Simone Lappert : Der Sprung

Der Sprung
Der Sprung Originalausgabe Diogenes Verlag, Zürich 2019 ISBN 978-3-257-07074-3, 330 Seiten ISBN 978-3-257-60983-7 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Bewohnerin von Thalbach, die als Lokführerin mit zwei Selbstmördern auf dem Gleis konfrontiert war, bemerkt eine junge Frau auf dem Dach eines vierstöckigen Hauses. Sofort alarmiert sie die Polizei, die ihrerseits Feuerwehr und Sanitäter hinzuzieht. Immer mehr Schaulustige versammeln sich und hoffen darauf, den erwarteten Sprung mit ihren Smartphones filmen zu können ...
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Kritik

Simone Lappert stellt in ihrem Roman "Der Sprung" kurze Erzählungen über mehr als 15 gut beobachtete Figuren zusammen, deren Beziehungen teils eng verzahnt, teils lose verknüpft sind. Daraus ergibt sich ein gesellschaftskritisches, durch Humor und Tragikomik auch unterhaltsames Panorama.
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Edna

Die verbitterte Greisin Edna, die mit ihrer Schildkröte Cosima allein in der Kleinstadt Thalbach nahe Freiburg lebt, entdeckt beim Verlassen des Hauses an einem sonnigen Tag im Mai eine junge Frau auf dem Dach eines vierstöckigen Wohnhauses.

Edna sah die Frau, noch ehe sie die Tür hinter sich zugemacht hatte. Sie blieb stehen, den Türknauf mit der Hand umschlossen. Dort oben, auf dem Dach am anderen Ende des Platzes, auf dem Haus mit der hellgrünen Fassade, stand eine Frau, breitbeinig auf dem Giebel, ganz still. […] Sie würde das nicht mit ansehen. Nicht noch einmal. Nie wieder. Ednas ganzer Körper reagierte […].

Edna will nicht noch einmal mit einem Selbstmord konfrontiert sein. Als Ende der Achtzigerjahre erstmals auch Frauen Lokomotiven fahren durften, erfüllte sich für Edna, die bis dahin als Betriebssekretärin bei der Bahn gearbeitet hatte, ein Traum: Mit 38 wurde sie Lokführerin. Acht Jahre später überfuhr sie einen Mann, der sich mit ausgebreiteten Armen aufs Gleis gestellt hatte. Zweieinhalb Monate später war es ein Junge. Der hob die Arme vors Gesicht, als wolle er Prügel abwehren und lebte noch ein paar Minuten, als Edna neben ihm im Schotter kniete. Danach konnte sie ihren Traumberuf nicht mehr ausüben.

Als sie nun die Frau auf dem Hausdach sieht, ruft sie sofort die Polizei. Es dauert dreieinhalb Minuten, bis der erste Streifenwagen vorfährt. Weitere Einsatzfahrzeuge folgen. Polizisten sperren den Platz vor dem Haus am Stadtpark ab, während die Feuerwehr ein Sprungkissen aufbläst. Schaulustige, die sonst gar nicht zum Dach hinauf geblickt hätten, sammeln sich auf dem Platz, knipsen und filmen mit ihren Smartphones. Sie warten auf den Sprung der Frau und versorgen sich im nahen Laden „Werner’s Grocery“ mit Getränken, Eis, Obst und Süßigkeiten.

Finn

Finn Holzer, der vor eineinhalb Jahren aus Berlin nach Thalbach kam und demnächst weiter nach Neapel oder Istanbul will, arbeitet als Fahrradkurier. Als er eine Gewebeprobe von der Kinderklinik zur eiligen Untersuchung in ein Labor bringen soll, gerät er in die Absperrung auf dem Platz am Stadtpark. Einige Kerle rufen: „Spring doch, du Weichei!“, anderere grölen: „Ausziehn, ausziehn, ausziehn!“ Finn blickt nach oben − und erkennt in der jungen Frau, die da barfuß am Giebel herumturnt, Manu, mit der er sich kürzlich angefreundet hat.

Die Polizei lässt ihn ins Haus, aber viel mehr als den Vornamen der Person auf dem Dach kann er nicht mitteilen. Neben dem Polizisten Felix steckt er seinen Kopf durch ein Dachfenster. Manu bittet ihn um etwas zu trinken und zu rauchen. Finn eilt zu „Werner’s Grocery“, in dem an diesem Tag wegen der vielen Schaulustigen ausnahmsweise das Geschäft brummt.

Als Finn mit Wasser, Tabak, Zigarettenpapier und Tomaten zurückkommt, wurde Felix vom Einsatzleiter abgelöst, und Hauptkommissar Blaser schüttelt den Kopf:

„Wir sind doch kein verfluchter Cateringdienst. Schluss jetzt mit dem Kuschelkurs, das haben wir lange genug versucht. Wir ziehen jetzt andere Saiten auf. […] Wenn sie Durst hat, soll sie reinkommen, dann kriegt sie was zu trinken. Das ist der Deal.“

Felix

Felix, der vom Einsatzleiter Blaser abgelöste Polizist, vertraut sich Roswitha an, der Betreiberin des Cafés am Platz vor dem Stadtpark. Seit seine Freundin Monique schwanger ist, quälen ihn die Erinnerungen an Ignazius („Iggy“), seinen besten Freund in der Kindheit. Weil Iggy unter schweren Asthma-Anfällen litt, hatten ihm die reichen Eltern zu Hause alles Erdenkliche eingerichtet, um ihn von Aufenthalten im Freien möglichst abzuhalten. Aber Iggy riss immer wieder heimlich aus, und im Alter von elf Jahren überredete er Felix, mit ihm in ein leerstehendes altes Haus einzubrechen. Dort löste der Staub einen Asthmaanfall aus, und Felix suchte in den Sachen seines Freundes vergeblich nach dem Notfallspray. Als er begriff, dass Iggy tot war, lief er zu einer Telefonzelle, rief die Polizei an und meldete mit verstellter Stimme einen Einbruch. Von einem Versteck aus beobachtete er, wie zunächst ein Streifenwagen eintraf und schließlich die Leiche abtransportiert wurde. Sowohl die Polizei als auch Iggys Eltern gingen davon aus, dass der Junge allein im Wald gewesen sei.

Henry und Lukas

Henry ist obdachlos, seit ihn sein eigener, damals 14-jähriger Sohn vor fünf Jahren wegschickte. Er verkauft den Schaulustigen auf dem Platz vor dem Stadtpark in Thalbach kleine Zettel mit nachdenklichen Fragen, während der dürre Lukas, ein 19 Jahre alter Obdachloser, Handstand macht und sich freut, wenn er dafür zwei Euro bekommt.

Winnie, Salome und Timo

Die Schülerin Winnie gilt als Außenseiterin und wird in der Klasse nicht nur ausgegrenzt, sondern auch verhöhnt. Als sie unter den Schaulustigen steht, bemerkt sie, wie ihr umschwärmter Mitschüler Timo mit dem Smartphone filmt und ruft: „Na los, spring runter!“ Da schlägt sie ihm das Gerät aus der Hand, und als er es aufhebt, ist das Display zerbrochen.

Kurz darauf fällt Winnie auf, dass Timos Freundin Salome in der Wiese des Stadtparks sitzt und schluchzt. Sie hat ihre Menarche und war darauf nicht vorbereitet.

Winnie beugte sich ungläubig vor. „Willst du mir sagen, dass du zum ersten Mal deine Tage hast?“ Salome nickte. Es war ihr sichtlich unangenehm. Alle anderen Mädchen in der Klasse hatten ihre Periode längst bekommen, und Salome war die Freundin von Timo, die einzige, die angeblich nicht mehr Jungfrau war.

Salome weint nicht nur wegen der blutigen Hose und der Schmerzen, sondern auch, weil Timo ihr im Streit damit drohte, ein Oben-ohne-Foto ins Netz zu stellen, das sie ihm vor einer Woche schickte. Winnie weiß Rat: Während Timo auf dem Sportplatz Klimmzüge macht, schleicht sie sich von hinten an und zieht ihm die Hosen herunter. Von der anderen Seite knipst Salome ein Foto. Das werde sie ins Netz stellen, falls Timo seine Drohung wahr mache, ruft sie und rennt zu ihrem Fahrrad.

Maren, Hannes und Jaris

Im vierten Stock des Hauses, von dessen Dach Manu zornig herausgerissene Ziegel wirft, befindet sich die Wohnung von Maren und Hannes. Die beiden sind seit zwölf Jahren ein Paar. An seinem 40. Geburtstag verkündete Hannes die Absicht, sein Leben zu ändern. Seither treibt er Sport und hat 25 Kilogramm abgenommen, während Maren, eine Damenschneiderin Ende 30, pummelig geblieben ist. Schon lange haben die beiden nicht mehr miteinander geschlafen.

Überraschend taucht Jaris bei Maren Fritsche im Laden auf, ein Barockmusiker, der seit fünf Jahren mit ihr flirtet, ohne dass sie sich auf eine Affäre eingelassen hätte.

Seine Flirterei nahm Maren nie wirklich ernst, zum einen wegen Hannes, zum anderen, weil sie Jaris immer als eine Nummer zu groß für sich empfunden hatte, zu gutaussehend, zu weitgereist, zu unstet. Sie genoss seine Komplimente, doch eher, als würde sie einen Film schauen, wohlwissend, dass sie sich einer Illusion hingab.

Als sie ihn zum Mittagessen einlädt und mit ihm in ihre Wohnung gehen will, werden sie an der Absperrung von einer Polizistin aufgehalten, die auch keine Bewohnerinnen oder Bewohner durchlässt. Auf Marens Frage „Was soll ich denn jetzt bloß machen?“ antwortet Jaris grinsend:

„Mit mir nach Paris kommen, zum Beispiel […]. Ich hab ein Doppelzimmer mit Blick auf den Kanal für zwei Tage, danach geht es weiter nach Florenz.“

Nachdem Maren vergeblich versucht hat, Hannes anzurufen, verblüfft sie Jaris mit der Aufforderung, ihr Paris zu zeigen.

In Paris wartet Maren im Auto vor dem Hotel. Es dauert lang, bis Jaris wieder herauskommt und ihr erklärt, sie müsse ohne ihn in einem Hostel übernachten:

„Sie sind vollkommen ausgebucht, und zu zweit im Einzelzimmer zu schlafen ist gegen die Vorschriften.“

Er könne den Abend auch nicht mit ihr verbringen, fügt er hinzu, weil unerwartet noch Proben für das Konzert am nächsten Tag angesetzt worden seien. Maren glaubt ihm nicht.

Seit fünf Jahren ließ er dieselben abgedroschenen Floskeln fallen, er hatte sich daran gewöhnt, dass sie nein sagte, dass sie zu Hause blieb, dass sie sich aus seinen Umarmungen wand und verlegen den Bund ihrer Strumpfhose richtete, hatte sich sicher gewähnt in der Rolle des verwegenen Weltenbummlers, der hin und wieder an ihrem starren Leben rüttelte, um sich seiner eigenen Beweglichkeit zu versichern.

Gegen Mitternacht geht sie in sein Hotel, nickt der Frau an der Rezeption zu und fährt mit dem Lift nach oben. Weil sie Jaris‘ Schlüssel gesehen hat, weiß sie, dass er Zimmer 324 hat. Sie reißt die Tür auf. Jaris ist allein – aber im Bad rauscht die Dusche. Maren reißt sich das Top vom Leib, presst Jaris‘ Kopf zwischen die Brüste und wartet kurz, bis eine sehr viel jüngere Frau hereinkommt.

Ernesto und Tommaso

In Mailand sucht der Modeschöpfer Ernesto Valone verzweifelt nach einem i-Tüpfelchen für die Herbstkollektion, die in Kürze vorgeführt werden soll. Schließlich befolgt er den Rat sein Assistenten Tommaso Rossi, etwas Ungewohntes zu unternehmen, um auf neue Ideen zu kommen und schaltet nach vielen Jahren erstmals wieder ein Fernsehgerät ein. Beim Zappen stößt er auf eine Live-Schalte über eine Frau auf einem Hausdach. Die Kamera erfasst auch einen Fahrradkurier − und Ernesto starrt dessen Filzhut an.

Ernesto sprang auf. „Stop“, rief er. „Fermo, anhalten!“ Fieberhaft suchte er die Fernbedienung nach einer Taste ab, mit der das Bild anzuhalten wäre, aber er fand keine. Er kauerte vor den Fernseher, ganz nah.

Die schlichte Kopfbedeckung ist genau das, was er noch für die Modenschau benötigt. Er weiß zwar nicht einmal, aus welchem Ort übertragen wurde, aber Tommaso setzt sich mit dem Sender in Verbindung.

Egon

Egon Moosbach war Hutmacher, musste aber sein Geschäft in Thalbach aufgeben und einem Reparaturbetrieb für Mobiltelefone überlassen. Obwohl er Vegetarier ist, arbeitet er jetzt als Hilfskraft in der Schlachterei.

Am frühen Morgen des Tages, an dem Manu die Sensationslust der Leute erfüllt, schenkte er dem Fahrradkurier Finn Holzer einen seiner Hüte.

Nun besucht er seine demente Mutter Magali Moosbach im Seniorenheim in Thalbach. Ein Pfleger beschwert sich darüber, dass die passionierte frühere Jägerin mit einem Gewehr herumlief und von der Polizei aufgegriffen wurde. Magali Moosbach sitzt erwartungsvoll im Jagdkostüm auf ihrem Bett, und hält Egon für ihren Liebhaber Walter, der jedoch vor Jahren auf einem Hochsitz an einem Herzinfarkt starb. Als sie im Fernsehen die Übertragung vom Platz vor dem Stadtpark sieht, erkennt sie in einem lichten Moment die junge Frau und fordert ihren Sohn auf, der Polizei zu sagen, dass es sich um Manuela Kühne handelt.

Manu

Theres, die seit 42 Jahren mit dem Ladenbesitzer Werner verheiratet ist, kannte Manuela („Manu“) Kühne schon, als diese noch ein Kind war. Sie passte manchmal auf die Kleine auf, wenn deren Mutter Leslie zu tief ins Sektglas geschaut hatte und Manus ältere Halbschwester Astrid nicht da war. Gerüchten zufolge lebt Leslie Kühne jetzt in Karlsruhe und verkauft selbstgebastelten Schmuck über Ebay.

Manu studierte Biologie und verdient inzwischen ihren Lebensunterhalt als Störgärtnerin in Thalbach.

Jetzt bewirft sie die Menge der Schaulustigen mit Dachziegeln.

Astrid

Nachdem die Polizei erfahren hat, wer die Frau auf dem Dach ist, ruft Hauptkommissar Blaser deren Halbschwester Astrid Guhl in Freiburg an, die gerade mit ihrem Ehemann Stefan gemeinsam versucht, einen Erbvorschuss von ihrer Schwiegermutter Helga für ein Häuschen auf Usedom zu bekommen.

Astrid fährt sofort zu der angebenen Adresse, bleibt dann aber erst einmal im Auto sitzen, denn wenn die Medienvertreter sie erkennen und dann darüber schreiben, dass sie die Schwester einer Verrückten bzw. einer Selbstmörderin sei, kann sie ihre Kandidatur für das Bürgermeisteramt in Freiburg aufgeben. Umgekehrt, falls Manu in den Tod springt, könnte Astrid angeprangert werden, weil sie nicht versuchte, ihre Schwester davon abzuhalten, obwohl die Polizei sie rechtzeitig benachrichtigt hatte.

Egal, wie sie es anstellte, die Medien würden es gegen sie verwenden, und alles, wofür sie gearbeitet hatte, würde zersplittern.

Als sie endlich ihren Kopf durchs Dachfenster steckt und ihre Schwester beim Kosenamen „Nunu“ ruft, klagt diese, der Mann, dessen Balkonpflanzen sie pflegen sollte, habe unvermittelt die Balkontür zugedrückt und sie ausgesperrt. Deshalb sei sie aufs Dach geklettert.

„Ich war dabei, mir etwas aufzubauen, weißt du, es hat doch alles ganz gut geklappt. Und dann war da plötzlich die Polizei. Jetzt kann ich hier nicht mehr weg, du hörst doch, dass sie mir nicht glauben, sie wollen mich einsperren.“

Der Sprung

20 Stunden harrt Manu auf dem Dach aus. Im Morgengrauen des zweiten Tages nähert sie sich dem Dachfenster, in dem wieder der Polizist Felix zu sehen ist. Aber bevor er nach ihr greifen kann, ändert sie die Richtung, geht zum Dachrand – und dann einfach weiter. Felix bleibt keine Zeit, Alarm zu schlagen.

Bevor sie springt, spürt sie das kühle Metall der Dachkante unter den Füßen. Eigentlich springt sie nicht, sie macht einen Schritt ins Leere, setzt den Fuß in die Luft und lässt sich fallen, mit offenen Augen lässt sie sich fallen, will alles sehen auf dem Weg nach unten, alles sehen und hören und fühlen und riechen, denn sie wird nur einmal so fallen, und sie will, dass es sich lohnt […].

Manu fällt ins Sprungkissen. Drei Feuerwehrmänner heben sie heraus, und obwohl sie sich wehrt, wird sie auf einer Trage in den bereitstehenden Krankenwagen geschoben. Man bringt sie in eine psychiatrische Klinik.

Ob sie zufällig oder bewusst ins Kissen gesprungen war? Hatte sie noch gewusst, wo das Kissen stand?

Nie wollte sie in den Tod springen. Immer nur ins Leben.

Theres und Werner

Während Werner in den letzten Wochen und Monaten immer erst gegen Mittag aufstand, weil in „Werner’s Grocery“ ohnehin nichts los war, hört Theres ihn am Morgen nach dem umsatzstärksten Tag der letzten Jahre schon früh in der Wohnung über dem Laden. Aber er kommt nicht herunter, und als sie nachsieht, lehnt er tot in einem Sessel.

Ernesto, Tommaso und Egon

Am Vortag hob Werner den Filzhut auf, mit dem der Fahrradkurier nach seinem Einkauf das Objektiv einer Fernsehkamera abgedeckt hatte, und hängte ihn über das Fahrverbotsschild am Eingang zum Stadtpark. Von dort nahm der Obdachlose Henry ihn weg – und wurde dann von den beiden Italienern Ernesto Valone und Tommaso Rossi damit gesehen, die auf der Suche nach dem Accessoire eigens nach Thalbach reisten.

Tommaso spricht den ehemaligen Hutmacher Egon Moosbach in Roswithas Café an und erklärt ihm das Anliegen seines weltberühmten Chefs.

Agnes und Hannes

Hannes traf sich am Vorabend mit Agnes in Freiburg, und die beiden schliefen miteinander in einem Hotel. Ihrem Ehemann Stefan hatte Agnes am Telefon erklärt, sie müsse wegen ihrer Schwester in Thalbach übernachten. Am Morgen schaltet Agnes das Fernsehgerät ein, um die neuesten Nachrichten aus Thalbach zu bekommen und erfährt, dass Manu in einer Klinik ist. Als Hannes die Bilder sieht, die Manu noch auf dem Dach zeigen, erschrickt er.

„Die Gärtnerin“, sagte Hannes, „diese Gärtnerin, die ich habe kommen lassen, wegen der chinesischen Kräuter auf dem Balkon. Ich habe sie ausgesperrt, gestern Morgen, ich habe sie vergessen, komplett vergessen.“

Hannes hofft, dass man Manu nicht glaubt, wenn sie behauptet, ausgesperrt worden zu sein.

„Wenn ich Glück habe, fragt niemand mehr danach.“

Maren und Hannes

Als Maren an diesem Morgen aus Paris zurückkommt, ahnt sie, dass Hannes die Nacht mit einer anderen Frau verbracht hat und findet in der Garderobe eine fremde Jeansjacke. Sie glaubt ihm nicht, dass dieses Kleidungsstück einer von ihm mit der Pflege der Balkonpflanzen beauftragten Störgärtnerin stammt. Maren nimmt ein Taxi und lässt sich zur nächsten Autovermietung bringen.

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Als Simone Lappert von einer Frau erfuhr, die stundenlang auf dem Dach eines mehrstöckigen Hauses in der Schweiz gewesen war, während Schaulustige davor gestanden und gehofft hatten, den erwarteten Sprung in den Tod mit ihren Smartphones filmen zu können, hat sie das Bild nicht mehr losgelassen: Oben ein verzweifelter Mensch, unten eine zynische Horde. Zuerst machte Simone Lappert eine Kurzgeschichte daraus, dann den Roman „Der Sprung“.

Sie verlegt das an drei aufeinanderfolgenden Tagen spielende Geschehen in die fiktive Kleinstadt Thalbach und baut einen Mikrokosmos auf. Die zahlreichen kurzen Kapitel sind mit den Namen der Romanfiguren überschrieben, um die sie sich drehen. Es sind kleine Erzählungen über mehr als 15 gut beobachtete Personen, deren Beziehungen teils eng verzahnt, teils lose verknüpft sind. Aus dieser insgesamt recht lockeren Zusammenstellung ergibt sich ein gesellschaftskritisches Panorama. Bemerkenswert sind auch Humor und Tragikomik in einigen Kapiteln, die für eine unterhaltsame Lektüre sorgen.

Simone Lappert wurde 1985 in Aarau geboren. Der Schriftsteller Rolf Lappert („Nach Hause schwimmen“) ist ein Onkel von ihr. Am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel studierte sie Literarisches Schreiben. 2014 debütierte Simone Lappert mit dem Roman „Wurfschatten“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2020
Textauszüge: © Diogenes Verlag

Marcel Beyer - Kaltenburg
Marcel Beyer verzichtet in seinem Roman "Kaltenburg" weitgehend auf dramatische Zuspitzungen, begnügt sich vielfach mit Andeutungen und schildert die Figuren und das Geschehen mitunter wie im Nebel beobachtet.
Kaltenburg