Arno Geiger : Der alte König in seinem Exil
Inhaltsangabe
Kritik
Als ich sechs Jahre alt war, hörte mein Großvater auf, mich zu erkennen. Er wohnte im Nachbarhaus unterhalb unseres Hauses, und weil ich seinen Obstgarten als Abkürzung auf dem Weg zur Schule benutzte, warf er mir gelegentlich ein Scheit Holz hinterher, ich hätte in seinen Feldern nichts verloren. Manchmal jedoch freute ihn mein Anblick, er kam auf mich zu und nannte mich Helmut. Das war ebenfalls nichts, womit ich etwas anfangen konnte. Der Großvater starb. Ich vergaß diese Erlebnisse – bis die Krankheit bei meinem Vater losging.
Mit diesen Worten beginnt Arno Geiger sein Buch „Der alte König in seinem Exil“.
August Geiger, sein Vater, wurde am 4. Juli 1926 als drittes von zehn Kindern einer Kleinbauernfamilie in Wolfurt in Vorarlberg geboren. Augusts Mutter Theresia war die Tochter eines Schmieds. Ihr Ehemann Adolf besserte das auf dem Bauernhof erzielte Einkommen als Stromableser auf. Nachdem August Geiger im Februar 1944 die Kriegsmatura erhalten hatte, wurde der Achtzehnjährige zum Kriegsdienst eingezogen. In russischer Kriegsgefangenschaft nagte er einen verdorbenen Suppenknochen ab und erkrankte an Ruhr. Abgemagert kam er nach Hause. Mit sechsundzwanzig wurde er Gemeindeschreiber in Wolfurt. Ende der Fünfzigerjahre begann er, auf dem Grundstück der Eltern ein Haus zu bauen und machte dabei so viel wie möglich selbst. 1963 heiratete der Siebenunddreißigjährige eine fünfzehn Jahre jüngere Lehrerin, die in St. Pölten aufgewachsen war.
Beide konnten den Erwartungen des anderen nicht entsprechen, selbst die Art und Weise, sich mitzuteilen, war grundverschieden. Es gab einen unüberwindbaren kulturellen Bruch zwischen den Jahrgängen und Herkunftswelten, mein Vater aus einer bäuerlichen Großfamilie, meine Mutter aus einer proletarischen Rumpffamilie, er sozialisiert in der Vorkriegszeit, sie in der Nachkriegszeit, er gezeichnet von Krieg und Gefangenschaft, sie von Armut und Heimatfilmromantik, unterschiedliche Erwartungen, unterschiedliche Werte, unterschiedliche Empfindungswelten, er mit seiner Vorliebe für das Einfache und Karge, sie mit ihrer Vorliebe für das Sinnliche und Warme, er mit seiner Vorliebe für Geselligkeit, sie mit ihrer Vorliebe für Bildung.
Das Ehepaar bekam vier Kinder: Peter, Helga, Werner und Arno.
Nach der Pensionierung verliert August Geiger das Interesse an seiner Umwelt. Seine Angehörigen werfen ihm das vor und glauben, die Interesselosigkeit sei charakteristisch für ihn. Sie nehmen an, es fehle ihm an Motivation. Und seine sich häufenden Erinnerungslücken halten sie für Vergesslichkeit.
Seine Frau trennt sich nach dreißig Jahren Ehe von ihm, allerdings ohne sich scheiden zu lassen.
Obwohl August Geiger Wolfurt nur ungern verlässt, reist er 1998 mit Maria, der ältesten seiner drei Schwestern, nach Lourdes.
Erst allmählich begreifen die Angehörigen, dass er an Alzheimer erkrankt ist. Statt ihn weiter durch Richtigstellungen und Zurechtweisungen zu verunsichern, versuchen sie nun, ihn durch Bestätigungen zu beruhigen, auch wenn sie dazu auf seine verwirrten Vorstellungen eingehen müssen.
Da mein Vater nicht mehr über die Brücke in meine Welt gelangen kann, muss ich hinüber zu ihm.
August Geiger bekommt Essen auf Rädern. Morgens und abends betreut ihn ein ambulanter Hilfsdienst. Die erwachsenen Kinder wechseln sich bei der Pflege des Vaters ab.
Die Krankheit des Vaters hielt den Familienzerfall auf.
Schließlich wird eine Pflegerin aus Osteuropa eingestellt. Sie hört bald wieder auf, und auch die meisten ihrer Nachfolgerinnen bleiben nicht lang.
2004 erkennt August Geiger sein von ihm selbst gebautes Haus nicht mehr. Er wundert sich darüber, dass auf dem Bildschirm des Fernsehgeräts ein Zimmer zu sehen ist und gleich darauf ein Auto. Den Nachrichtensprecher versucht er, mit Weihnachtsplätzchen zu füttern.
Einmal hatte er ein Brot vor sich auf dem Teller und bedauerte, nicht zu wissen, was er damit tun solle. Er fragte mich um Rat. Ich sagte:
„Du musst nur abbeißen.“
Mit dieser Anweisung konnte er nichts anfangen. Betrübt antwortete er:
„Tja, wenn ich wüsste, wie das geht. Weißt du, ich bin ein armer Schlucker.“
Wenn Arno Geiger, der seit 1993 in Wien lebt, den Vater in Wolfurt besucht, kommt es ihm vor, als sehe er ihm „in Zeitlupe beim Verbluten zu“.
Das Leben sickert Tropfen für Tropfen aus ihm heraus. Die Persönlichkeit sickert Tropfen für Tropfen aus der Person heraus.
Auch für einen einigermaßen Gesunden ist die Ordnung im Kopf eine Fiktion des Verstandes.
Uns Gesunden öffnet die Alzheimerkrankheit die Augen dafür, wie komplex die Fähigkeiten sind, die es braucht, um den Alltag zu meistern. Gleichzeitig ist Alzheimer ein Sinnbild für den Zustand unserer Gesellschaft. Der Überblick ist verlorengegangen, das verfügbare Wissen nicht mehr überschaubar, pausenlose Neuerungen erzeugen Orientierungsprobleme und Zukunftsängste. Von Alzheimer reden heißt, von der Krankheit des Jahrhunderts reden. Durch Zufall ist das Leben des Vaters symptomatisch für diese Entwicklung. Sein Leben begann in einer Zeit, in der es zahlreiche feste Pfeiler gab (Familie, Religion, Machtstrukturen, Ideologien, Geschlechterrollen, Vaterland) und mündete in die Krankheit, als sich die westliche Gesellschaft bereits in einem Trümmerfeld solcher Stützen befand.
Arno Geiger notiert sich Äußerungen seines Vaters.
„Mir geht es meiner Beurteilung nach gut“, sagte er. „Ich bin jetzt ein älterer Mann, jetzt muss ich machen, was mir gefällt, und schauen, was dabei herauskommt.“
„Und was willst du machen, Papa?“
„Nichts eben. Das ist das Schönste, weißt du. Das muss man können.“„Das Leben ist ohne Probleme auch nicht leichter.“
[Pflegerin Daniela:] „Hier hast du deinen Hut.“
[August Geiger:] „Das ist recht und gut. Aber wo ist mein Gehirn?“
Als Arno Geiger seine Schwester Helga fragt, ob sie etwas zu seinem geplanten Buch über die Demenz des Vaters beitragen könne, winkt sie ab: Sie mag lieber nicht darüber nachdenken, denn sie findet es zum Weinen.
Wohl fühlt August Geiger sich vor allem im Beisein seiner jüngsten Enkelin Eva.
Sie kannte den Großvater nicht anders als mit Alzheimer, und die Zuneigung, mit der sie ihm begegnete, war von solcher Unbefangenheit, dass er ganz selbstverständlich darauf ansprach. Weil das Mädchen in ihrem Kopf frei war, war der Großvater es in ihrem Beisein auch.
Im März 2009 wird der Dreiundachtzigjährige von seinen Angehörigen in die Pflegestation des örtlichen Altersheimes gebracht.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Nach Tilman Jens (Demenz. Abschied von meinem Vater, Gütersloher Verlags-Haus, Gütersloh 2009, 141 Seiten, ISBN 978-3-579-06998-2; Vatermord. Wider einen Generalverdacht, Gütersloher Verlags-Haus, Gütersloh 2010, 191 Seiten, ISBN 978-3-579-06870-1) hat Arno Geiger ein Buch über die Demenz seines Vaters geschrieben: „Der alte König in seinem Exil“.
Arno Geiger erläutert weder Demenz noch Alzheimer-Krankheit. Stattdessen folgt er dem Motto, das er dem Buch vorangestellt hat. Es handelt sich um ein Zitat des japanischen Künstlers Katsushika Hokusai (1760 – 1849): „Man muss auch das Allgemeine persönlich darstellen.“ Der österreichische Schriftsteller (* 1968) schildert Erlebnisse mit seinem dementen Vater August Geiger und gibt viele sprachliche Äußerungen des Kranken wider. Da es sich dabei naturgemäß fast ausschließlich um tragikomische Fehlleistungen aufgrund fehlender Orientiertheit handelt, werfen Kritiker Arno Geiger vor, Defekte seines Vaters auszustellen und ihn auszuplündern. Man kann „Der alte König in seinem Exil“ aber auch als Liebeserklärung des Sohnes an den Vater lesen. Arno Geiger bedauert es, so wenig über seinen Vater aus der Zeit zu wissen, als dieser noch gesund war. Umso eifriger hat er sich offenbar notiert, was ihm während seiner Besuche bei einem dementen Vater auffiel. Vieles davon berührt auch den Leser.
Lesenswert ist „Der alte König in seinem Exil“, weil man einen lebendigen Eindruck davon bekommt, wie ein an Demenz bzw. Alzheimer Erkrankter von seinen Angehörigen wahrgenommen wird. Was der Kranke selbst fühlt und erlebt, lässt sich nicht sagen.
„Der alte König in seinem Exil“ ist zwar für den Preis der Leipziger Buchmesse 2011 nominiert, aber kein literarisches Meisterwerk. Dem Buch mangelt es an Form und Aufbau; „Der alte König in seinem Exil“ ist kaum mehr als eine Anekdotensammlung, und jedem Kapitel hat Arno Geiger auch noch ein paar kurze Dialoge mit seinem dementen Vater vorangestellt. Dass die Struktur am Ende zerbröckelt, mag als Sinnbild der Alzheimer-Erkrankung gewollt sein, ist aber nicht überzeugend.
„Der alte König in seinem Exil“ von Arno Geiger gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Matthias Brandt (Regie: Margrit Osterwold, Hamburg 2011, 4 CDs, ISBN 978-3-89903-036-5).
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2011
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag
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