Annie Ernaux : Der junge Mann

Der junge Mann
Le jeune homme Éditions Gallimard, Paris 2022 Der junge Mann Übersetzung: Sonja Finck Suhrkamp Verlag, Berlin 2023 ISBN 978-3-518-43110-8, 48 Seiten ISBN 978-3-518-77539-4 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die arrivierte Ich-Erzählerin, eine 54 Jahre alte Schriftstellerin, lässt sich auf eine Affäre mit dem fast 30 Jahre jüngeren Studenten A. ein. Er profitiert von ihrem Wohlstand, und sie nutzt die Affäre, um sich an ihre eigene Vergangenheit zu erinnern und ein Stück davon literarisch aufarbeiten zu können. Sobald A. seinen Zweck erfüllt hat, verlässt sie ihn.
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Kritik

Die autofiktionale Erzählung "Der junge Mann" von Annie Ernaux kreist um den Zusammenhang von Sex, Macht und Schaffenskraft. Ungeachtet des Titels geht es nicht um den jungen Geliebten der ebenso emanzipierten wie unsentimentalen Schriftstellerin, sondern ihre Gedanken sind egozentrisch.
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Der junge Mann

Vor fünf Jahren verbrachte ich eine unbeholfene Nacht mit einem Studenten, der mir seit einem Jahr schrieb und der sich mit mir hatte treffen wollen.

Mit diesem Satz beginnt Annie Ernaux ihre autofiktionale Erzählung „Der junge Mann“. Die Schriftstellerin erlebte Sex nicht selten als Motor ihrer Tätigkeit:

Ich hatte schon oft Sex, um mich zum Schreiben zu zwingen. […] Ich hoffte, nachdem die heftigste Erwartung vorbei wäre, die des Orgasmus, würde sich die Gewissheit einstellen, dass es nichts Lustvolleres gibt, als ein Buch zu schreiben.

Der schüchterne Student in Rouen, dessen Namen die Ich-Erzählerin nur mit A. angibt, ist fast 30 Jahre jünger als die 54-Jährige. Zunächst achtet er darauf, dass seine gleichaltrige, mit ihm zusammenlebende Freundin nichts von der Affäre erfährt, aber dann trennt er sich von ihr, damit die ältere Frau die Wochenenden bei ihm verbringen kann. Die Schriftstellerin studierte selbst in Rouen, aber das war in den Sechzigerjahren. Ende 1963 wurde sie in dem Krankenhaus, das man von A.s Fenster sehen kann, wegen einer starken Blutung nach einer heimlichen Abtreibung behandelt.

Im Gegensatz zu der arrivierten Schriftstellerin ist A. mittellos.

Er hatte noch nie gewählt und auch noch nie einen Wahlschein beantragt. Er glaubte nicht, dass man die Gesellschaft verändern konnte, es reichte ihm, sich anzupassen, der Arbeit möglichst aus dem Weg zu gehen und ansonsten die Vorteile zu nutzen, die sich ihm boten.

An eine gemeinsame Zukunft denkt sie nicht einmal. Sie betrachtet die Affäre als Zweckbeziehung:

Er bereitete mir Lust, und dank ihm erlebte ich Dinge, die noch einmal zu erleben ich nie geglaubt hätte. Dass ich ihn auf Reisen einlud und er sich meinetwegen keine Arbeit suchen musste, denn dann hätte er weniger Zeit für mich gehabt, erschien mir ein fairer Handel, ein gutes Geschäft, zumal ich diejenige war, die die Regeln bestimmte. Ich befand mich in einer Machtposition.

Die ältere Frau registriert ein „Gefühl der Wiederholung“.

Anders als mit achtzehn oder fünfundzwanzig, als ich ganz in den Geschehnissen gelebt hatte, ohne Vergangenheit oder Zukunft, hatte ich in Rouen mit A. den Eindruck, Szenen und Gesten wiederaufzuführen, die bereits stattgefunden hatten, das Theaterstück meiner Jugend.

Wenn sie mit ihrem jungen Geliebten ein Restaurant besucht, spürt sie die missbilligenden Blicke anderer Gäste. In ihrer Jugend schämte sie sich, wenn andere sie anstarrten, aber jetzt empfindet sie es als befreiend, die Scham überwunden zu haben.

A. wünscht sich ein Kind mit ihr, zwar mit der Eizelle einer Unbekannten gezeugt, aber von ihr ausgetragen. Aber das kommt für sie nicht in Frage. Ihr letztes Kind, den zweiten Sohn, bekam sie im Alter von 28 Jahren.

Erneut denkt sie an die Abtreibung 1963 in Rouen.

Je weiter ich mit dem Schreiben über dieses Ereignis, das vor seiner Geburt stattgefunden hatte, vorankam, desto unwiderstehlicher fühlte ich mich dazu getrieben, ihn zu verlassen. Als wollte ich ihn von mir lösen und abstoßen, so wie ich es gut dreißig Jahre zuvor mit dem Embryo getan hatte. Ich arbeitete ohne Unterbrechung an meiner Erzählung und parallel dazu, mittels einer entschlossenen Distanzierung, an der Trennung. Zwischen ihr und dem Ende des Buchs lagen nur wenige Wochen.
Es war Herbst, der letzte des 20. Jahrhunderts. Ich stellte fest, wie glücklich ich war, allein und frei ins dritte Jahrtausend einzugehen.

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Die autofiktionale Erzählung „Der junge Mann“ von Annie Ernaux kreist um den Zusammenhang von Sex, Macht und Schaffenskraft.

Ein arrivierter älterer Mann leistet sich eine Geliebte, die seine Tochter sein könnte und in der gesellschaftlichen Hierarchie weit unter ihm steht. Das kennt man ebenso wie den Dichter oder Künstler mit einer Geliebten als Muse. Annie Ernaux dreht die Konstellation von Sex und Macht um: In „Der junge Mann“ ist es die ältere Frau, die den unterlegenen jüngeren Mann instrumentalisiert. Aber um ihn geht es im Grunde auch gar nicht.

Die Gedanken der ebenso emanzipierten wie unsentimentalen Ich-Erzählerin sind egozentrisch. Sie nutzt die Affäre mit dem jungen Mann, um sich an ihre eigene Vergangenheit zu erinnern und ein Stück davon literarisch aufarbeiten zu können. Sobald A. seinen Zweck erfüllt hat, verlässt ihn die Ich-Erzählerin.

Das Manuskript schrieb Annie Ernaux 1998 bis 2000. 2022 wurde die 82-Jährige mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, und im selben Jahr veröffentlichte Gallimard ihre überarbeitete Erzählung „Le jeune homme“ / „Der junge Mann“.

Die Erzählung „Der junge Mann“ von Annie Ernaux gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Maren Kroymann.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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