Gudrun Lerchbaum : Das giftige Glück

Das giftige Glück
Das giftige Glück Originalausgabe Haymon Verlag, Innsbruck / Wien 2022 ISBN 978-3-7099-8149-8, 272 Seiten ISBN 978-3-7099-3968-0 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

In Wien und Umgebung wird Bärlauch entdeckt, dessen Genuss tödlich ist, aber auch euphorisiert und einen letzten Glücksmoment hervorruft. Die Wirkung geht von einem Schimmelpilz aus. Obwohl die Behörden nach den ersten Todesfällen das Pflücken von Bärlauch verbieten, strömen die Menschen in die Wälder, um Blätter der giftigen Pflanzen zu sammeln.
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Kritik

Bei "Das giftige Glück" handelt es sich um einen Gesellschaftsroman mit einer Vielzahl von Themen. Weil Gudrun Lerchbaum einen Mordfall eingebaut hat, kann man "Das giftige Glück" zugleich als Kriminalroman lesen. Spätestens beim Umgang mit der Aufklärung des Verbrechens wird "Das giftige Glück" zur Groteske.
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Kiki und Olga

Olga Schattenberg musste ihre Buchhandlung in Wien wegen Multipler Sklerose aufgeben. Seit fünf Jahren sitzt die 51-Jährige im Rollstuhl und ist auf Hilfe angewiesen. Der Grabredner Dr. Adrian Roth, der bei der Beerdigung ihres Ex-Manns auftrat, brachte sie mit Christiane Maria („Kiki“) Bach zusammen, die ein halbes Jahr zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war. Die Tochter eines Sparkassendirektors hatte eine zwölfjährige Haftstrafe verbüßt, weil sie einen Bankangestellten mit dem Schraubenzieher aus ihrer Fahrradwerkzeugtasche erstochen hatte. Der Mann war nicht bereit gewesen, Kikis damaligem Lebensgefährten Adrian Roth einen Kredit zu gewähren, hatte sie stattdessen von oben herab behandelt und dann auch noch angefasst.

Seit drei Jahren pflegt Kiki die Schwerkranke, und inzwischen wohnt sie auch bei ihr.

Glücklicher Tod

Adrian Roth lebt jetzt seit vier Monaten mit einer Frau namens Sonja zusammen. Obwohl sie inzwischen wissen müsste, dass er Kräutercremesuppe nicht mag, bereitet sie eine mit frischem Bärlauch zu.

Er tauchte den Löffel ein, rührte, bis die sämige Flüssigkeit eine gleichmäßig gallegrüne Farbe aufwies, bemühte sich, nicht an Erbrochenes zu denken, sondern an Cremespinat. Den er auch nicht mochte. […]
„[…] Gut?“, fragte sie schwer atmend, ihr Blick geradezu verklärt.
Er nickte unentschlossen, in Gedanken schon in ihr. Wie sollte er Suppe essen, wenn sie ihn ansah, als vögelte er sie gerade in den siebten Himmel? Sie aß, als könnte sie es selbst kaum erwarten, geradezu gierig. Und auch er musste zugeben, dass die Suppe von Löffel zu Löffel an Geschmack gewann. Warm und, ja, leuchtend floss sie, anstatt in den Magen durch seine Adern bis in die kribbelnden Zehen und unter die Kopfhaut, die zu blubbern schien, seine Haare vibrieren ließ und ihm einen Schauer der Erregung über den Rücken sandte. […] Er tauchte den Löffel in die fast leere Schale, sah das Metall sich biegen, ins Grün zerfließen und wieder fest werden […].
Er hob die Hand, um Sonja das Wunder zu zeigen, sah sie den Mund öffnen wie zu einem Lustschrei. […] Dann fiel sie nach vorn. Der Tisch erzitterte, der Raum weitete sich, ließ alles, was draußen war, hineinströmen und alles tönte, ein Glitzern in der Luft […].

Aufgrund einer Häufung von Todesfällen in Wien und Umgebung warnt der österreichische Gesundheitsminister in den Medien vor dem Verzehr frischen Bärlauchs. Zwar müsse man noch Laboranalysen abwarten, heißt es, aber man vermutete ein Pilzgift als Ursache. Das Mykotoxin wirke rasch. Wer eine halbe Stunde nach dem Essen noch lebe, sei außer Gefahr. Weil keine Zeit für notfallmedizinische Maßnahmen bleibe, sei keine Überlastung des Gesundheitssystems wie bei COVID-19 zu befürchten.

Es spricht sich herum, dass der von Grauschimmel befallene Bärlauch nicht nur eine tödliche, sondern auch eine psychotrope, euphorisierende Wirkung hat: die Opfer sterben in einem Glücksrausch. Das bringt viele unheilbar Kranke und andere lebensmüde Menschen auf die Idee, mit diesem Naturmittel ihr Leiden zu beenden oder es zumindest für den Notfall zu besorgen.

Es gibt allerdings auch Leute, die das alles für von den Lebensmittelkonzernen initiierte Fake-News halten. Dumpstern ist bereits verboten. Die Menschen sollen sich ihr Essen aber auch nicht mehr in der Natur suchen, weil die Unternehmen daran nichts verdienen. Im Internet verbreiten sich neue Verschwörungstheorien über einen biologischen Kampfstoff. Ziel eines globalen Kartells, zu dem auch die Mainstream-Medien gehörten, sei es, nach dem Ende des Corona-Wahnsinns erneut Schulen, Geschäfte und Gastronomie zu schließen, um möglichst viele Existenzen zu zerstören und die Bevölkerung in Abhängigkeit zu bringen.

Ein früherer österreichischer Innenminister denkt laut über Nutzungsmöglichkeiten des tödlichen Pilzes nach: Man könne damit nicht nur die Zahl der Islamisten dezimieren und die unkontrollierte Zuwanderung eindämmen, sondern das Mittel in Konkurrenz zu den Pharmariesen als Gift für die Vollstreckung von Todesurteilen verkaufen.

Kiki und Jasse

Als Olga die Berichte im Fernsehen aufmerksam verfolgt, ahnt Kiki bereits, worüber die MS-Kranke nachdenkt, und prompt bittet Olga sie darum, im Wald nach verschimmeltem Bärlauch zu suchen.

Kiki folgt anderen Sammlerinnen, streift Einweghandschuhe über und füllt ungeachtet des Schildes „Bärlauch pflücken verboten!“ eine Plastikdose mit pilzbefallenen, nach Knoblauch riechenden Blättern. Als Aufseher kommen, rennt Kiki zusammen mit einem Mädchen weg.

Jasmin („Jasse“) Koubek, eine Schülerin, die in wenigen Tagen ihren 14. Geburtstag feiert, kennt Kiki vom Sehen. Seit ihre Mutter Lisa vor fünf Monaten verschwand und sie mit ihrem Vater Paul allein zurückblieb, hat sie die Orientierung verloren, sieht keinen Sinn mehr im Leben und trägt sich mit Suizidgedanken. Deshalb pflückte sie ein paar Blätter des giftigen Bärlauchs.

Der Tod in der Pizzeria

Kiki nimmt Jasse nach der Flucht in eine Pizzeria mit. Dort taucht unerwartet die berühmte Talkshow-Moderatorin Magistra Sofia Gruber auf und setzt sich ohne zu fragen zu ihnen an den Tisch. Die arrogante, anmaßende Prominente will mit ihrer früheren Mitschülerin Kiki ungestört reden, und bevor sie zur Toilette geht, fordert sie deshalb deren junge Begleiterin hochmütig auf, sich zu verabschieden.

Kiki gelingt es, unbemerkt ein paar Bärlauch-Blätter aus ihren Jackentaschen über den für die Gruber bereits servierten Rucola zu streuen.

Aus sicherer Entfernung beobachtet sie durchs Fenster, wie die aufgeblasene TV-Größe zurückkommt, beim Essen auf Kiki einredet – und plötzlich samt Stuhl umkippt. Kein Zweifel: sie ist tot!

Jasse folgt Kiki, die während des Aufruhrs die Pizzeria verlassen hat und beobachtet, wie die Frau die Dose am Donaukanal leert. Offensichtlich will sie nicht, dass man bei ihr Bärlauch sicherstellt, falls die Polizei von Zeugen erfährt, dass sie mit dem Opfer am Tisch saß.

Jasse in neuen Schwierigkeiten

Als Jasse sich ein paar Tage später vor der Pizzeria herumtreibt, wird sie vom Kellner erkannt und von der alarmierten Polizei aufgegriffen. Nach ihrer Zeugenbefragung holt der als Heizungs- und Lüftungstechniker bei dem Unternehmen Ktec Klimatechnik in Wien arbeitende Paul Koubek seine inzwischen 14-jährige Tochter im Landeskriminalamt ab.

Chefinspektor Johann („Joe“) Holzer leitet die Ermittlungen im Mordfall Gruber. Durch die Aussage des überforderten Mädchens erfährt er, wer mit der Fernsehmoderatorin in der Pizzeria am Tisch saß. Kiki versucht erst gar nicht, den Verdacht zurückzuweisen. Sie resigniert, weil sie wegen Totschlags vorbestraft ist und auch die Gelegenheit dazu hatte, der Gruber Gift in den Salat zu mischen. Man bringt sie zur U-Haft in die Justizvollzugsanstalt Wien-Josefstadt.

Bald darauf bereut Jasse, Kiki verraten und eine Unschuldige ins Gefängnis gebracht zu haben. Aufgeregt gesteht sie ihrem Vater, dass nicht Kiki, sondern sie den Bärlauch über den Rucola gestreut habe. Paul Koubek hat seiner Tochter zwar immer gepredigt, dass man für seine Taten einstehen müsse, aber nun will er unbedingt verhindern, dass Jasse sich der Polizei stellt.

Marco Pilz und Karol Novak

Die Nachrichten über den pilzbefallenen Bärlauch bringen Marco Pilz, einen Mikrobiologen der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg dazu, nach Wien zu reisen. Der Doktorand, der sich in seiner Dissertation mit Gain-of-function-Mutationen bei filamentösen Pilzen und parasitären Beziehungen von Pflanzen und Schimmelpilzen befasst, versteht sich nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Journalist, denn unter dem Pseudonym Myko engagiert er sich als Redakteur der Website sporenwelt.de, mit der er die Bezeichnung Viennese Weed (Wiener Gras) für den tödlichen Schimmel prägt.

In Wien macht er sich an Dr. Karol Novak heran, einen schwulen Forschungsassistenten mit Zwei-Jahres-Vertrag an der Universität für Bodenkultur (BOKU), der im Gewächshaus mit  dem neuen Schimmelpilz experimentiert.

Es gelingt Marco Pilz, ohne Akkreditierung an einer Veranstaltung im Festsaal der Hochschule in Wien teilzunehmen, die dazu dient, dem neu entdeckten Pilz feierlich einen Namen zu geben: Botrytis exanima. In der Pressekonferenz meldet sich der deutsche Mikrobiologe zu Wort und fragt Dr. Nadja Sikora-Fleck, Associate Professorin am Institut für Mikrobiologie und Mikrobielle Biotechnologie an der BOKU, ob die ungewöhnliche Kombinationen von Eigenschaften von Botrytis exanima auf einen menschengemachten horizontalen Gentransfer hinweise.

Die Wende

Obwohl Jasse ihrem Vater versprach, nichts ohne ihn zu unternehmen, meldet sie sich im Landeskriminalamt bei Chefinspektor Holzer, um ein Geständnis abzulegen. Weil sie zur Tatzeit das 14. Lebensjahr noch nicht ganz vollendet hatte, wäre sie strafunmündig. Holzer erklärt ihr, dass Christiane Bach ohnehin soeben aus der Untersuchungshaft entlassen werde und scheucht sie fort.

Als Kiki von der JVA nach Hause kommt, ist Olga nicht mehr da.

Auf eigenen Wunsch lebt Olga nun im Pflegeheim Haus Hildegard. Kiki besucht sie dort und bringt ihr gegen die Krämpfe 20 vorgerollte Joints mit. Im Garten der Einrichtung zeigt Olga ihrer Besucherin einen Fleck mit verschimmeltem Bärlauch. Unabsichtlich atmet Kiki Sporen des Pilzes ein – und wird dadurch high. Sie stürzt und muss mit einer Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht werden.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Spoiler

Dass das Einatmen der Sporen von Botrytis exanima berauschend wirkt, hat auch Dr. Karol Novak im Selbsttest herausgefunden. Der ehrgeizige Forscher schuf den Schimmelpilz durch Genmanipulation, um wahrgenommen zu werden und wissenschaftliche Anerkennung zu bekommen. Ihm kam es auf spektakuläre Eigenschaften wie eine Biolumineszenz und eine halluzinogene Wirkung an. Aber auch, als sich Todesfälle durch Botrytis exanima häuften, unternahm er nichts, um die Katastrophe aufzuhalten.

Unerwartet ruft Lisa ihre Tochter aus Costa Rica an und lädt sie dazu ein, in den Ferien zu ihr zu kommen. Aber Jasse bleibt bei ihrem Vater und freut sich darüber, dass er und Kiki sich inzwischen nähergekommen sind.

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In Gudrun Lerchbaums Roman „Das giftige Glück“ wird Bärlauch entdeckt, dessen Genuss tödlich ist, aber keinen qualvollen Todeskampf verursacht, sondern euphorisiert und einen letzten Glücksmoment hervorruft. Die Wirkung geht von einem Schimmelpilz aus, der in Wien und Umgebung wild wachsenden Bärlauch befallen hat. Obwohl die Behörden nach den ersten Todesfällen das Pflücken von Bärlauch verbieten, strömen die Menschen in die Wälder, um Blätter der Pflanze zu zu sammeln.

Unheilbare kranke Menschen bitten Angehörige, ihnen etwas von dem tödlichen Bärlauch zu besorgen, um ihr Leben beenden zu können. Menschen, die aus verschiedenen Gründen verzweifelt sind und keinen Sinn mehr im Leben sehen, besorgen sich die Blätter aus dem gleichen Grund. Und es gibt Menschen, die sich etwas von dem giftigen Glück besorgen und es aufheben, um notfalls darauf zurückgreifen zu können. Gudrun Lerchbaum berührt damit Themen wie Suizid, Sterbehilfe und selbstbestimmtes Leben bzw. Sterben. Die Romanfigur Jasse meint dazu:

„Es geht darum, das Leben auszuhalten.“

Im Nachwort erklärt Gudrun Lerchbaum:

Hinter der eigentlichen Handlungsebene der Geschichte liegt eine weitere, auf der dieses Projekt für mich den Ausgang nahm. Sie erzählt davon, wie der Tod, den zu verdrängen wir so gewohnt sind, überraschend die Bühne betritt und die Handlung an sich reißt.

Die Handlung des Romans spielt in naher Zukunft und wirft auch in der aktuellen COVID-19-Pandemie strittige Fragen auf: Wie weit darf der Staat die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger einschränken, um die Bevölkerung zu schützen? Gudrun Lerchbaum lässt in „Das giftige Glück“ einen ehemaligen österreichischen Innenminister von einer Partei auftreten, bei der man an die FPÖ denkt. Der schwadroniert über die Mögichkeit, das Gift nicht nur zu vermarkten und anderen Staaten zur Vollstreckung der Todesstrafe anzubieten, sondern damit auch die Zahl der Islamisten zu dezimieren. Wie bei COVID-19 verbreiten sich Verschwörungstheorien über die angebliche Manipulation der öffentlichen Meinung durch Fake-News, die von Lebensmittelkonzernen stammen, für die es geschäftsschädigend ist, dass Menschen Bestandteile ihrer Nahrung in der Natur sammeln oder selbst anbauen.

Zu den vielen Themen in „Das giftige Glück“ gehört das der Kontrolle der Natur durch die Zivilisation.

Und nicht zuletzt weist Gudrun Lerchbaum auf die Bedeutung von Verantwortung und Familie, Mitmenschlichkeit und Freundschaft hin.

Das bisher Gesagte zeigt, dass es sich bei „Das giftige Glück“ um einen Gesellschaftsroman handelt. Weil Gudrun Lerchbaum einen Mordfall eingebaut hat, kann man „Das giftige Glück“ zugleich als Kriminalroman lesen. Spätestens beim Umgang mit der Aufklärung des Verbrechens wird „Das giftige Glück“ zur Groteske, und deshalb darf man dann nicht länger erwarten, dass die Handlung stringent und realistisch bleibt.

Gudrun Lerchbaum entwickelt die knapp drei Wochen lang dauernde Handlung chronologisch und betitelt die Kapitel – ich glaube, es sind zehn – mit „Tag 1“ bis „Tag 20“. Sie schreibt anschaulich aus wechselnden Perspektiven.

Christiane Maria („Kiki“) Bach, Olga Schattenberg und Dr. Adrian Roth kennen wir übrigens bereits aus Gudrun Lerchbaums Roman „Wo Rauch ist“.

Weil es eine Besonderheit ist, sei noch erwähnt, dass das Buch fadengeheftet und mit einem farbigen, passend verzierten Vorsatz ausgestattet ist.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Haymon Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.