Abdulrazak Gurnah : Das verlorene Paradies

Das verlorene Paradies
Paradise Hamish Hamilton, London 1994 Das verlorene Paradies Übersetzung: Inge Leipold Krüger Verlag, Frankfurt/M 1996 ISBN 978-3-8105-0888-1, 335 Seiten Neuausgabe Penguin Verlag, München 2021 ISBN 978-3-328-60258-3, 334 Seiten ISBN 978-3-641-29437-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befindet sich die multiethnische und -religiöse Gesellschaft Ostafrikas im Umbruch von der arabisch-muslimischen zur europäischen Kolonisation. Der 12-jährige Yusuf wird von seinem bei einem reichen arabischen Kaufmann überschuldeten Vater dem Gläubiger übereignet, wächst als Ladengehilfe auf und übersteht eine gefährliche Handelsreise, bevor die Frau des Kaufmanns auf den ungewöhnlich schönen jungen Mann aufmerksam wird.
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Kritik

Vor dem Hintergrund der ostafrikanischen Geschichte entwickelt der Nobelpreisträger Abdulrazak Gurnah eine Coming-of-Age-Geschichte aus der Perspektive des Protagonisten und beschäftigt sich mit dem Thema Freiheit. Man kann "Das verlorene Paradies" auch als farbigen Abenteuerroman lesen. Abdulrazak Gurnah achtet mehr auf lebendige und einfallsreiche Szenen als auf eine psychologische Ausleuchtung der Charaktere.
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Yusuf und Khalil

Yusufs Vater hatte einen kleinen Laden betrieben, bis er zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Familie in die Kleinstadt Kawa an der ostafrikanischen Swahili-Küste zog und ein Hotel mit vier Betten in einem Raum eröffnete. Vier Jahre später übergeben die Eltern den zwölfjährigen Sohn ohne weitere Erklärungen einem reichen arabischen Kaufmann, der während seiner weiten Reisen schon des Öfteren zu Gast war und den Yusuf als „Onkel Aziz“ anspricht.

Der Kaufmann reist nach Hause und beauftragt einen 17 oder 18 Jahre alten Jungen namens Khalil, Yusuf in dem zum Anwesen gehörenden Laden zu beschäftigen. Erst von Khalil erfährt Yusuf, dass der Seyyid – so die respektvolle Anrede – nicht mit ihm verwandt ist. Offenbar lieh Yusufs Vater sich von dem Kaufmann Geld für die Hoteleröffnung, und weil er die Schulden nicht anders abtragen konnte, übereignete er ihm seinen Sohn, um seine eigene Freiheit zurückzuerlangen.

Khalil erging es ähnlich: Sein Vater betrieb einen kleinen Laden in einem Fischerdorf an der Mrimaküste südlich von Bagamoyo. Er hatte sich von Aziz Geld für den Kauf eines Fischerboots geliehen, und als das vor neun Jahren auf ein Riff lief und zerstört wurde, verlangte der Gläubiger die siebenjährige Tochter Amina. Als sie im letzten Jahr seine zweite Ehefrau wurde, hätte der Seyyid ihren als Pfand mitgenommenen Bruder freigegeben, aber Khalil bleibt bei Amina.

Amina ist nicht wirklich Khalils Schwester. Als sie noch ein kleines Kind war, wurde die Familie im Schlaf überfallen. Khalils Vater rettete Amina, als sie und ihre Schwester verschleppt werden sollten. Amina und Khalil wuchsen wie Geschwister auf, und der Vater gab ihr auch seinen Familiennamen.

Bei Hamid

Nach ein paar Jahren nimmt der Seyyid Yusuf auf eine Handelsreise ins Landesinnere mit und übergibt ihn Hamid Suleiman, einem Geschäftspartner, der ebenfalls einen Laden betreibt,.

Yusuf hört von einem reisenden Händler, der bei Hamid Station macht, dass die Europäer sogar Tote wieder zum Leben erwecken können. Der Gast behauptet, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie einer von ihnen einem Toten in den Mund atmete und ihn wiederbelebte.

Als sich Hamid von dem indischen Mechaniker „Kalasinga“, der eigentlich Harbans Singh heißt, im schrottreifen Lieferwagen zu den Dörfern auf den Berghängen bringen lässt, nimmt er Yusuf mit. So begegnet der inzwischen 16-Jährige dem bescheidenen Ladenbesitzer Hussein, der Hamid davor warnt, sich mit den Beteiligungen an den Geschäften des arabischen Kaufmanns zu übernehmen.

Yusuf ist gerade 17 geworden, als Hamids Ehefrau Maimuna merkt, dass er ihre Tochter Asha begehrt. Zu ihrer Erleichterung kommt gerade rechtzeitig Aziz mit einer neuen Handelskarawane vorbei und nimmt Yusuf mit.

Die große Handelsreise

Dieses Mal hat sich der arabische Kaufmann bei indischen Geldverleihern verschuldet und eine riesige Expedition mit 45 Trägern und Wachmännern ausgerüstet, die von Mohammed Abdalla mit Hilfe des Aufsehers „Simba“ Mwene geführt wird.

Während sich die Karawane Mkata nähert, wird dort eine Frau von einem Krokodil getötet, und der Sultan wirft den Reisenden deshalb vor, Unglück zu bringen. Erst nachdem Hyänen nachts einen Träger angefallen haben und er kurz darauf stirbt, gibt sich der Sultan mit einer Tributzahlung zufrieden.

In der Stadt Tayari starb vier Tage vor dem Eintreffen der Karawane die Frau des Sultans. Der Trauernde lässt sich von bis zur Taille nackten Frauen bedienen, trinkt Bier aus einer Kürbisflasche und fordert den Kaufmann auf, es ebenfalls zu tun. Dessen höfliche Ablehnung amüsiert ihn, und der Dolmetscher Nyundo übersetzt:

„Er fragt, was für ein grausamer Gott das ist, der es Männern nicht erlaubt, Bier zu trinken.“

Später klagt er, er habe seine Frau noch nicht bestatten können, weil es an einem Leichentuch mangele. Sofort bietet ihm Aziz fünf Ballen Baumwolle an, aber das weisen Männer des Sultans als Beleidigung zurück. Am Ende einigt man sich auf 120 Ballen.

Mückenstiche, dadurch übertragene Krankheiten und immer höhere Tribut-Forderungen setzen der Handelskarawane zu.

Am Rand einer Siedlung, deren Sultan Chatu heißt, errichten die Händler ein Lager. Sie kaufen Lebensmittel von den Bewohnern, dazu Holz und Stroh, um eine Hütte für die Kranken errichten zu können.

Beim Empfang einer Abordnung gibt Chatu sich höflich und freundlich, aber nachts überfallen seine Männer das Lager der Händler. Es gibt nicht nur Tote und Verletzte, sondern die Angreifer rauben auch alles, was von Wert ist. Chatu erklärt dem Kaufmann schließlich, er habe zwei Jahre zuvor Händlern wie ihm in gutem Glauben mehr Gold, Elfenbein und Leder mitgegeben, als sie bezahlen konnten, weil sie wiederzukommen versprachen – was sie aber nicht taten. Nun will er sich dafür an Aziz schadlos halten.

Der Kaufmann weigert sich, den Ort ohne Handelsgüter zu verlassen, denn die Karawane könnte die fünf Monate dauernde Rückreise nicht mittellos überstehen.

Da trifft eine von einem Europäer geführte Marschkolonne von Askaris ein.

Hastig erzählte der Händler seine Geschichte und bat um Rückgabe der Güter, die man ihm geraubt hatte. Nachdem der Europäer sich den Bericht angehört hatte, gähnte er und sagte, er wolle jetzt schlafen. Wenn er wieder wach sei, solle man Chatu zu ihm bringen. […]
Endlich trat der Europäer aus seinem Zelt; sein Gesicht war gerötet und zerknittert vom Schlaf. Er wusch sich gründlich, als wäre er allein und nicht von Hunderten Leuten umringt. Dann setzte er sich an den Tisch und aß die Mahlzeit, die sein Diener ihm auftrug. Als er fertig war, bedeutete er dem Händler und Chatu näher zu treten.

Der Europäer befiehlt Chatu, die Beute zurückzugeben und schickt den arabischen Kaufmann dann fort.

Die Karawane hat ein Viertel der Männer und fast die Hälfte der Handelsgüter eingebüßt. Zu Hause verhandelt der Kaufmann mit seinen Geschäftspartnern und Gläubigern, die alle auf einen Teil ihrer Forderungen verzichten müssen.

Zulekha

Yusuf hilft nun wieder Khalil im Laden. Jede freie Minute nutzt er, um im Garten zu arbeiten, dessen Pflege dem greisen Gärtner Mzee Hamdani obliegt. Dabei fällt der schöne junge Mann der Mistress auf, die das Haus nicht verlässt und ihr von einem großen Fleck verunstaltetes Gesicht mit einem Tuch verbirgt.

Sie heißt Zulekha. Im Alter von 15 Jahren verheiratete man sie mit einem mehr als doppelt so alten Witwer. Nach dessen Tod wurde die reiche Witwe Aziz‘ erste Ehefrau. Das geschah vor zwölf Jahren, als er noch ein kleiner Händler war. Zulekha brachte Mzee Hamdani mit, den ihr der Vater zur Hochzeit geschenkt hatte. Sie bot ihm die Freiheit an, aber er blieb als Gärtner und antwortet Yusuf auf dessen Frage nach dem Grund:

„Sie haben mir die Freiheit als ein Geschenk angeboten. Sie hat das getan. Wer hat sie geheißen, sie mir anzutragen? Ich kenne die Freiheit, von der du sprichst. Ich hatte diese Freiheit von dem Augenblick an, als ich geboren wurde. Wenn diese Leute sagen, ‚du gehörst mir, ich besitze dich‘, ist dies wie ein vorübergehender Regenschauer oder das Untergehen der Sonne am Ende des Tages. Am nächsten Morgen wird die Sonne wieder aufgehen, ob es ihnen gefällt oder nicht. Genauso ist es mit der Freiheit. Sie können dich einsperren, dich in Ketten legen, alle deine kleinen Sehnsüchte missbrauchen, aber Freiheit, das ist etwas, das sie dir nicht wegnehmen können. Wenn sie mit dir fertig sind, sind sie noch genauso weit davon entfernt, dich zu besitzen, wie an dem Tag deiner Geburt. Verstehst du das?“

Die Mistress beauftragt Khalil, Yusuf zu ihr ins Haus zu bringen. Der ahnt Unheil und rät seinem jüngeren Freund, auf Abstand zu der „Verrückten“ zu achten. Unter dem Vorwand, sie spüre Yusufs heilenden Kräfte, versucht sie, ihn zu betören und ihr Gesicht zu berühren. Yusuf hält sich zwar zurück, aber nachdem er Amina gesehen hat, lässt er sich von Khalil nicht davon abhalten, die beiden Frauen jeden Tag im Haus zu besuchen.

Schließlich verliert Zulekha die Geduld. Sie geht auf Yusuf zu und nimmt ihn an den Schultern. Er flieht. Sie packt sein Hemd. Der Stoff reißt.

Zulekha behauptet, Yusuf habe ihre Freundlichkeit schamlos ausgenutzt, sie plötzlich wie ein Tier angefallen und ihre Kleider zerfetzt. Der Kaufmann, der an diesem Abend von einer längeren Reise zurückkommt, stellt Yusuf zur Rede.

„Wo hast du solche Manieren gelernt? Ich öffne dir mein Haus, und du machst es zu einem Ort des üblen Geredes und der Unehrenhaftigkeit.“

Yusuf beteuert seine Unschuld und weist darauf hin, dass sein Hemd am Rücken zerrissen sei. Der Kaufmann glaubt ihm.

Als ein deutscher Offizier 1914 an der Spitze eines Trupps von Askaris einmarschiert, verstecken sich Khalil und Yusuf. Durch ein Guckloch beobachten sie, wie die Soldaten ausschwärmen und die Männer gefangen nehmen.

Sobald die Kolonne weg ist, rennt Khalil los, um im Haus nach Amina zu sehen. Yusuf untersucht die Überreste des Askari-Lagers.

Die dahinmarschierende Kolonne war noch in Sichtweite, als er ein Geräusch hörte, als würde die Tür im Garten hinter ihm verriegelt. Hastig blickte er sich um und rannte dann, mit brennenden Augen, der Kolonne nach.

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Die farbige Geschichte, die Abdulrazak Gurnah in seinem Roman „Das verlorene Paradies“ erzählt, spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der ostafrikanischen Suaheli-Küste im Sultanat Sansibar (heute: Tansania). 1893, drei Jahre nachdem Sansibar das britische Protektorat hatte anerkennen müssen, setzten die Briten den Osmanen Hamad ibn Thuwaini ibn Said als Sultan ein, und Italien erzwang den Verkauf von Städten an der Suaheli-Küste. Der ohnehin bereits verbotene, aber noch immer von Arabern betriebene Sklavenhandel musste eingestellt werden. 1914 beteiligte sich Sansibar an der Seite der Briten am Ersten Weltkrieg.

Es handelte sich um eine multiethnische und -religiöse Gesellschaft im Umbruch von der arabisch-muslimischen zur europäischen Kolonisation. Da kollidierten nicht nur zwei, sondern mehrere Kulturen. Abdulrazak Gurnah zeigt auch, dass Afrika bereits vor der europäischen Kolonisation kein Paradies war.

Ohne Sentimentalität oder Romantisierung zeigt er in „Das verlorene Paradies“ die Widersprüchlichkeit der Verhältnisse aus der Sicht der Afrikaner und vermeidet damit den bei uns üblichen Eurozentrismus der Geschichte. Obwohl Abdulrazak Gurnah nicht explizit für Mitmenschlichkeit plädiert, lässt er keinen Zweifel an seinen humanistischen Grundwerten.

Vor diesem Hintergrund entwickelt er in „Das verlorene Paradies“ aus der Perspektive des Protagonisten eine Coming-of-Age-Geschichte über einen Jugendlichen, den seine überschuldeten Eltern dem Gläubiger übereignen, der also entwurzelt wird und seine Freiheit verliert, damit sie ihre Freiheit zurückgewinnen.

Mit dem Thema Freiheit beschäftigt sich Abdulrazak Gurnah in „Das verlorene Paradies“ auch, wenn es um Khalil und Mzee Hamdani geht, die beide die angebotene Entlassung in die Freiheit ablehnen.

„Erst der Junge“, lautet der erste Satz des Romans. Dachte Abdulrazak Gurnah dabei an die Schöpfungsgeschichte, der zufolge Gott als ersten Menschen Adam kreierte? Auf jeden Fall spielt er mit der Romanfigur Yusuf auf Josef in der Bibel und den Propheten Yūsuf im Koran an. Josef / Yūsuf wird von seinen Brüdern gehasst. Deshalb sorgen sie dafür, dass er nach Ägypten verschleppt wird. Ein hoher Beamter oder Offizier des Pharaos (der in der Bibel Potiphar, im Koran Aziz (!) heißt) kauft ihn. Der ungewöhnlich schöne Junge fällt dessen Frau auf, die ihn schließlich beschuldigt, sie bedrängt zu haben, aber sein am Rücken zerrissenes Hemd beweist, dass es umgekehrt war und er vor ihren Nachstellungen floh. (Der persische Dichter Rumi nennt die sündige Frau in seinem Mathnawi „Masnawī-yi Maʿnawī“ Suleika bzw. Zulekha.)

Man kann „Das verlorene Paradies“ auch als Abenteuerroman lesen. Abdulrazak Gurnah achtet mehr auf lebendige und einfallsreiche Szenen, als auf eine psychologische Ausleuchtung der Charaktere.

Im Anhang der Neuausgabe von 2021 befindet sich ein neunseitiges Glossar.

Den Roman „Das verlorene Paradies“ von Abdulrazak Gurnah gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Pierre Sanoussi-Bliss.

Abdulrazak Gurnah wurde am 20. Dezember 1948 im Sultanat Sansibar geboren. Die Familie gehörte dort zur muslimischen, arabischstämmigen Minderheit, und seine Muttersprache ist Swahili. 1968 kam Abdulrazak Gurnah nach England und studierte zunächst am Christ Church College in Canterbury, dessen Abschlüsse damals von der University of London verliehen wurden. Nachdem er 1980 bis 1982 an der Bayero University Kano in Nigeria doziert hatte, promovierte er an der University of Kent über „Criteria in the Criticism of West African Fiction“ und lehrte dann bis zu seiner Emeritierung postkoloniale Literaturen. 1987 debütierte Abdulrazak Gurnah mit dem Roman „Memory of Departure“ als Schriftsteller.

Der in England lebende tansanische Schriftsteller und britische Staatsbürger Abdulrazak Gurnah wurde 2021 „für seine unbestechliche und leidenschaftliche Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Kolonialismus und dem Schicksal der Flüchtlinge im Spannungsfeld zwischen den Kulturen und Kontinenten“ mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © S. Fischer Verlag / Penguin Random House Verlagsgruppe

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