Matthias Lohre : Der kühnste Plan seit Menschengedenken

Der kühnste Plan seit Menschengedenken
Der kühnste Plan seit Menschengedenken Originalausgabe Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2021 ISBN 978-3-8031-3336-6, 480 Seiten ISBN 978-3-8031-4314-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Münchner Architekt Herman Sörgel beginnt in den 20er-Jahren, sich für die Idee eines vom Nordkap bis Kapstadt reichenden Kontinents zu engagieren und plant gigantische Staudämme bei Gibraltar und den Dardanellen, um das Mittelmeer abzusenken. Mit dem Großprojekt will er auch den Hass der Völker in Europa überwinden und Frieden schaffen. Das Vorhaben des pazifistischen Visionärs deuten die Nationalsozialisten dann allerdings in einen Welteroberungsplan um ...
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Kritik

Herman Sörgel und sein Projekt Atlantropa hat Matthias Lohre sich nicht ausgedacht. Daraus hat er mit schon fast überschäumender Fabulierlaune einen fulminanten Roman gemacht: "Der kühnste Plan seit Menschengedenken". Vor dem realen Hintergrund der Weimarer Republik, der NS-Herrschaft und der Nachkriegszeit erzählt Matthias Lohre eine packende Geschichte, die sich um visionäre Ideen, den Glauben an technischen Fortschritt, aber auch um Verrat, Hass und Antisemitismus dreht.
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Auftakt, 1925

Als die 30-jährige Berliner Antiquitäten-Händlerin Irene Villanyi mit ihren Eltern Fredy und August im Herbst 1925 in die USA reist, begegnet sie auf dem Schiff dem elf Jahre älteren, Monokel tragenden Regierungsbaumeister Herman Sörgel aus München, und in New York sorgt sie zwei Wochen später für ein Wiedersehen, das er für Zufall hält. Aber sie meint:

„Zufälle gibt es nicht, nur Zusammenhänge, die man nicht erkennt.“

Herman Sörgels kinderlos gebliebene Ehe wurde vor vier Jahren geschieden. Im Mai 1926 besucht er Irene und deren Eltern in Zürich, wo die jüdische, in Berlin ansässige Familie die Hälfte des Jahres verbringt. Irene kündigt an, dass sie und Herman in naher Zukunft in München zusammenziehen wollen.

Der pazifistische Architekt hält die Schweiz für ein Vorbild:

„Hier regeln selbstbewusste Bürger ihre öffentlichen Dinge eigenständig und zivil. Über geographische und sprachliche Grenzen hinweg.“

Die Völker Europas müssten ihren gegenseitigen Hass überwinden und sich in einer europäischen Föderation zusammenfinden, Paneuropäer werden, um einen zweiten Weltkrieg zu verhindern und Frieden zu schaffen. Unbeeindruckt fragt Fredy Villanyi:

„Wovon wollt ihr denn leben? Von den Idealen von Frieden und Zusammenarbeit?“

Sie weiß bereits, dass Herman Sörgel als Leiter der von Bernhard Borst herausgegebenen Architekturzeitschrift „Baukunst“ vor kurzem entlassen wurde. Irene erfährt das erst jetzt, als ihre Mutter die neue Ausgabe der Zeitschrift aufschlägt und die „Mitteilung des Herausgebers“ vorliest, der zufolge Herman Sörgel von Wilhelm Heizer abgelöst wurde.

Eheschließung

Immerhin hat Herman Sörgel eine neue Anstellung in Aussicht, und zwar als Ingenieur des 1924 in Betrieb genommenen Walchensee-Kraftwerks, an dessen Planung sein 1910 gestorbener Vater Johannes („Hans“) Nikolaus Ritter von Sörgel als Leiter der Bayerischen Oberbaubehörde beteiligt war.

Der Kraftwerksleiter Ferdinand Maria Helminger erwartet Herman Sörgel zum Vorstellungsgespräch. Während die beiden mit dem Aufzug zum Walchensee hinauffahren, wird Irene Villanyi in Kochel von einer hasserfüllten Antisemitin angespuckt. Helminger, der Sörgels Vater sehr schätzte, überrascht seinen Besucher nicht nur mit einem vorbereiteten Arbeitsvertrag, sondern auch mit einem Aufnahmeantrag in die NSDAP.

Als Herman Sörgel darauf hinweist, dass er vorhabe, in eine jüdische Familie einzuheiraten, an deren Hausfassade in Berlin jemand „Juda verrecke“ geschmiert hatte, meint Helminger:

„Solche Dummheiten rücken ein wichtiges Anliegen ins falsche Licht. Die Entfernung der Juden aus dem Reich muss natürlich geordnet vonstattengehen.“

Und im selben Atemzug rät er dem Bewerber, die Verlobung zu lösen. Herman Sörgel lehnt daraufhin das Stellenangebot ab.

Irene Villanyi und Herman Sörgel heiraten in England, obwohl sie es lächerlich finden, vor einem Standesbeamten zu versprechen, sie würden sich lieben und ehren bis zum Tod. Irene Sörgel finanziert den gemeinsamen Lebensunterhalt mit dem Handel von Antiquitäten, während Herman an seinem Plan für „Panropa“ arbeitet, der „New York Times“ Interviews gibt und mit Persönlichkeiten wie Albert Einstein korrespondiert.

Panropa

Herman Sörgel geht davon aus, dass Europa zwischen den in Amerika und Asien entstehenden Machtblöcken zerrieben wird, falls es den Nationen nicht gelingt, ihren Hass zu überwinden und nicht nur eine europäische Föderation zu bilden, sondern Afrika mit einzubeziehen, und zwar nicht als Kolonialreich, sondern als Partner.

Nord- und Südamerika, erklärte er beiläufig, schlössen sich früher oder später zu einer Union zusammen. Asien würde schon bald von China und Japan dominiert. So entstünden im Osten und im Westen zwei gewaltige Machtblöcke, die sich neue, lukrative Ziele suchen. […] „Amerika und Asien werden [Afrika] in die Zange nehmen. Sie werden mit Armeen kommen und mit Geld, mit Versprechungen und Drohungen. Die alten Kolonialmächte sind zu schwach, um sich auf Dauer dagegen zur Wehr zu setzen. Schon gar nicht gegen den Willen einer neuen Generation von Afrikanern. […] Was folgt also daraus? Wenn Europa und Afrika im globalen Machtkampf bestehen wollen, dann müssen wir uns zusammentun. Nur gemeinsam haben wir eine Chance, nicht bloß irgendwie in dieser neuen Welt zu überleben, sondern zu gedeihen.“

Wenn bei Gibraltar und an den Dardanellen geplante Staudämme verhindern, dass weiterhin Wasser aus dem Atlantik und dem Schwarzen Meer ins Mittelmeer strömt, wird sich der Meeresspiegel senken − und fruchtbares Neuland entstehen. Der Restzufluss durch die Staudämme treibt gewaltige Turbinen zur Stromerzeugung an, und über die entstehenden Landbrücken rollt dann der Zugverkehr zwischen Berlin und Kapstadt.

„Hier“, sagte Herman und zeigte auf einen glänzenden Fleck über ihnen, „hier ungefähr liegt Sizilien. Das verwächst mit Italiens Festland. Und zwischen Sizilien und Tunesien bauen wir, wenn wir das Meer einmal gesenkt haben, einen zweiten Damm, sechsundsechzig Kilometer lang. Darauf verlaufen natürlich Straßen und Eisenbahnschienen. Stellen Sie sich das vor: Sie setzen sich in Berlin in den Zug, und ohne Umsteigen fahren Sie bis in die begrünte Sahara.“

Das Projekt „Panropa“ verspricht nicht nur neuen Lebensraum und elektrische Energie, sondern dadurch würden auch für Jahrzehnte hunderttausende von Arbeitsplätzen entstehen. Das soll nach Herman Sörgels Vorstellungen die Völker Europas und Afrikas zusammenbringen, also Frieden schaffen.

„Panropa, das ist Frieden durch Zusammenarbeit.“

„Jede Nation hat von der Mitarbeit konkrete Vorteile […]. Mehr und saubere Energie, mehr fruchtbares Land. Und durch die Kooperation wächst Europa immer enger zusammen. Jeder wird von jedem abhängig, und dadurch werden alle stärker. Das ist ja das Geniale: Die Nationen müssen die Einigung Europas nicht einmal wünschen. Durch ihr Tun wird sie trotzdem geradezu zwangsläufig Wirklichkeit.“

Einen der ersten Förderer seiner Idee gewinnt Herman Sörgel mit dem Schweizer Architekten Bruno Siegwart, und der 66-Jährige reist 1929 mit ihm nach Gibraltar. Dort mieten sie ein Boot, um zwischen Europa und Afrika Tiefe und Strömung des Meerwassers messen zu können: ein Abenteuer, das beinahe tödlich endet.

Atlantropa

Herman Sörgel gelingt es 1931 mit einem neun mal fünf Meter großen Modell des Mittelmeerbeckens, das Interesse des Reichsarbeitsministers Adam Stegerwald für „Panropa“ zu wecken und kann sich deshalb Hoffnungen auf einen Ehrenpreis der Reichsregierung machen.

Die Aussicht auf eine Förderung des Großprojekts durch den deutschen Staat lässt auch andere Interessenvertreter aktiv werden. Der Schweizer Architekt Julius Schlegel schlägt Herman Sörgel vor, „eine Organisation zu gründen, die sich ganz der Umsetzung Ihres wunderbaren Planes widmet“ und lädt zu einer Gründungsversammlung am 28. April 1932 in Zürich ein.

Herman gewinnt den befreundeten Architekten Erich Mendelsohn für einen Vortrag mit dem Titel „Der schöpferische Sinn der Krise“, muss jedoch frustriert konstatieren, dass die von Julius Schlegel eingeladenen Männer für philosophische Gedanken nicht zugänglich sind, sondern auf lukrative Regierungsaufträge hoffen.

Kein Professor Bernoulli und keine Schriftsteller, keine Amtsträger oder Wirtschaftsbosse mit philanthropischen Neigungen. Stattdessen hatte Schlegel am Tisch Männer versammelt, die sich von Panropa Bauaufträge, Vertragsverhandlungen und Zinsgewinne erhofften. Die Zukunft Panropas, dachte Herman, lag in den Händen von Krämerseelen.

Im letzten Augenblick überbringt Irene die Nachricht, dass ihr der Reichsarbeitsminister Adam Stegerwald soeben am Telefon zur Verleihung des Ehrenpreises der Reichsregierung für das Projekt gratuliert habe, dessen Name nun von Panropa in Atlantropa geändert wird. Amerika, Atlantropa und Asien lauten die Bezeichnungen der vorausgedachten Kontinente.

Einige Wochen später tritt allerdings das Kabinett Brüning zurück. Franz von Papen übernimmt das Amt des Reichskanzlers. Aus der Reichstagswahl im Juli 1932 geht die NSDAP als stärkste Fraktion hervor, und am 30. Januar 1933 wird Hitler von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Regierungschef ernannt.

Publikationsverbot

Unter den Nationalsozialisten ist die Idee eines auf Pazifismus und internationaler Kooperation basierenden Projekts nicht opportun. Deshalb erscheinen keine Zeitungsartikel mehr über Atlantropa und das Ehepaar Sörgel bleibt ohne Unterstützung in München zurück.

Der Kinderwunsch der beiden scheint sich zu erfüllen: Irene ist schwanger. Aber nach zwölf Wochen stirbt das Ungeborene im Uterus.

Im November 1937 wird Herman ins Geheime Staatspolizeiamt vorgeladen. Als er dort eintrifft, sitzt Irene bereits im Büro seines früheren Schulfreundes Herfried Weber, der inzwischen zum Kriminalinspektor avanciert ist. Herman befürchtet zunächst, dass seine jüdische Frau inhaftiert werden soll, aber es geht um einen Zeitschriften-Artikel, den er im Zorn über das 1936 von Anton Kutter gedrehte Dokudrama „Ein Meer versinkt“ verfasste. In dem Film sagt ein fiktiver Befürworter des Projekts Atlantropa:

„Raum und Arbeit für jeden tut sich auf! Unter einem gesegneten Himmelsstrich wird fruchtbares Land zu einer neuen Kornkammer Europas werden! Ein Kolonialreich wird entstehen, hier im Herzen des mittelländischen Meeres, geschaffen mit Hilfe unserer modernen Technik! Das, meine Herren, ist das Projekt, das dem alten Europa einen Weg in eine bessere Zukunft weisen soll!“

In Reaktion auf die Umdeutung seiner pazifistischen und paneuropäischen Idee zum nationalsozialistischen Welteroberungstraum schrieb Herman:

„‚Totaler Krieg‘ bedeutet ‚Totaler Untergang‘, darüber sind sich alle einig. Das Problem, das unbedingt gelöst werden muss, heißt also nicht: Wie rüsten wir zum totalen Krieg, sondern: Wie vermeiden wir die Möglichkeit zu einem solchen. Was wir heute Frieden nennen, ist nur ein Übergangsstadium, das mit Rüstungsarbeiten ausgefüllt wird, und insofern – ehrlich betrachtet – einem noch nicht erklärten Kriege gleichkommt. Es muss aber in Europa eine Situation geschaffen werden, die den schwankenden, wackeligen und labilen ‚Frieden‘ zu einem tatsächlichen und unentrinnbaren, nicht mehr auflösbaren und stabilen Friedens-Zustand macht.“

Herman versucht im Geheimen Staatspolizeiamt, sich zu rechtfertigen:

„Alles, was ich geschrieben habe, steht in völliger Übereinstimmung mit den politischen Zielen der Regierung: Frieden, Wohlstand, Sicherheit.“

Aber er wird mit einem Publikationsverbot belegt, mundtot gemacht und kann deshalb auch nicht länger für sein Projekt werben.

Verrat

Nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 hält es das Ehepaar Sörgel für dringend erforderlich, das Deutsche Reich zu verlassen und beabsichtigt, sich in die USA abzusetzen. Eine offizielle Einladung zur Weltausstellung in New York 1939/40 soll ihnen helfen, Visa zu bekommen.

Der als Hermann Emanuel Knittel 1891 in Indien geborene Schweizer Schriftsteller John Knittel lässt sich vom Atlantropa-Projekt zur Arbeit an einem Roman mit dem Titel „Amadeus“ inspirieren.

„Europa ist ein Kraftwerk“, sagte Amadeus. „Es enthält alle die Kräfte, welche nötig sind, um eine gewaltige Welt zu schaffen, eine Welt, würdig unserer Zivilisation […]. Wir sind der Meinung, dass Europa und Afrika ein einziger Kontinent sein sollte, so wie Nord- und Südamerika, wie Asien und Australien […].“

Irene entdeckt ein unfertiges Manuskript ihres Mannes, in dem er von der Beherrschung Afrikas schreibt.

Großdeutschland und das italienische Imperium sind die Gebärmutter Atlantropas!

Er benutze nur das Vokabular der Nationalsozialisten, rechtfertigt sich Herman, um das Projekt voranzubringen. Aber Irene lässt das nicht gelten:

Er hatte ihr gemeinsames Projekt beschmutzt. Hatte sie belogen und hintergangen.

Das Geld, das sich die Sörgels für die Auswanderung vom Mund abgespart haben, hat Herman inzwischen ohne Wissen seiner Frau für das Buchprojekt ausgegeben.

„Bis Juni haben wir genug Geld für die Überfahrt. Also … sofern die erste Auflage sich bis dahin verkauft. Aber dann hätten wir sogar mehr als genug! Jedenfalls war das Ganze teurer als anfangs gedacht. Ich musste dem Verlag die Kosten vorstrecken.“ Er seufzte tief. „Das Buch ist schon gedruckt. Dreitausend Stück.“

Als Irene begreift, dass Herman gar nicht fort will, offenbart sie ihm, dass sie erneut schwanger ist und fügt hinzu:

„Ich werde mein Kind nicht in diesem Land zur Welt bringen.“

Missbrauch

Wie bei der ersten Schwangerschaft treten in der 38. Woche erneut Komplikationen auf, und Irene liegt schwerkrank im Bett, als der Kriminalinspektor Herfried Weber mit dem SS-Offizier Carl Schwarz in die Wohnung kommt.

Carl Schwarz lernten Irene und Herman 1930 bei einer Abendgesellschaft ihrer Freunde Erich und Luise Mendelsohn in deren Villa in Berlin-Charlottenburg kennen. Zufällig bekam Irene mit, wie der angetrunkene junge Mann während einer Ansprache des Gastgebers dessen 14-jährige Tochter Esther („MooMoo“) drängte, ihm einen offenbar kompromittierenden Liebesbrief zurückzugeben.

Schwarz klang immer dringlicher, verzweifelter: „Wieso nicht? Wo ist dein Zimmer? Doch, sofort. Jetzt komm!“
MooMoo unterdrückte einen Schrei.
Mit einem Ruck wandte Irene sich um. Schwarz, zwei Köpfe größer als Irene, schaute mit wässrigen Augen auf sie herab. […] Sie winkte ihn zu sich herab und flüsterte ihm ins Ohr:
„Verpissen Sie sich. Oder ich häng‘ Sie an Ihren kleinen Eiern auf.“

Inzwischen hat Carl Schwarz in der 1935 geschaffenen, Hitler direkt unterstellten Reichsstelle für Raumordnung Karriere gemacht.

Genüsslich klärt Schwarz den ahnungslosen Architekten darüber auf, dass Irene ausgewanderten Juden Wertsachen nachschickt.

„Händler in Frankreich und der Schweiz bestellten bei Ihrer Frau Uhren, Kerzenhalter, Schmuck und was weiß ich was noch. Zufällig hatte sie, was die anderen wünschten, immer auf Lager. Sie schickte ihnen also die Ware zu, und kurz darauf bekam sie einen Scheck. Ja, eine ganze Menge Schecks sogar! Aber das kann nicht sein, nicht wahr? Denn dann wüssten Sie ja was davon. Schließlich brauchen Sie dringend Geld, und Sie sind ja immer ehrlich zueinander. Aber …“ Schwarz zog die Augenbrauen hoch, „… was wäre, wenn doch? Was, wenn die Käufer im Ausland gar nicht die wahren Kunden sind, sondern bloß Mittelsmänner? Wenn die wahren Kunden Juden sind, die unser schönes Land verlassen haben? Dann könnten die Juden auf diesem Weg im Reich verstecktes Hab und Gut über die Grenze bringen: Sie bestellen es einfach bei Ihrer Frau, und sie liefert es ihnen. Sicher verpackt, zu handelsüblichen Preisen und mit offiziellen Ausfuhrpapieren. Alles scheinbar legal. Nett von Ihrer Frau, nicht wahr? Die Sache hat nur einen Haken: Warum sollten die Juden für ihr Eigentum – ihr ehemaliges Eigentum – reguläre Marktpreise zahlen? Sie müssen draußen ja ihr Geld zusammenhalten. Die Fluchtsteuer war schließlich happig! Und wenn sie die Hehlerware danach weiterverkaufen wollen, dürfen sie Ihrer Frau vorher nicht zu viel gezahlt haben, sonst machen sie ja am Ende kaum Gewinn. Was tut man da, hm? Sie sind doch schlau, Herr Sörgel? Welche Lösung hat Ihre Frau sich ausgedacht?“
Schwarz genoss sichtlich seinen Auftritt, wie ein Schauspieler, der endlich seinen Monolog aufsagen darf. […]
„[…] Damit alles korrekt aussah, musste sie die [Schecks] auch einlösen – für den Fall, dass das Finanzamt sie prüfte. Das hat sie auch getan, jedes Mal. Nur gab es da einen Haken: Das Geld stammte von ihr! Damit die Juden draußen sie bezahlen konnten, hat sie ihnen vorher das Geld geschickt! Über Kuriere hatte sie ihnen Geld zukommen lassen. Verstehen Sie? Ihre Frau hatte nicht genug – wie sagt man: Chuzpe? –, um sich an reiche Juden zu halten. Nein! Sie hat es geschafft, die einzigen armen Juden weit und breit ausfindig zu machen. Für die hat sie ihre kleinen Freundschaftsdienste geleistet. Aus Sentimentalität hat sie ihnen geholfen, ans Familiensilber zu kommen – und was war ihr Verdienst? Nichts! Im Gegenteil: Ein paar der feinen Juden haben ihr nie den versprochenen Scheck geschickt; haben sich einfach mit Geld und Ware davongemacht. Feine Leute, was? […]“

„Ein Wort von mir, und Ihre Frau kommt nach Dachau. Das mag Ihnen jetzt nicht mehr ganz so wichtig sein – nach dem, was sie getan hat. Könnte ich sehr gut verstehen. Aber sie hat Sie da mit reingezogen. Niemand wird Ihnen glauben, wenn Sie behaupten, Sie hätten nichts gewusst. Nein, mein Lieber, dann gehen Sie mit ihr mit!“

Damit setzt Schwarz den Architekten unter Druck. Er will, dass Herman Sörgel mit ihm nach Berlin fährt und dort als Abteilungsleiter in der Reichsstelle für Raumordnung an seinem Großprojekt weiterarbeitet. Schwarz geht davon aus, dass er mit dem im Sinne der nationalsozialistischen Eroberungspläne umgedeuteten Projekt Atlantropa seine Karriere fördern könne.

„Einen Rat noch“, sagte Schwarz. „Lassen Sie sich scheiden. Sonst könnte es doch noch eng für Sie werden.“

Die Sörgels versuchen zu fliehen. Aber im Bahnhof bricht Irene zusammen. Zwei Streifenpolizisten tragen sie zur Krankenstation. Eine Jüdin wird dort jedoch nicht behandelt. Ein Taxi bringt sie ins Israelitische Kranken- und Schwesternheim. Und dort wird eine Placenta praevia totalis diagnostiziert. Der Fötus ist im Uterus erstickt.

Im August 1942 erwartet SS-Sturmbannführer Carl Schwarz von Herman Sörgel, dass dieser ihm hilft, den SS-General Richard Korherr, der die Statistische Abteilung im SS-Hauptamt leitet, als Unterstützer von Atlantropa zu gewinnen. Als er merkt, dass der Architekt schwer krank ist, beschimpft er ihn, denn er fürchtet um seinen Ruf:

„Ach, scheiße. Warum machen Sie so ’nen Scheiß? Ausgerechnet jetzt! Scheiße!“

Korherr interessiert sich zwar für das Projekt, meint allerdings:

„Kommen Sie doch nach dem Krieg wieder, ja?“

Nach dem Debakel in Stalingrad gibt Carl Schwarz die Hoffnung auf, mit Atlantropa punkten zu können:

„Haben Sie nicht mitgekriegt“, sagte Schwarz, „wie’s im Osten läuft? In Afrika? Ihr Plan interessiert keine Sau mehr!“

Showdown

Irene weiß von Luise Mendelsohn, dass Carl Schwarz befürchtet, selbst einen jüdischen Vater zu haben. Das geht aus dem Brief hervor, den er damals von seiner jüdischen Freundin Esther zurückhaben wollte.

Die Firma seiner Familie, Schwarz & Cie., hatte über mehrere Generationen hinweg Kolonialwaren, vor allem Kaffee und Zucker, an Einkaufsgenossenschaften in halb Deutschland verkauft, wovon Kontore in Köln, Greifswald und Augsburg zeugten. Kurz nach der Jahrhundertwende ließ ein Urenkel des Firmengründers sich in Frankfurt nieder. Seiner jungen Verlobten baute er im nahen Kronberg im Taunus ein kleines Haus, das sich erweitern ließ, sobald die fest eingeplante Kinderschar mehr Platz benötigte. Es kam anders. Die Verlobte, damals siebzehn Jahre jung, erhielt auf Wunsch ihres Vaters, eines Gymnasialdirektors, bis zur Hochzeit Unterricht in Latein und Französisch. Ihr Lehrer war ein fünfundzwanzigjähriger Doktorand der Medizin namens Samuel Heim, der sich auf diese Weise den Lebensunterhalt finanzierte. […] Nur sechs Monate nach der überraschend vorgezogenen Hochzeit des jungen Schwarz mit seiner Braut wurde ihnen ein Sohn geboren: Carl Felix Maria Schwarz. Er blieb ihr einziges Kind. Als Carl fünf Jahre alt war, erlag sein Vater einem Schlaganfall. Seine Mutter starb sechs Jahre darauf an einer zu spät erkannten Blutvergiftung. Der Waisenknabe kam zu einer verwitweten Schwester der Mutter, die ihn wenig später in ein Internat gab. Dem unverhohlenen Getuschel der Kronberger Bevölkerung zufolge war Schwarz junior in Wahrheit der Sohn des jüdischen Hauslehrers. Dieser habe, als die Schwangerschaft offenbar wurde, das Weite gesucht.

Die Familie Mendelsohn emigrierte im Frühjahr 1933 zunächst nach England und 1941 in die USA. Irene machte sie inzwischen in Croton-on-Hudson, einem Dorf nördlich von New York, ausfindig. Ein Mittelsmann telefonierte von der Schweiz aus mit Esther Mendelsohn, ließ sich Carl Schwarz‘ Brief vorlesen und schrieb mit.

Die Abschrift hat Irene bei sich, als sie und Herman am 16. März 1943 an dem Haus in Berlin klingeln, in dem Carl Schwarz jetzt wohnt. Verblüfft lässt er das Ehepaar eintreten. Irene liest:

„Liebe MooMoo, ich finde es sehr schade, dass wir uns nach dem Segeltörn aus den Augen verloren haben. Aber das ist wohl kein Zufall, nicht wahr? Ich glaube, ich weiß, warum Du mich meidest.“

Das Original, erklärt Irene, befinde sich in den USA, und sollte ihr oder Herman etwas passieren, würden fünf wichtige Nationalsozialisten notariell beglaubigte Kopien erhalten. Ein Kontaktmann erwarte jede Woche ein Lebenszeichen. Bliebe es zweimal aus, wäre das ebenfalls ein Signal, die Kopien abzuschicken.

Carl Schwarz, der gerade von seinem Chauffeur abgeholt wird, fordert seine ungebetenen Besucher auf, ihn zu begleiten, und ihnen bleibt nichts anderes übrig, als mit ihm einzusteigen. Hämisch meint Schwarz:

„Der nächste Großangriff auf München kommt bestimmt. Dann tauchen halt zwei Namen mehr auf den Opferlisten auf.“

Sie fahren zu einem Schutzhaftlager nördlich von Berlin. Im Innenhof steigen sie aus. Schwarz zündet sich eine Zigarette an und zeigt nach einer Weile zum Wachturm. Dort steht sein Chauffeur neben einem Soldaten, der ein Maschinengewehr auf die Gruppe im Hof gerichtet hat.

Schwarz streckte seine Zungenspitze zwischen den Lippen hervor, zupfte ein Stück Tabak ab und schnipste es fort. „Gleich trete ich ein paar Schritte zurück. Wenn ich rufe Los!, dann rennen Sie zu der Baracke da.“

Nachdem er die beiden in Angst und Schrecken versetzt hat, bietet er dem Architekten an, dass er weiter an seinem Projekt arbeiten dürfe. Allerdings müsse er dem Kontaktmann regelmäßig melden, es sei alles in Ordnung.

„Wir würden lieber“, sagte Irene zögerlich, „in der Schweiz an dem Plan arbeiten.“
„Wir?“, fragte Schwarz. „Mit Ihnen hat das nichts zu tun.“
„Ich verstehe nicht.“
„Na, Sie laufen zur Baracke.“

Statt sich aufzugeben, tut Irene so, als habe sie noch ein Ass im Ärmel: Luise Mendelsohn habe Kontakt zu einem Pathologen am Queen’s College in London, einem älteren jüdischen Herrn namens Samuel Heim, behauptet sie. Falls die bereits angesprochene wöchentliche Meldung des Mittelsmanns ausbleibe, werde er gegenüber dem Standesamt Kronberg seine Vaterschaft für Carl Felix Maria Schwarz anerkennen.

Daraufhin lässt Schwarz das Ehepaar Sörgel von seinem verwunderten Chauffeur zum Anhalter Bahnhof bringen.

Kriegsende

Irene und Herman Sörgel ziehen sich nach Oberstdorf zurück.

Als dort am 2. Mai 1945 an die Tür gehämmert wird, befürchten sie das Schlimmste, und Irene öffnet mit zwei Messern in den Händen. Aber es sind die Offiziere Pierre Thiebaut von der französischen und John F. Purdum von der US-Armee, die nach dem Ehepaar suchen, das durch die gemeinsame Arbeit der Staaten an Atlantropa Frieden schaffen will.

Der Architekt öffnet eine Mappe und zeigt den Besuchern Bauzeichnungen, die Irene noch nie gesehen hat. Es geht nicht um Staudämme, sondern um die sogenannte Ordensburg der Nationalsozialisten in Sonthofen.

„Sie ist riesig, intakt und überragt die ganze Gegend. Nun braucht sie eine neue Bestimmung. Eine, die Hoffnung schürt, nicht Angst. Den Glauben an die Zukunft, nicht an eine sagenhafte Vergangenheit. Stellen Sie sich vor, Mister Purdum, wenn das Schloss eine Schule für hochbegabte Kinder aus der ganzen Welt werden würde. Wo man sie Demokratie und Toleranz lehrte. Ein Schloss der Freiheit.“

Das College würde junge Menschen aller zivilisierten Völker zusammenbringen, finanziert von den Amerikanern und dem bayerischen Staat, überwacht von einer Kommission der Alliierten, verwaltet von einem Kuratorium und unterstützt von internationalen Wissenschaftlern und Experten. Dafür musste man die alten großzügigen Baupläne nur wenig verändern. Wie Amadeus Müller in Johns Roman, so würde Herman in den Bergen eine Gemeinschaft formen, die sich Atlantropa verschrieb. Auf die neue, weisere Generation musste er nicht länger warten. Er würde sie selbst heranziehen!

In dem College wünscht sich Herman Sörgels ein Atlantropa-Forschungs-Institut. Irene begreift, dass Herman ihr nicht nur diesen Plan verheimlicht hat, sondern auch seine Absicht, im Land zu bleiben, statt mit ihr in die USA zu emigrieren.

John F. Purdum

Im Juli 1945 lösen die Amerikaner die Franzosen als Besatzungsmacht im westlichen Allgäu ab.

Während Herman in der ehemaligen Ordensburg zu tun hat, fährt Irene ebenfalls nach Sonthofen und trifft sich mit John F. Purdum, dem Kommandanten der Militärregierung. Von ihm erhofft sie sich Unterstützung bei der Erteilung der für die Aufnahme in den USA erforderlichen Visa. Und wieder erlebt sie eine Überraschung: Sie erfährt, dass Herman seinen Antrag vor drei Monaten zurückgezogen hat.

Aufgebracht eilt sie zur Ordensburg und stellt ihn zur Rede. Weil sie es danach nicht mehr schaffen würde, vor der um 20 Uhr beginnenden Ausgangssperre nach Oberstdorf zurückzukommen, sucht sie Zuflucht bei John Purdum.

Er ist Mitte 50, ein paar Jahre älter als Irene und seit drei Jahren verwitwet. Seine beiden Töchter leben bei seiner Mutter und seiner Schwester in Pennsylvania. Im Zivilleben unterrichtet er dort Geschichte und Englisch an einem College.

Ausklang, 1952

Am 24. Dezember 1952 bereiten sich John Purdum und Irene, die nach der Scheidung im Sommer 1951 wieder ihren Mädchennamen Villanyi angenommen hat, auf den für den nächsten Tag gebuchten Flug nach London vor. Von dort wollen sie über New York nach Philadelphia reisen, wo Irene versuchen wird, der 14-jährigen Catherine und der knapp zwei Jahre älteren Madeleine Purdum die Mutter zu ersetzen.

Da erfährt sie, dass Herman schwer verletzt im Krankenhaus liegt. Ungeachtet der Reisevorbereitungen eilt sie hin.

Am 4. Dezember 1952 fühlte er sich von einem Auto verfolgt, als er auf dem Weg zu einem Vortrag in der Prinzregentenstraße in München mit dem Rad um den Friedensengel herumfuhr. In Panik versuchte er zu entkommen, wurde angefahren und stürzte.

„Irene, ich bin nicht paranoid. Es gibt nun mal Kräfte, die durch Atlantropa etwas zu verlieren haben. Die müssen ja nicht alle handeln, es genügen ein paar Leute. Und dass so was passiert, ist ziemlich realistisch.“

Irene ist bei ihm, als er am nächsten Morgen stirbt.

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Den Architekten Herman Sörgel und sein Projekt Atlantropa hat Matthias Lohre sich nicht ausgedacht. Aus den Tatsachen hat er mit schon fast überschäumender Fabulierlaune einen fulminanten Roman gemacht: „Der kühnste Plan seit Menschengedenken“.

Vor dem realen Hintergrund der Weimarer Republik, der NS-Herrschaft und der Nachkriegszeit erzählt Matthias Lohre eine packende Geschichte über ein Großprojekt, mit dem Herman Sörgel den gegenseitigen Hass der Völker in Europa überwinden und Frieden schaffen will. Während der pazifistische Visionär einen neuen, vom Nordkap bis Kapstadt reichenden Kontinent ohne Imperialismus anstrebt, der mit den in Amerika und Asien entstehenden Machtblöcken mithalten kann, deuten die Nationalsozialisten den Plan im Sinne einer aggressiven Eroberung der Weltherrschaft um.

Matthias Lohre leitet jedes Kapitel in „Der kühnste Plan seit Menschengedenken“ mit einem Zitat ein. Darunter ist auch ein Artikel aus der Tageszeitung „Neue Zürcher Nachrichten“ vom 4. Januar 1950, in dem die Hybris des Projekts Atlantropa aufgezeigt wird. Der Autor bezweifelt weder die technische Machbarkeit noch die von Herman Sörgel erwarteten Vorteile, verweist aber auf die Kehrseite der Medaille: Absenkung des Grundwasserspiegels, Versteppung, klimatische Veränderungen, Überflutungen durch den Anstieg des Schwarzen Meeres, Erdbeben und Vulkanausbrüche …

Es geht um visionäre Ideen, den Glauben an technischen Fortschritt, aber auch um Verrat, Hass und Antisemitismus.
Die gut ausgeleuchteten Charaktere wirken farbig, vielschichtig und widersprüchlich (Shadowing). Auch die Dialoge sind lebensnah. Matthias Lohre akzentuiert die Konflikte innerhalb der Figuren ebenso wie zwischen ihnen. „Der kühnste Plan seit Menschengedenken“, das ist eine mitreißende Geschichte mit Szenen, die so spannend wie in einem atemberaubenden Psychothriller sind. (Man denke nur an die Szene im Hof des Schutzhaftlagers.)

Beim Titel des Romans hat Matthias Lohre auf die Schlagzeile eines Artikels im „Bochumer Anzeiger“ vom 17. März 1931 zurückgegriffen: „Der kühnste Plan seit Menschengedenken“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach

Mark Z. Danielewski - Das Fünfzig-Jahr-Schwert
Mark Z. Danielewski erzählt in "Das Fünfzig-Jahr-Schwert" ein makabres Märchen für Erwachsene. Aber die Geschichte ist nur ein Teil des Ganzen, denn der Text ist in ein optisches und haptisches Erlebnis eingebettet.
Das Fünfzig-Jahr-Schwert