starb wenige Monate nach der Ankunft in Mahabalipuram an einer Lungenkrankheit, und das Kind arbeitet seither gegen Kost und Logis in dem Imbiss. Seit dem Tod der Mutter ist das Mädchen verstummt. Mary und James, die vom Hinduismus zum Christentum konvertiert sind, nennen die Zehnjährige Holy.

Léna drängt James, Holy in eine Schule zu schicken, aber der Wirt erklärt ihr, dass er auf sie angewiesen sei, weil das Lokal nicht genügend abwerfe, um eine Hilfskraft zu bezahlen. (Kinderarbeit ist zwar offiziell verboten, aber Familienbetriebe sind davon ausgenommen.) Immerhin erlaubt James, dass Holy jeden Tag außerhalb der Arbeitszeit eine Stunde lang von Léna unterrichtet werden darf, um Lesen und Schreiben zu lernen.

Unterricht

Sobald das Mädchen mit dem Drachen ein paar Buchstaben gelernt hat, schreibt es am Strand seinen richtigen Namen in den Sand: Lalita.

Nun bittet auch Preeti um Unterricht, und Léna erfährt, dass die knapp 22-Jährige vor acht Jahren einen Vergewaltigungsversuch des Nachbarn abwehrte und die Eltern sie daraufhin mit dem Mann verheiraten wollten, um die Familienschande wiedergutzumachen. Vor der Zwangsehe floh Preeti. Ihre Schwester wurde im Alter von 13 verheiratet und starb bei der Geburt des ersten Kindes.

Nach und nach bitten weitere Frauen aus der Roten Brigade darum, bei den Unterrichtsstunden, die Léna für Preeti gibt, dabei sein zu dürfen.

Schulgründung

Nach 90 Tagen läuft Lénas Touristenvisum ab, und es gibt keine Möglichkeit, es zu verlängern. Traurig und aufgewühlt kehrt sie nach Frankreich zurück. Aber die Erlebnisse in Indien beschäftigen sie weiter. Sie beschließt, eine NGO zu gründen und im Quartier der Roten Brigade im Armenviertel von Mahabalipuram eine Schule einzurichten.

Sie informiert sich, knüpft Kontakte, sammelt Spenden – und fliegt erneut nach Chennai.

Kumar, ein junger Mann aus einem benachbarten Ort, der gerade sein Studium an der Universität in Chennai abgeschlossen hat, bewirbt sich als Lehrer. Léna stellt ihn ein, ebenso wie Preeti, die den Sportunterricht übernehmen soll. Sie selbst richtet sich als Schulleiterin in einem Anbau ein.

Aber es ist nicht einfach, Eltern dafür zu gewinnen, ihren Kindern den Schulbesuch zu erlauben, obwohl ein Mittagessen angeboten wird. Rhada, ein Mädchen aus dem Viertel, soll für die Kantine der Schule kochen. Zusätzlich versucht Léna, die Familien mit Reis zu ködern, aber der Wirt James erklärt ihr, er benötige keinen Reis, sondern eine Arbeitskraft. Schließlich übernimmt Léna sogar die Kosten für eine Hilfskraft namens Prakash, damit Lalita die Schule besuchen darf.

Genau zwei Jahre nach François‘ Ermordung eröffnet Léna die Schule in Mahabalipuram mit einer Klasse für sechs- bis zwölfjährige Jungen und Mädchen.

Zufällig findet Léna nach einer Weile heraus, dass im Dhaba von Mary und James statt Prakash ein kleiner Junge die Tische deckt und abräumt. Zur Rede gestellt, behauptet der Wirt, er habe Léna nicht betrügen wollen, sondern Prakash aufgrund von Diebstählen gekündigt. Anbu, der Sohn eines Cousins von Mary, arbeitet nun für Kost und Logis im Straßenrestaurant.

Janaki

Lalita freundet sich mit ihrer Mitschülerin Janaki an. Deren Vater arbeitet in einer Ziegelfabrik, die Mutter – die fünf Kinder geboren hat – dreht in Heimarbeit Zigaretten, 1000 Stück am Tag für umgerechnet einen Euro.

Obwohl Eheschließungen offiziell erst mit der Volljährigkeit gestattet sind, verheiraten Eltern vor allem in den ländlichen Gebieten ihre Töchter in der Pubertät, um sie nicht länger verköstigen zu müssen. Die Mädchen werden ohne Übergang vom Kind zur Frau.

Diesem Schicksal entgeht auch Janaki nicht, obwohl Léna, Preeti und Kumar versuchen, die Eltern umzustimmen. Der 21 Jahre alte Bräutigam nimmt Janaki nach der Hochzeit mit in sein 100 Kilometer entferntes Heimatdorf.

Bald darauf wird Janaki tot in einem Graben gefunden. Sie versuchte, zu fliehen und wurde von einem Auto überfahren. Ihre Mutter wirft Léna vor, den Tod des Mädchens verschuldet zu haben, denn ohne Schule hätte Janaki die Zwangsehe hingenommen.

Am Ende des Schuljahrs

Am Ende des ersten Schuljahrs beschließt Léna, nach Frankreich zurückzukehren und die von Preeti und Kumar weitergeführte Schule von dort aus durch Spendensammlungen zu unterstützen.

Janakis Tod hat ihren Enthusiasmus, ihre Energie, ihre wiedergewonnene Freude am Unterrichten zunichte gemacht.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Sie hat im Chennai International Airport bereits ihr Gepäck aufgegeben, als sie einen Anruf von Kumar erhält. Er hat sich mit Lalita in der Schule verschanzt. Das Mädchen, das in einigen Monaten zwölf Jahre alt wird, ist in die Schule geflohen, denn im Dhaba ihrer Pflegeeltern hat an diesem Morgen die für „Holy“ ausgerichtete Hochzeitsfeier mit einem Bräutigam in den Dreißigern begonnen.

Ohne Gepäck eilt Léna zurück nach Mahabalipuram. Die Männer der Hochzeitsgesellschaft haben Lalita bereits mit Gewalt aus der Schule geholt. Preeti ruft ihre Brigade zusammen. Mit Motorrollern fahren sie zum Imbiss und befreien die unglückliche Braut.

Léna ändert nach diesem Erlebnis ihre Pläne und bleibt in Indien.

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In ihrem Debütroman „Der Zopf“ erzählt Laetitia Colombani von drei Frauen: der Juristin Sarah, einer dreifachen Mutter in Montreal, der jungen sizilianischen Perücken-Macherin Giulia und von der indischen Latrinenreinigerin Smita, die ohne ihren Ehemann, einem gewerbsmäßigen Rattenfänger, mit ihrer Tochter zu Verwandten nach Chennai reist, um Lalita eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Smita stirbt jedoch wenige Monate nach der Ankunft an einer Lungenkrankheit. An dieser Stelle knüpft Laetitia Colombani mit ihrem dritten Roman an: Lalita ist „Das Mädchen mit dem Drachen“.

Das gefühlvolle Buch dreht sich um Verlust und Trauer, die Bedeutung von Bildung, Unterdrückung von Frauen und Mädchen, um weibliche Solidarität, Selbstverteidigung und Emanzipation. Die Geschichte spielt in einer Gesellschaft, in der das Elend von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Egal wie unglücklich diese Menschen sind, sie sind nicht bereit, überlieferte Gepflogenheiten aufzugeben. Dabei sorgt die Praxis der Kinderheirat nachweislich dafür, dass der Kreislauf der Armut aufrechterhalten wird. Frauen, die sehr jung heiraten, setzen zahlreiche Kinder in die Welt, die sie nur mit Mühe ernähren können. Mangelnde Bildung blockiert nicht nur die eigenen Entwicklungsperspektiven, sondern auch die ihrer Nachkommen.

„Das Mädchen mit dem Drachen“ ist alles andere als ein Opus magnum. Laetitia Colombani hält die Darstellung kurz, knapp und schnörkellos. Allerdings bleibt dabei auch wenig Raum für Nuancen, Reflexionen und Tiefgang. Einiges wirkt plakativ, und Laetitia Colombani leuchtet auch die Charaktere nicht weiter aus. Obwohl sie auch Schauspielerin, Regisseurin und Drehbuchautorin ist, inszeniert sie in „Das Mädchen mit dem Drachen“ allenfalls skizzenhaft und erzählt stattdessen die Geschichte.

Die leichte und unterhaltsame Lektüre bewegt sich in der Nähe der Wohlfühlliteratur. Empfehlenswert ist sie, weil der Roman am extremen Beispiel der indischen Gesellschaft die Entrechtung von Frauen thematisiert und dazu ermutigt, sich dagegen aufzulehnen. Mit zwei engagierten Frauen wie der Französin Léna und der Inderin Preeti, die in einem Slum eine Schule gründen, zeigt Laetitia Colombani, dass sich der gewohnte Kreislauf durchbrechen lässt und eine Entwicklung zum Besseren möglich ist.

Den Roman „Das Mädchen mit dem Drachen“ von Laetitia Colombani gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Cathlen Gawlich.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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