Abdulrazak Gurnah : Ferne Gestade

Ferne Gestade
By the Sea Bloomsbury, London 1994 Ferne Gestade Übersetzung: Thomas Brückner Verlag edition KAPPA, München / Wien 2002 Neuauflage Penguin Verlag, München 2022 ISBN 978-3-328-60260-6, 416 Seiten ISBN 978-3-641-29442-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1993 trifft ein 65-jähriger Flüchtling in England ein. Im Jahr darauf besucht ihn der ebenfalls aus Sansibar stammende Londoner Literaturdozent Latif Mahmud, der Sohn des Mannes, dessen Name der Asylbewerber angegeben hat. Sie stammen aus zwei Familien, die zu Beginn der Sechzigerjahre in existenzbedrohende Konflikte geraten waren ...
mehr erfahren

Kritik

Der Roman "Ferne Gestade" handelt von Betrug, Verrat und Rache, politischer Willkür und Entrechtung in Sansibar. Es geht um eine Rückschau auf die Familiengeschichte aus der Perspektive eines anderen Menschen. Abdulrazak Gurnah entwickelt die ergreifende Handlung souverän und ohne Effekthascherei.
mehr erfahren

Ich heiße Rajab Shaaban

[…] ich heiße Rajab Shaaban. Das ist nicht mein richtiger Name, sondern der eines anderen, den ich mir für die Reise zur Rettung meines Lebens ausgeliehen habe.

Im islamischen Mondkalender sind Rajab der siebte und Shaaban der achte Monat. Beide gehen dem Ramadan voraus.

Das verrät uns der Erzähler. Aber bei seiner Ankunft am 23. November 1993 im Londoner Flughafen Gatwick täuscht der Afrikaner dagegen vor, kein Englisch zu verstehen und sagt nur „Asyl“. Ein Beamter, auf dessen Namensschild Kevin Edelman steht, durchsucht das Gepäck – und konfisziert ein Mahagonikästchen mit Ud-al-qasmari. Der Wohlgeruch des aus pilzbefallenem Aloe-Holz gewonnenen Weihrauchs hat es ihm angetan.

Man bringt den Asylbewerber in eine Kleinstadt an der englischen Küste, wo sich Rachel Howard um ihn kümmert, eine Frau Mitte 30, die sich als Rechtsbeistand in einer Flüchtlingsorganisation engagiert.

Rajab, wie er sich nennt, ist Mitte 60 und denkt:

[…] zu alt, um in einem Krankenhaus zu arbeiten, zu alt, um einen künftigen Cricket-Nationalspieler zu zeugen, eigentlich für alles zu alt – mit Ausnahme von Sozialleistungen, betreutem Wohnen und staatlich bezuschusster Einäscherung.

Endlich gesteht er, außer seiner Muttersprache Swahili auch Englisch zu sprechen. Rachel reagiert zunächst verärgert, denn sie hat sich eigens nach einem Dolmetscher umgehört und dem Literaturdozenten Latif Mahmud von der University of London eine Nachricht auf die Mailbox gesprochen. Rajab erschrickt, als er den Namen hört, denn er kennt Latif Mahmud.

Als Latif Mahmud zurückruft, berichtet Rachel ihm, dass der Asylbewerber nun doch keinen Dolmetscher benötige und ihn übrigens zu kennen glaube. Der Dozent fragt nach dem Namen des anderen und wundert sich: Rajab Shaaban, so hieß sein Vater!

Sieben Monate später besucht er den Mann, der den Namen seines Vaters angenommen hat.

Latif Mahmud

Latif heißt eigentlich Ismail Rajab Shaaban Mahmud. Er stammt aus Sansibar. Als er sechs oder sieben Jahre alt war, starb sein Vater Rajab Shaaban Mahmud. Im Alter von 17 Jahren erhielt er ein Stipendium für ein Studium in der DDR. Ohne ihn nach Präferenzen zu fragen, wies man ihm Zahnmedizin zu. Das missfiel seiner Mutter Asha, die daraufhin über ihren als Minister amtierenden Geliebten Sheikh Abdalla Khalfan erreichte, dass der „Irrtum“ korrigiert wurde und ihr Sohn nun Medizin studieren sollte. Ismail bestand jedoch trotzig auf Zahnmedizin.

Einige Zeit nach seiner Ankunft in Deutschland wollte er seine Brieffreundin Elleke in Dresden besuchen. Aber am Bahnhof holte ihn nicht ein Mädchen, sondern ein Junge ab, und Jan gestand, sich in den Briefen als weiblich ausgegeben zu haben. Elleke sei der Name seiner Mutter.

Jan und Latif – wie Ismail sich nun nannte – wurden Freunde. Schließlich begleitete Latif seinen Freund auf einer Reise nach Most, Prag, Bratislava, Budapest, Zagreb und Graz. An der deutschen Grenze erklärten sie, aus der DDR geflohen zu sein.

Nach drei Wochen in einem bewachten Wohnheim in München trennten sie sich. Latif, der England als Ziel angegeben hatte, erhielt das Geld für eine Zugfahrkarte nach Hamburg, und von dort gelangte er nach London.

Zwei Häuser

Saleh Omar, so heißt der Asylant in Wirklichkeit, erzählt dem Besucher seine Geschichte.

Als er elf Jahre alt war, starb seine Mutter. Er studierte mit einem Stipendium am Makerere University College in Kampala Verwaltungswissenschaften. Zwei Jahre bevor er 1950 zurückkehrte, hatte sein Vater wieder geheiratet, und zwar die Witwe Bi Maryam.

Deren vier Jahre ältere Schwester Bi Sara hatte von ihrem zweiten Ehemann ein Haus geerbt und nahm nach dem Tod ihres dritten Mannes ihren Neffen Rajab Shaaban Mahmud, dessen Frau Asha und die beiden Kinder auf.

Als  Maryams erster Ehemann, Nassor, ein Haus kaufte, ließ er es auf den Namen seiner Frau eintragen, um sie im Fall seines Todes vor den gierigen Verwandten zu schützen. Als er dann tatsächlich starb und die Witwe Saleh Omars Vater heiratete, kündigte dieser seine Mietwohnung, zog bei seiner Frau ein und finanzierte die Modernisierung des Hauses, das Maryam zur Hälfte auf ihn überschrieb.

Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 1958 eröffnete Saleh Omar statt des geerbten Halwa-Ladens ein Möbelgeschäft. Weil Rajab Shaaban Mahmud herumerzählte, seine Tante Maryam sei um ihr Haus betrogen worden, übereignete sie es vorsichtshalber ihrem Stiefsohn, bevor sie bald nach ihrem Mann starb.

Drei Monate vor ihr war bereits ihre Schwester Sara gestorben, und Rajab Shaaban Mahmud hatte deren Haus geerbt, in dem er weiterhin mit seiner Familie wohnte.

Hussein

1960, als sich Saleh Omar gerade etabliert hatte, zwei Tischler beschäftigte und auch Antiquitäten aus Haushaltsauflösungen anbot, lernte der inzwischen 31-Jährige einen persischen Kaufmann aus Bahrain kennen: Hussein.

Dessen Großvater Jaafar Musa war als Kaufmann in Malaysia reich geworden. Dort gebar Jaafars Ehefrau Mariam Kufah drei Kinder: die Töchter Zeynab und Aziza sowie den Sohn Reza, Husseins Vater.

1899 erlag Jaafar Musa einem Herzinfarkt. Sein Erbe büßte sowohl das Geschäft als auch das Vermögen ein, baute aber in Bahrain ein neues Handelsunternehmen mit Tuch und Düften auf. 1918 heiratete Reza. Sein Sohn Hussein ging in Bombay zur Schule und wohnte in dieser Zeit bei seiner Tante Zeynab.

1960 bezahlte Hussein einen Einkauf in Saleh Omars Möbelgeschäft je zur Hälfte mit Bargeld und Ud-al-qamari bester Qualität aus Kambodscha, das sein Vater in Bangkok erworben hatte, als Hussein zehn Jahre alt gewesen war.

Er freundete sich mit Rajab Shaaban Mahmud an, verbrachte einige Zeit in dessen Haus und überredete ihn dann, sich an einem Handelsgeschäft zu beteiligen. Als Sicherheit für das Darlehen, das Rajab Shaaban Mahmud deshalb aufnahm, verpfändete er das von seiner Tante Bi Sara geerbte Haus, in dem er mit der Familie wohnte.

Als Hussein im Jahr darauf wieder nach Sansibar kam, behauptete er, das Geschäft sei gescheitert. Nun erbat er von Saleh Omar ein Darlehen in derselben Höhe wie das von Rajab Shaaban Mahmud im Vorjahr aufgenommene und bot dem Möbelhändler als Sicherheit das Dokument an, mit dem Rajab Shaaban Mahmud sein Haus verpfändet hatte. Die Rückzahlung des Geldes versprach Hussein im folgenden Jahr. Aber er kam nie mehr zurück.

Streit

Nach den Wahlen im Jahr 1961 brach in Sansibar ein Chaos aus. Kaum noch jemand kaufte teure handgefertigte Möbel. Deshalb wollte Saleh Omar Maschinen anschaffen. Aber dafür hätte er das Geld benötigt, das Hussein ihm schuldete.

Weil er gar nicht an dem Haus interessiert war, das Rajab Shaaban Mahmud für sein Darlehen verpfändet hatte, schlug Saleh Omar ihm in bester Absicht eine Regelung vor: Rajab Shaaban Mahmud sollte zulassen, dass Saleh Omar dessen Haus als Sicherheit für einen Bankkredit einsetzte. Sobald das Geld ausgezahlt sei, versprach Saleh Omar, würde er den Schuldschein zerreißen. Aber Rajab Shaaban Mahmud ließ sich nicht darauf ein. Er warf Saleh Omar vor, zuerst Maryams Haus ergaunert zu haben und jetzt auch noch nach Saras Haus zu trachten.

Saleh Omar sah keine andere Möglichkeit, als das von Rajab Shaaban Mahmud verpfändete Haus nun doch gerichtlich zu erstreiten. Zwei Jahre dauerte das Verfahren, dann gab das Gericht Saleh Omar recht, und Rajab Shaaban Mahmud musste mit seiner Familie ausziehen. Der Möbelhändler vermietete das Haus und setzte es, wie geplant, als Sicherheit für einen Kredit ein, der ihm die Anschaffung von Maschinen ermöglichen sollte.

Im November 1963 heiratete Saleh Omar, inzwischen 32 Jahre alt, die 19-jährige Salha. Sie erlitt drei Fehlgeburten, aber am 24. Januar 1967 brachte sie die Tochter Ruqiya zur Welt.

Rache

Damals suchte Ismail Rajab Shaaban Mahmud – Latif – den Möbelhändler Saleh Omar auf und bat im Auftrag seiner Mutter Asha um die Rückgabe eines Tischchens aus Ebenholz, das der neue Eigentümer im übernommenen Haus vorgefunden hatte. Saleh Omar weigerte sich jedoch, die Bitte zu erfüllen.

Asha rächte sich. Über ihren Geliebten, den Minister Abdalla Khalfan, erreichte sie, dass die 1967 verstaatlichte Bank von Saleh Omar die sofortige Rückzahlung des Kredits verlangte. Weil er dazu nicht in der Lage war, fiel das Haus an die Bank, und kurz darauf zog Asha dort erneut mit ihrer Familie ein.

Fünf Monate später wurde Saleh Omar in die Parteizentrale gerufen. Rajab Shaaban Mahmud beschuldigte ihn, auch Maryam um ihr Haus betrogen zu haben. Eine Art Standgericht zwang den Möbelhändler, alle das Haus betreffenden Urkunden abzugeben. Danach wurde er festgenommen, und obwohl er nie vor einem ordentlichen Gericht gestanden hatte, kam er erst nach einer Amnestie im Januar 1980 wieder frei.

Saleh Omar kehrte zurück, fand seinen Laden verriegelt vor und erfuhr, dass seine Frau Salha schon im ersten Jahr seiner Lagerhaft kurz nach dem Tod der zweijährigen Tochter Ruqiya gestorben war.

In seinem ehemaligen Möbelgeschäft verkaufte Saleh Omar nun Gemüse, Zucker und Rasierklingen.

Der Minister Abdalla Khalfan war 1972 gestürzt worden. Asha starb 1979. Rajab Shaaban Mahmud wohnte nach wie vor in dem 1967 zurückgewonnenen Haus.

Nach seinem Tod im Jahr 1994 tauchte sein Sohn Hassan wieder auf, der 1961 mit Hussein fortgegangen war. Ismails sechs Jahre älterer Bruder hatte Hussein beerbt und beanspruchte nun auch das Haus, in dem sein Vater gewohnt hatte. Allerdings stand im Grundbuch trotz allem noch immer Saleh Omar als Besitzer. Hassan verklagte Saleh Omar vor Gericht und legte außerdem eine eidesstattliche Erklärung Husseins vor, der zufolge dieser dem Möbelhändler Anfang der Sechzigerjahre ein Darlehen gewährt habe.

Saleh Omar hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren und vertraute dem Rechtssystem ohnehin nicht. Weil aber eine der Amnestiebedingungen darin bestand, dass er keinen Reisepass beantragen konnte, musste er eine andere Identität annehmen. Und da fügte es sich, dass er bei der Übernahme des Hauses in den Sechzigerjahren die von Rajab Shaaban Mahmud dort vergessene Geburtsurkunde an sich genommen hatte.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Der Roman „Ferne Gestade“ von Abdulrazak Gurnah handelt von Betrug, Verrat und Rache, politischer Willkür und Entrechtung in Sansibar. Es geht um eine Rückschau auf die Familiengeschichte aus der Perspektive eines anderen Menschen und den Versuch, die eigene Erinnerung zurechtzurücken.

Abdulrazak Gurnah beginnt „Ferne Gestade“ mit dem Eintreffen eines Flüchtlings aus Sansibar 1993 in London. Aber die Frage, ob der 65 Jahre alte Afrikaner Asyl bekommt oder nicht, spielt bald keine Rolle mehr. Stattdessen dreht sich alles um die Konfrontation des Asylsuchenden mit dem ebenfalls aus Sansibar stammenden Londoner Literaturdozenten Latif Mahmud, dem Sohn des Mannes, dessen Namen der Flüchtling bei seiner Einreise angegeben hat. Sie stammen aus zwei Familien, die zu Beginn der Sechzigerjahre in existenzbedrohende Konflikte geraten waren. Latif Mahmud hört sich nun an, was sein Gegenüber dazu berichtet und vergleicht es mit seinen eigenen Erinnerungen.

Zug um Zug setzt sich bei der Lektüre des Romans „Ferne Gestade“ ein Puzzle zusammen. Dabei lässt Abdulrazak Gurnah zwei Ich-Erzähler auftreten. Hauptfigur ist nicht der Literaturdozent, dessen Biografie Parallelen zu der des Autors aufweist, sondern der andere, der eine tragische Geschichte aus Sansibar zu erzählen hat. Gegen seinen Willen wurde er zum (selbst-)zerstörerischen Handeln gezwungen. In diesem Zusammenhang erwähnt Abdulrazak Gurnah mehrmals den Roman „Bartleby, der Schreiber“ von Herman Melville, dessen Protagonist immer wieder sagt: „Ich möchte lieber nicht.“

Abdulrazak Gurnah entwickelt die ergreifende Handlung souverän und ohne Effekthascherei.

Der Roman wurde 1994 unter dem Titel „By the Sea“ zuerst in Großbritannien, dann in den USA veröffentlicht und für den Booker Prize 2002 nominiert. Die Übertragung ins Deutsche von Thomas Brückner trägt den Titel „Ferne Gestade“. Sie erschien 2002 im Verlag edition KAPPA und wurde nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an Abdulrazak Gurnah im Penguin Verlag 2022 neu aufgelegt.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Penguin Random House Verlagsgruppe

Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies

Louis Begley - Schmidt
Louis Begley schildert die Gefühle und Gedanken des Protagonisten einfühlsam und nuanciert, leise, gelassen und unaufdringlich. "Schmidt" ist ein kluger und unsentimentaler Roman mit einem melancholischen Grundton.
Schmidt