Sabrina Janesch : Sibir

Sibir
Sibir Originalausgabe Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2023 ISBN 978-3-7371-0149-3, 350 Seiten ISBN 978-3-644-01310-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Josef ist zehn Jahre alt, als die Familie Ambacher 1946 aus ihrer Heimat Galizien nach Sibirien deportiert wird. Sein jüngerer Bruder verhungert während des Transports, und die Mutter verliert er bei der Ankunft im Schneesturm. 1955 ziehen die Ambachers in ein Dorf am Rand der Lüneburger Heide. Leila, die dort geborene Tochter von Josef und seiner aus Polen stammenden Ehefrau, hält die Geschichte ihres Vaters fest ...
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Kritik

Mit poetischen Scharniersätzen wechselt Sabrina Janesch in ihrem autofiktionalen Roman "Sibir" zwischen den zeitlichen Ebenen, den Handlungssträngen und Perspektiven. Obwohl das Fehlen von Zäsuren das Verständnis der Zusammenhänge erschwert, bietet "Sibir" sowohl inhaltlich als auch formal eine gewinnbringende Lektüre.
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Deportation

Nach dem Zweiten Weltkrieg werden Teile der Bevölkerung in vom Deutschen Reich völkerrechtswidrig annektierten polnischen Gebieten wie dem „Reichsgau Wartheland“ von den Russen als Arbeitskräfte nach Sibirien deportiert.

Josef Ambacher ist zehn Jahre alt, als Soldaten der Roten Armee die Familie aus der Hütte zerren. Mit vielen anderen Deutschen zusammen werden die Ambachers, die seit dem 18. Jahrhundert in Galizien leben, mit einem Güterzug nach Kasachstan verschleppt.

Josefs jüngerer Jakob verhungert noch während der Zugfahrt. Bei der Ankunft während eines Schneesturms verschwindet die Mutter Emma Ambacher, und obwohl tagelang nach ihr gesucht wird, taucht sie nie wieder auf, und auch ihre Leiche wird nie gefunden.

Im Steppendorf Nowa Karlowka quartiert man Teresia und Abraham Ambacher sowie deren Angehörige in dem von Heinrich und Lisbeth Quapp mit ihren Zwillingen Karl und Irene bewohnten Erdhaus ein. Konstantin Petrowitsch Fadejew, der Vorsitzende des Dorfsowjets, teilt die Krankenschwester Antonia Ambacher dem von Dr. Juri Sergejewitsch Podgorny geleiteten Medpunkt des Dorfes zu und sorgt dafür, dass ihr Vater, der Tischler Abraham Ambacher, in der Schreinerei der Kolchose arbeitet.

Josef lernt rasch russisch und fällt dem kriegsversehrten Dorflehrer Iwan Iwanowitsch Gusew vor allem auch durch hervorragende Leistungen in Mathematik auf. Aber als Deutscher wird er von Mitschülern wie Alexander (Schura“) Malinin gemobbt. Und die Ambachers ziehen außerdem den Neid der anderen Bewohner auf sich, als sie sich mit Steinen aus dem Fluss eine Behausung bauen.

Als Josef beobachtet, wie Heinrich Quapp abgeführt wird, fühlt er sich schuldig, denn er versteckte den Lauf einer Pistole im Strohdach des Erdhauses und glaubt, das sei der Grund für Heinrich Quapps Festnahme. Ein paar Monate trifft die Nachricht vom Tod des Häftlings in einem Gulag ein, und die Witwe Lisbeth Quapp wird darüber verrückt.

Befreiung

1955 erreicht Bundeskanzler Konrad Adenauer in Moskau nicht nur die Freilassung der letzten deutschen Kriegsgefangenen, sondern auch die der Deportierten („Heimkehr der Zehntausend“).

Die Ambachers siedeln sich in Mühlheide am Südrand der Lüneburger Heide an.

Josef Ambacher und seine Ehefrau Agnieszka, eine polnische Historikerin, deren Familie nach dem Zweiten Weltkrieg von Ost- und Westpolen deportiert wurde, bekommen die Tochter Leila.

Die Wende

1990 treffen die ersten Aussiedler aus der sich auflösenden UdSSR in Mühlheide ein. Die Russlanddeutschen kommen aus Kasachstan – und dadurch muss Josef Ambacher wieder an die Zeit denken, die er dort verbrachte.

Im Jahr darauf plant der IT-Ingenieur, die Immobilie der Familie in Mühlheide zu veräußern und am Schrevensee neu zu bauen. Einen Käufer findet er in Artur Nagler, der zur ersten Welle von Aussiedlern gehört und mit starkem Unternehmergeist an Geschäften interessiert ist.

Artur und Ljudmila Nagler sind die Eltern von Pawel („Pascha“), der sich mit Leila Ambacher und Arnold Kolb anfreundet und später Paul Nagler nennen wird. Die drei Jugendlichen stehlen aus dem Keller von Harro Tartter, von dem es heißt, er habe zu den SS-Bewachern im KZ Bergen-Belsen gehört, einen Beutel mit Zahngold.

Als Harro Tartters Leiche gefunden wird, verschwindet Pascha vorübergehend, und Leila befürchtet, dass er etwas mit dem Tod des Mannes zu tun haben könnte. Aber nach offiziellem Befund starb Harro Tartter an Herzversagen.

Im Supermarkt begegnen Josef und Leila Ambacher zufällig einer Frau namens Julia Quapp. Es stellt sich heraus, dass es sich um Karl Quapps Tochter handelt. (Dessen Zwillingsschwester Irene ist unverheiratet und kinderlos geblieben.) Erst jetzt erfährt Josef von Julia Quapp, dass Heinrich Quapp nicht wegen des Waffenteils im Strohdach festgenommen wurde, sondern weil er einen halben Laib Brot gestohlen hatte. Josefs Schuldgefühle waren also die ganze Zeit unnötig.

Gegen das Vergessen

20 Jahre nach Harro Tartters Tod lässt Leila Ambacher ihren über 80 Jahre alten an Demenz erkrankten Vater Josef von Dr. Wiechmann in ein Pflegeheim in Ahrensbüttel einweisen, aber ein Platz für ihn wird erst in sechs Wochen frei.

Leila Ambacher nutzt die Zeit, um mehr über die Geschichte der Familie herauszufinden, über ihre eigene nachzudenken und ein Buch darüber zu schreiben.

Über einen Monat lang habe ich mich in das Haus meiner Eltern wie in einen Kokon zurückgezogen, habe notiert, entworfen, zusammengefügt.

Ich schrieb nicht nur für ihn, sondern auch für mich.

Unsere Kindheiten, die mehr als vierzig Jahre trennen, spiegeln einander und führen sich fort.

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Vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte in den Jahren 1945/46 und 1990/91 erzählt Sabrina Janesch in ihrem Roman „Sibir“ eine autofiktionale Familiengeschichte. Bei der Ich-Erzählerin Leila Ambacher handelt es sich um die Tochter eines Mannes, der 1945 als Kind mit seinen Eltern nach Sibirien verschleppt worden war und zehn Jahre später in das (fiktive) Dorf Mühlheide am Rand der Lüneburger Heide kam, wo 1990 die erste Welle von Russlanddeutschen eintraf.

Mit poetischen Scharniersätzen wechselt Sabrina Janesch in „Sibir“ zwischen den zeitlichen Ebenen, den Handlungssträngen und Perspektiven. Obwohl das Fehlen von Zäsuren das Verständnis der Zusammenhänge erschwert, bietet „Sibir“ sowohl inhaltlich als auch formal eine gewinnbringende Lektüre.

Den Roman „Sibir“ von Sabrina Janesch gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Julia Nachtmann.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2023
Textauszüge: © Rowohlt Berlin Verlag

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