Charlotte Gneuß : Gittersee

Gittersee
Gittersee Originalausgabe S. Fischer Verlag, Frankfurt/M 2023 ISBN 978-3-10-397088-3, 239 Seiten ISBN 978-3-10-491410-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Dresden 1976. Karin, eine 16 Jahre alte Schülerin im Stadtteil Gittersee, muss sich um ihre zweijährige Schwester kümmern, weil beide Eltern arbeiten und die Großmutter nicht mehr dazu in der Lage ist. Ernst genommen fühlt sie sich nur von dem Stasi-Offizier Wickwalz, der seit der Republikflucht ihres festen Freundes Paul regelmäßig auftaucht und sie schließlich überredet, eine Verpflichtungserklärung als informelle Stasi-Mitarbeiterin zu unterschreiben.
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Kritik

Ihren Debütroman "Gittersee" entwickelt Charlotte Gneuß konsequent aus der Perspektive der Ich-Erzählerin, die zwar gut beobachtet, aber nicht alle Zusammenhänge überblickt und manipuliert wird. Gedankensprünge und literarische Ellipsen zwingen beim Lesen dazu, sich Gedanken über das Geschehen zu machen. Es geht um den Drang nach Freiheit, der mit der Staatsmacht ebenso wie mit der Enge der Wohn- und Lebensverhältnisse kontrastiert.
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Republikflucht

Karin („Komma“) Köhler ist 16 Jahre alt und wohnt 1976 mit ihren Eltern, der zweijährigen Schwester und der Großmutter im Dresdner Stadtteil Gittersee. Ihre aus einer reichen Familie stammende Mutter war 15, als sie mit ihr schwanger wurde. Vor allem der Großmutter missfällt es, wenn Karin von ihrem Freund Paul Forster abgeholt wird und sie hinter ihm aufs Kleinkraftrad klettert.

Oma war stinksauer. Was mir einfiele. Ob ich verrückt geworden sei. Was der Lümmel gewollt habe. Dass ich doch nicht einfach mit jedem Dahergelaufenen mitfahren könne. Ich nahm ihr die Kleine ab, die durchgehend plärrte, und erklärte, dass Paul kein Dahergelaufener sei.

Küsse und die Berührung der Körper erregen Karin, aber wenn Paul sie penetriert, empfindet sie es als schmerzhaft.

[…] er war so schnell, so gierig. Ich hatte nie etwas gesagt, immer hatte ich nur gekeucht und geschrien, weil ich glaubte, Schreien und Keuchen würden ihm gefallen. Und weil er glaubte, es gefiele mir, wenn ich keuchte und schrie, wurde er schneller und heftiger, ich keuchte und schrie, bis er fertig war.

Paul ist mit Robert Emmanuel Rühle befreundet. Die beiden arbeiten unter Tage in einem Steinkohle-Bergwerk. Bevor sie angeblich zu einer Klettertour aufbrechen, fordert Paul Karin zum Mitkommen auf, aber sie wagt es erst gar nicht, ihre Eltern um Erlaubnis zu fragen, denn sie muss auf ihre kleine Schwester aufpassen.

Kurz darauf wird Karin von den beiden Stasi-Offizieren Hamm und Wickwalz zu einer Vernehmung abgeholt. Man unterstellt ihr, von Pauls Absichten gewusst zu haben. Er hat Republikflucht begangen, und Karin drohen Schwierigkeiten wegen Beihilfe. Ihr entging zwar nicht, dass Paul viel Bargeld in einem Reifen seines Motorrads versteckte, aber dazu erklärte er, dass er Kletterzeug kaufen wolle. Karin ahnte tatsächlich nichts von seinen Plänen.

Von Rühle erfährt sie dann, dass sich die beiden Männer über die sächsisch-tschechiche Grenze absetzen wollten. Bei Bösenbrunn kampierten sie. Am nächsten Morgen wurde Rühle aus dem Zelt heraus festgenommen. Paul war nicht mehr da.

Sommer

Immer wieder begegnet Karin dem Stasi-Offizier Wickwalz. Er ist freundlich, gibt sich besorgt, und sie fühlt sich – anders als in der Familie – von ihm ernst genommen. Er erklärt ihr:

Der Kapitalismus wird mit jedem Jahr schlimmer, der Kapitalismus wird mit jedem Jahr größer. Der Kapitalismus ist wie ein Fahrrad, das nur dann nicht umfällt, wenn es fährt. Sobald eine Wirtschaftskrise kommt, braucht die ach so freie Wirtschaft Hilfe vom Staat.

In einem Schuppen der Gartenanlage, in der sich Paul und Rühle häufig trafen, findet Karin ein von den beiden benutztes Notizheft. Das übergibt sie Wickwalz.

Bei einem Gartenfest beobachtet Karin, wie die mit ihr befreundete Mitschülerin Marie Limbo tanzt, während zwei andere Mädchen ein Seil spannen.

Das Seil war jetzt über der Brust, noch ein Schritt, das Seil am Schlüsselbein, noch ein Schritt da rissen Marlene und Kerstin das Seil tiefer, Marie erschrak, bäumte sich auf, und schon schnitt ihr das Seil in den Hals, sie taumelte. Gegröle. Gelächter. Sprüche. Marie hielt sich die Hand um den Hals und versuchte ein Lächeln […].

Das letzte Schuljahr beginnt.

Karins Mutter verlässt die Familie und zieht zu ihrer Freundin Ute in einem anderen Stadtteil von Dresden. Der Vater sucht Zuflucht im Alkohol.

Verrat

Wickwalz trifft sich jede Woche einmal mit Karin. Schließlich lässt sie sich von ihm überreden, eine Verpflichtungserklärung als informelle Mitarbeiterin zu unterschreiben und schwört, ihm nichts zu verheimlichen.

Marie vertraut Karin an, dass ihr Vater im Westen lebt. Er wurde in Oberursel geboren und wohnte in Westberlin, als er Maries Mutter kennenlernte. Weil die in einer Großküche arbeitende Frau befürchtet, dass der Staat Marie einen Studienplatz verweigern würde, falls er von der Westverwandtschaft wüsste, hält sie es geheim, obwohl der Kontakt weiter besteht.

Einige Zeit später berichtet Marie ihrer Freundin, dass ihr Vater Pauls Adresse herausgefunden habe.

Das verschweigt Karin beim nächsten Treffen mit Wickwalz, aber sie erzählt ihm von Marie, deren Mutter, dem im Westen lebenden Vater und Maries Tante Hedwig.

Als Marie dann nicht in die Schule kommt, geht Karin zu ihr – und erfährt, dass Tante Hedwig verhaftet wurde und Marie kein Abitur machen darf, sondern Näherin oder Krankenschwester werden soll. Die Mutter vermutet, dass die Stasi etwas über Maries Vater herausgefunden habe.

Karin weiß es besser: Nachdem sie erfahren hatte, dass Maries Vater Pauls Adresse kannte, schickte sie Maries Tante Hedwig ein Paket mit der Bitte, es an Maries Vater weiterzuleiten, über den es Paul dann erhalten sollte. Paul berichtete darüber in einem Brief an Rühle, der von der Stasi geöffnet wurde. Wickwalz weiß also, dass Karin zwar Marie und deren Angehörige verriet, aber Entscheidendes verschwieg. Das dürfte Folgen haben.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Showdown

Als Karin mit Rühle redet, erfährt sie, dass auch er sich regelmäßig mit Wickwalz traf. Allerdings verschwieg er seinen weiter bestehenden Kontakt mit Paul.

Rühle und Karin müssen weg.

Für den Abend wurde Karin von Wickwalz zum Waldplatz bestellt. Sie verabredet sich dort mit Rühle und schickt ihn dann allein weiter.

Es ist zu gefährlich, zu zweit zu gehen, sagte ich zu Rühle und nahm den Draht aus der Tasche, geh du allein vor. […] Ich werde nachkommen, versicherte ich, versprochen.

Er ahnt nicht, dass sie Draht mitgebracht hat und diesen nun zwischen zwei Buchen spannt, und zwar in der Höhe, in der sich der Hals eines Motorradfahrers befindet.

Dann kam Wickwalz die Straße entlanggesaust, und weil er wie immer pünktlich war, wurde sein Sturz vom Geläut dr Sieben-Uhr-Glocke verschluckt.

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In ihrem Debütroman „Gittersee“ erzählt Charlotte Gneuß „vom systemimmanenten Verlust der Unschuld“ (Christoph Schröder, Süddeutsche Zeitung, 30. August 2023) in der DDR. Ich-Erzählerin ist eine 16 Jahre alte Schülerin in Dresden, die auf ihre zweijährige Schwester aufpassen muss, weil beide Eltern arbeiten und die Großmutter nicht mehr dazu in der Lage ist. Die Mutter war bei Karins Geburt 15. Als sie zu einer Freundin zieht, sucht ihr Ehemann Zuflucht im Alkohol. Ernst genommen fühlt Karin sich nur von dem Stasi-Offizier Wickwalz, der sich seit der Republikflucht ihres festen Freundes Paul regelmäßig mit ihr trifft und sie schließlich überredet, eine Verpflichtungserklärung als informelle Stasi-Mitarbeiterin zu unterschreiben.

Charlotte Gneuß erzählt konsequent aus der Sicht der Jugendlichen, die zwar gut beobachtet, aber nicht alle Zusammenhänge überblickt und manipuliert wird. Die Staatsmacht, aber auch die Enge der Wohn- und Lebensverhältnisse kontrastieren mit dem Freiheitsdrang zum Beispiel Pauls, der die Aufnahmeprüfung für die Kunsthochschule nicht bestand und in den Westen flüchtet.

In „Gittersee“ geht es auch um Verrat und Mord. Was am Ende geschieht, wird durch den Prolog (!) verständlich.

Es ist früh am Tag und spät im Jahr. Rühle steht still. Vor seinen Augen glänzt ein Draht, der straff zischen den Buchen gespannt ist. Zu seinen Füßen ragt eine Hand aus einem Mantelärmel. […] Der Körper, der zur Hand gehört, wird von einem Motorrad bedeckt. […] Es dauert, bis Rühle die Knoten gelöst hat, den Draht wickeln und in seine Tasche stecken kann.

Charlotte Gneuß erlaubt der Ich-Erzählerin Gedankensprünge und fügt literarische Ellipsen ein, die beim Lesen dazu zwingen, sich Gedanken über das Geschehen zu machen.

Die Handlung von „Gittersee“ spielt 1976 in der DDR. Aber Charlotte Gneuß wurde 1992 in Ludwigsburg geboren. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Buchbinderin, studierte Soziale Arbeit in Dresden, später am Literaturinstitut Leipzig und an der Universität der Künste Berlin. 2023 debütierte sie mit dem Roman „Gittersee“. Dafür wurde sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet und schaffte es auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis.

Der Jury wurde dann unter öffentlich nicht bekannten Umständen eine Liste mit 24 Korrekturvorschlägen zugespielt, die der 1962 in Dresden geborene Schriftsteller Ingo Schulze im Auftrag des Verlags S. Fischer erstellt hatte. Dabei ging es vor allem um Einzelheiten, die von der Realität in der ehemaligen DDR abwichen. Charlotte Gneuß wurde erst nach der Wende geboren und kennt die Lebensverhältnisse in der DDR nicht aus eigener Erfahrung, sondern aus „Erinnerungen und Erzählungen“ ihrer Eltern und Großmütter, für die sie sich im Nachwort bedankt. Die Veröffentlichung von Ingo Schulzes Liste löste eine Diskussion darüber aus, ob Literatur authentisch zu sein habe. Dabei ist doch nichts daran auszusetzen, wenn eine Schriftstellerin Fiktion und Fakten verbindet und dabei eine nachvollziehbare Handlung entwickelt. Nichts anderes geschieht in historischen Romanen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © S. Fischer Verlag

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