Alexander Pechmann : Die Nebelkrähe

Die Nebelkrähe
Die Nebelkrähe Originalausgabe Steidl Verlag, Göttingen 2019 ISBN 978-3-95829-583-4, 176 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

1923 sucht der englische Mathematik-Doktorand Peter Vane noch immer nach seinem 1917 verwundeten Kriegskameraden Finley. Er lernt Dolly Wilde kennen, die Nichte des berühmten irischen Schriftstellers, der ihm in Séancen die Hand zu führen scheint …
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Kritik

Der Protagonist ist eine Fiktion, aber bei den meisten anderen Figuren in dem Roman "Die Nebelkrähe" greift Alexander Pechmann auf reale Vorbilder zurück. Und den Plot entwickelt er nach dem Muster einer Detektivgeschichte.
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Erster Weltkrieg

Peter Vane wuchs bei seinen Großeltern in England auf, denn seine Mutter Sybil Vane starb, als er drei oder vier Jahre alt war.

1914 meldet er sich freiwillig zum Kriegsdienst. An der Westfront freundet er sich mit einem anderen einfachen Soldaten namens Finley an. Diesem zerfetzt im April 1917 ein Schuss die linke Hand. Peter Vane hilft dem Verletzten, durch die Schützengraben nach hinten zu kommen, wo Finley von einem Krankenwagen der ausschließlich aus Frauen bestehenden Brakespeare Ambulance Unit abgeholt und nach Compiègne gebracht wird. Zum Abschied drückte ihm Finley noch eine Daguerreotypie mit dem Bild eines kleinen Mädchens in die Hand.

Kurz vor Kriegsende, am 31. Oktober 1918, wird auch Peter Vane verwundet.

Nach dem Krieg versucht er vergeblich, Finley ausfindig zu machen. Weder findet er ihn lebend, noch auf den Listen von Gefallenen.

Séance

Mit einem Stipendium studiert Peter Vane am King’s College in London Mathematik. 1923 arbeitet er an seiner Dissertation über die Riemannsche Geometrie.

Einem Doktoranden der Physik zeigt er die Daguerreotypie und erzählt, dass er am Morgen durch den  Ruf „Lily“ aufgeweckt worden sei. Er vermute, dass es sich um den Namen des abgebildeten Kindes handelt. Frank Bunyan, so heißt der Kommilitone, nimmt ihn daraufhin mit zur Society for Psychical Research, die übersinnliche Phänomene kritisch untersucht.

„Wir gehen davon aus, dass alle Spukphänomene Halluzinationen, alle Spiritisten Betrüger und alle Krähen schwarz sind. Doch um die letzte Behauptung zu widerlegen, braucht es nur eine einzige weiße Krähe.“ 

Bei der Society for Psychical Research lernt Peter Vane nicht nur Geraldine Cummins kennen, die ihn zu einer Séance einlädt, sondern begegnet auch einer etwa gleichaltrigen attraktiven Frau namens Dorothy („Dolly“) Wilde, und es stellt sich heraus, dass sie Finley 1917 ins Lazarett fuhr. Ihr Vater Willie Wilde war Oscar Wildes älterer Bruder. Dolly lebt in Paris mit einer Amerikanerin zusammen, hält sich aber zur Zeit in London auf, um nach dem Tod ihrer Mutter Lily einige Angelegenheiten zu regeln. Ihr Stiefvater Alexander Teixara de Mattos starb kurz nach der Mutter.

Zu Beginn der Séance legt Peter Vane die Daguerreotypie auf den Tisch, die er von Finley erhielt. Im Beisein von Eric Dingwall, der in der Society for Psychical Research dafür zuständig ist, Täuschungsversuche aufzudecken, nimmt er einen Bleistift in die Hand. Dann legt ihm Hester Dowden, die Leiterin der Sitzung, die Fingerspitzen leicht auf den Handrücken. Ungewollt bewegt Peter Vane den Bleistift übers Papier und schreibt Sätze, die ihm der Geist Oscar Wildes zu diktieren scheint. Graphologen erkennen später Ähnlichkeiten des Gekritzels mit der Handschrift des berühmten Schriftstellers.

Nachforschungen

Um mehr über die unerklärlichen Vorgänge herauszufinden, fährt Dolly mit Peter nach St. John’s Wood, wo der Antiquar Christopher Millard wohnt, der mit der Familie Wilde befreundet war, als Sekretär des Nachlassverwalters Robbie Ross fungierte und die erste Bibliografie der Werke des irischen Schriftsteller zusammenstellte. Millard erkennt auf den ersten Blick, dass auf Finleys Daguerreotypie kein Mädchen abgebildet ist, sondern Oscar Wilde als Kind. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr zog ihn die Mutter so an, als wäre er eine Tochter.

Auf dem Rückweg fährt Dolly bei Chan („Billy“) Chang vorbei, dem Gangsterboss von Soho, um sich Nachschub an Kokain und Opium zu besorgen.

Nachdem Dolly Männerkleidung angezogen hat, fährt sie mit Peter zum für Damen verbotenen Savile Club am Piccadilly Circus. Die beiden sprechen mit Algernon Blackwood, der sich an eine Aufführung der Shakespear-Komödie „Ein Sommernachtstraum“ am Theatre Royal Haymarket erinnert, in der Sybil Vane als Feenkönigin Titania auftrat.

Prinzessin Chan Toon

Etwas später klingeln Dolly und Peter bei einem Türschild mit der Aufschrift „Prinzessin Arakan – Chiromantie und Lebensberatung“. Die Bewohnerin rechnete bereits mit dem Besuch, denn Edward V. Lucas, ein Lektor des Verlags Mathuen & Co, warnte sie vor, nachdem Dolly ihn angerufen und nach dem angeblich von Oscar Wilde stammenden, 1921 in Hutchinson’s Magazine veröffentlichten und 1922 als Buch gedruckten Stück „Für die Liebe des Königs“ gefragt hatte.

Sie wurde als Mary Mabel Cosgrove in Dublin geboren und behauptet, als Kind mit Oscar und Willie Wilde befreundet gewesen zu sein. 1890 zogen ihre Eltern mit ihr nach London und eröffneten dort eine einfache Pension. In der wohnte schließlich ein Burmese, der am King’s College Jura studierte: Prinz Chan Toon. Er hielt um Mabels Hand an und heiratete sie. Nachdem das Paar zwei Jahre lang glücklich zusammen in London gelebt hatte, übersiedelte es nach Rangun. Weil der Prinz als nationalistischer Aktivist gegen die britische Kolonialherrschaft kämpfte, musste er bald darauf untertauchen. Prinzessin Chan Toon kehrte 1894 zu ihren Eltern nach London zurück und erhielt dort aus Burma die amtliche Nachricht vom Tod ihres Ehemanns.

Als sie Oscar Wilde noch im selben Jahr wiedersah und ihm nicht nur berichtete, was geschehen war, sondern auch von Belastungsmaterial gegen einige Persönlichkeiten sprach, das Chan Toon ihr mitgegeben hatte, versprach der inzwischen berühmte Schriftsteller, ein Stück für sie zu schreiben und nach der Aufführung auf der Bühne die Namen der Schuldigen zu verlesen. Zwar habe ihr Oscar Wilde kurz darauf das Maskenspiel „Für die Liebe des Königs“ geschickt, aber zu der geplanten Aufführung sei es nie gekommen. Das 1894 erhaltene Manuskript habe sie vor einigen Monaten aus finanzieller Not verkauft, erklärt Mabel, bevor sie sich eine Opiumpfeife anzündet.

Weil sie befürchtete, wegen der brisanten Dokumente verfolgt zu werden, wanderte sie nach USA aus. In New York verliebte sie sich in den britischen Journalisten Armine Wodehouse-Pearse. Mit ihm zusammen hielt sie sich von 1908 bis 1911 in Mexiko auf. Dann kehrten sie nach London zurück und heirateten. Armine Wodehouse-Pearse beabsichtigte, das Belastungsmaterial aus Burma journalistisch auszuwerten, aber er wurde entlassen und bedroht. Während Mabel – inzwischen schwanger – erneut bei ihren Eltern Zuflucht suchte, setzte sich Armine Wodehouse-Pearse unter falschem Namen nach Frankreich ab. „Finley!“, ruft Peter Vane und zeigt Mabel die Daguerreotypie. Ja, dieses Bild von Oscar Wilde als Kind habe sie ihrem Mann zum Abschied mitgegeben, sagt sie und bedankt sich ergriffen für die Rückgabe.

Als die Tochter 1917 schwer erkrankte, sorgte Armine für einen „Heimatschuss“ und desertierte aus dem Lazarett in Compiègne, aber das Kind war bereits seit ein paar Stunden tot, als er in London eintraf. Verzweifelt kehrte Armine nach Frankreich zurück und engagierte sich als Sanitäter, bis sein Krankenwagen am 31. Oktober 1918 – dem Tag, an dem Peter Vane verwundet wurde – von einer Granate getroffen und Armine getötet wurde.

Peter Vane glaubt, endlich die Zusammenhänge zu durchschauen, aber Dolly amüsiert sich über die Leichtgläubigkeit des Mathematikers. Ihr Onkel Oscar wurde im Oktober 1854 geboren. Wenn Mabel ihn als Kind gekannt haben will, müsste sie also um die 70 Jahre alt sein. Während der Schwangerschaft wäre sie etwa 60 Jahre alt gewesen.

Als Dolly den Nachlass ihrer Mutter geregelt hat, reist sie wieder nach Paris. Peter vermisst die unkonventionelle, intelligente Frau.

Bunbury oder Ernst muss man sein

Von Hester Dowden erhält er unerwartet ein Kuvert mit einer Eintrittskarte für die Premiere einer Neuinszenierung der Komödie „The Importance of Being Earnest“ / „Bunbury oder Ernst muss man sein“ von Oscar Wilde am 21. November 1923 im Theatre Royal Haymarket.

In der Pause stellt Dolly, die wegen der Aufführung aus Paris gekommen ist, dem Regisseur Allan Aynesworth den befreundeten Mathematik-Doktoranden vor. Aynesworth war mit Oscar Wilde befreundet und spielte 1895 bei der Uraufführung von „Bunbury oder Ernst muss man sein“ mit. Als er den Namen Vane hört, erinnert sich sofort an Sybil Vane. Sie war eng mit Oscar Wildes Schwägerin Lily Wilde befreundet, und die beiden kleinen Kinder Dolly und Peter verbrachten viel Zeit miteinander. Beide nahmen an einer Aufführung der Komödie „Ein Sommernachtstraum“ teil, Dolly als Elfe, Peter als Faun. Als Sybil Vane sich in der Rolle der Feenkönigin Titania im Märchenwald niederlegte, bekam ihr kleiner Sohn Angst und schrie „Lily!“.

Eigentlich wollte Peter Vane nach der Pause die Plätze tauschen, denn die neben ihm sitzende Hester Dowden störte ihn bisher mit ihren ständig gemurmelten Kommentaren zur Inszenierung. Aber durch das Gespräch mit Allan Aynesworth vergaß er seine Absicht und sitzt nun wieder neben der krank aussehenden Spiritistin.

Am Ende der Vorstellung bricht sie zusammen.

Nachdem sich Hester Dowden erholt hat, behauptet sie in einem Zeitungsartikel, sie habe Oscar Wildes Geist erlaubt, von ihr vorübergehend Besitz zu ergreifen, damit er die Neuinszenierung seiner Komödie durch ihre Augen miterleben konnte.

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Alexander Pechmann griff für seinen Roman „Die Nebelkrähe“ auf Schriften der Irin Hester Dowden (1868 – 1949) über ihre Erfahrungen als Medium zurück, die sie zum Teil unter dem Nachnamen ihres Mannes Dr. Richard Travers Smith veröffentlicht hatte. Sie behauptete beispielsweise, 1923 sei Oscar Wildes Geist mit ihr in Kontakt getreten („Oscar Wilde aus dem Purgatorium. Außersinnliche Botschaften“, Übersetzung: Gerhard Reichmann). In den publizierten Protokollen erwähnt Hester Dowden auch einen englischen Kriegsveteran „V.“. Daraus macht Alexander Pechmann in „Die Nebelkrähe“ den Protagonisten Peter Vane.

Das Buch hat er der Erinnerung an Dorothy Wilde (1895 – 1941) gewidmet, die er als eine der Hauptfiguren in seinem Roman auftreten lässt. Die Nichte des irischen Schriftstellers gehörte im Ersten Weltkrieg einer von Toupie Lowther und anderen Damen finanzierten rein weiblichen Einheit von Krankenwagen-Fahrerinnen in Frankreich an, die Alexander Pechmann in „Die Nebenkrähe“ als Brakespeare Ambulance Unit bezeichnet. Wie er im Anhang ausführt, erhielt sie diesen Namen erst durch den 1928 von Radclyffe Hall veröffentlichten Roman „The Well of Loneliness“. (Eigentlich hieß sie  Hackett-Lowther Ambulance Unit.) Dorothy Wilde starb am 10. April 1941 im Alter von 45 Jahren, Gerüchten zufolge an einer Überdosis Drogen.

Auch bei anderen Romanfiguren in „Die Nebelkrähe“ orientiert sich Alexander Pechmann an realen Personen, so zum Beispiel bei William Charles Kingsbury („Willie“) Wilde und seiner Frau Sophie Lily Lees, Geraldine Dorothy Cummins, Christopher Millard, Allan Aynesworth, Toupie Lowther, Mabel Cosgrove Wodehouse Pearse und Billy Chang, der als Vorbild für die von Sax Rohmer erfundene Kultfigur Dr. Fu Manchu gilt.

Die Charaktere der Figuren in „Die Nebelkrähe“ werden allerdings kaum ausgeleuchtet. Alexander Pechmann geht es offenbar mehr um den Plot, den er nach dem Muster einer Detektivgeschichte entwickelt: Mit Unterstützung einer scharfsinnigen Frau versucht ein Mann – in diesem Fall kein klassischer Ermittler, sondern ein Doktorand der Mathematik – mysteriöse Zusammenhänge zu durchschauen. Dabei befragen die beiden mögliche Zeugen und gewinnen schrittweise Erkenntnisse. Leserinnen und Leser, die am Ende des Buches eine klare, umfassende Auflösung ohne übersinnliche Phänomene erwartet, werden jedoch enttäuscht.

Der Titel bezieht sich übrigens auf Oscar Wilde, den Schulfreunde angeblich mit dem Spitznamen Nebelkrähe (Fog Crow) riefen.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Steidl Verlag

Oscar Wilde (kurze Biografie)

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