Jean-Paul Sartre : Die Mauer
Inhaltsangabe
Die Mauer
Das Zimmer
Herostrat
Intimität
Die Kindheit eines Chefs
Kritik
Die Mauer
Während des Spanischen Bürgerkriegs werden Pablo Ibbieta, Tom Steinbock und Juan Mirbal, von Soldaten des Generals Franco im Keller eines Krankenhauses eingesperrt. Die Faschisten halten die drei jungen Republikaner nämlich für Kämpfer der Internationalen Brigaden. Nach einer routinemäßigen Vernehmung kündigt ihnen ein Offizier für den nächsten Morgen die Hinrichtung durch ein Erschießungskommando an. Juan, der noch gar nicht erwachsen ist, kann es nicht fassen: Er beteuert, man verwechsle ihn mit seinem Bruder José.
Wie angekündigt, werden Tom Steinbock und Juan Mirbal im Morgengrauen abgeholt. Pablo Ibbieta bleibt zurück und hört die Gewehrsalven. Eine Stunde lässt man ihn warten, dann wird er erneut verhört. Ein Offizier will von ihm wissen, wo sein Mitkämpfer Ramon Gris zu finden sei. Man werde ihn am Leben lassen, sagt der Uniformierte, falls durch seine Angaben der andere an die Mauer gestellt werden könne.
Pablo weiß, dass sich Ramon bei einem Vetter ein paar Kilometer außerhalb der Stadt versteckte, aber er hat nicht vor, seinen Kameraden zu verraten. Dabei empfindet er nichts mehr für ihn, übrigens auch nicht mehr für seine Geliebte Concha. In dieser Nacht hat er mit seinem Leben abgeschlossen, sich von allem distanziert und sich auf den Tod gefasst gemacht. Weil er sich jedoch noch einen Spaß mit den Faschisten machen möchte, behauptet er, Ramon Gris verstecke sich auf dem Kirchhof. Schadenfroh beobachtet er, wie sich eine Gruppe von Soldaten auf den Weg macht.
Eine Weile später bringt man ihn zu den anderen Gefangenen in den Haupthof. Ein ordentliches Gericht werde über ihn urteilen, heißt es. Pablo Ibbieta versteht nicht, warum die Hinrichtung abgesagt wurde.
Unter den am Abend neu hereingebrachten Gefangenen erkennt er den Bäcker Garcia. Der flüstert ihm zu, dass Ramon Gris erwischt worden sei. Nach einem Streit mit seinem Vetter sei er in die Stadt zurückgeschlichen und habe sich im Totengräberschuppen auf dem Kirchhof versteckt. Dort hätten ihn die Faschisten am Morgen aufgegriffen.
Alles begann sich um mich zu drehen, und ich fand mich auf der Erde sitzend wieder. Ich lachte, dass mir die Tränen in die Augen kamen.
Herostrat
Bei dem 33-jährigen Büroangestellten Paul Hilbert in Paris handelt es sich um einen Einzelgänger und Menschenhasser. Wenn er schon andere sehen muss, dann am liebsten von oben, von seinem Balkon in der sechsten Etage.
Die Menschen muss man von oben sehen.[…] Ich beugte mich zum Fenster heraus und musste lachen: wo blieb denn ihr berühmter „aufrechter Gang“, auf den sie so stolz waren? Sie waren auf den Fußsteig gequetscht, und zwei lange, halb kriechende Beine kamen unter ihren Schultern hervor.
Ihm ekelt so vor anderen, dass er auch beim Händeschütteln nicht die Handschuhe auszieht. Mit seiner Misanthropie schließt er sich selbst aus der Gesellschaft aus.
Es bleibt mir unbenommen, Hummer à l’américaine zu lieben oder nicht, aber wenn ich die Menschen nicht liebe, bin ich ein Verworfener und habe keinen Anspruch auf meinen Platz an der Sonne; sie haben den Sinn des Lebens für sich gepachtet. […] „Eintritt nur für Menschenfreunde.“
Paul Hilbert besorgt sich einen Revolver und übt damit das Schießen. Die Waffe hat er nun ständig bei sich.
Man fühlt sich stark, wenn man ununterbrochen etwas bei sich trägt, was explodieren und knallen kann. […] Ich ging ein wenig steif, in der Haltung eines Kerls, dem das Glied steht und dem es bei jedem Schritt hinderlich ist.
Er sucht vergeblich nach dem Straßenmädchen Léa. Sie kennt seine Wünsche, und er nimmt ungern eine andere Prostituierte, weil man stets Gefahr läuft, überfallen und ausgeraubt zu werden. In Ermangelung Léas spricht er eine dicke Alte an, die auf der Treppe im Hotel zum Zimmer in der vierten Etage vor Anstrengung keucht. Renée nennt sie sich. Dass er sich nicht auszieht, irritiert sie. Was er von ihr wolle, fragt sie. Er herrscht sie an: Sie solle sich ausziehen und nackt vor ihm auf und ab gehen. Nachdem er in die Hose ejakuliert hat, gibt er ihr 50 Francs, lässt sie nackt – mit dem Geldschein in der einen und dem Büstenhalter in der anderen Hand – stehen und geht.
Es tat mir nicht leid um mein Geld: ich hatte sie außer Fassung gebracht, und eine Hure kann man nicht so leicht in Erstaunen setzen. Beim Hinuntergehen kam mir der Gedanke: „Das möchte ich – sie alle in Erstaunen setzen.“
Im Büro schwärmen die Kollegen von Charles Lindberghs Atlantik-Überquerung. Er bevorzugte schwarze Helden, sagt er. „Neger?“, fragt einer, aber einer der gebildeten Angestellten versteht, was Paul Hilbert meint und nennt Herostrat als Beispiel. Um berühmt zu werden, zündete der Grieche im 4. Jahrhundert vor Christus den Tempel der Artemis in Ephesos an, eines der sieben Weltwunder der Antike. Niemand kennt mehr den Namen des Architekten des Bauwerks, aber jeder weiß, wer es zerstörte.
Ich begann zu glauben, dass mein Geschick kurz und tragisch sein würde.
Nachdem Paul Hilbert eine Woche lang unentschuldigt im Büro fehlte, wird er entlassen.
Er kündigt einen Massenmord in einem Brief an, den er 102-mal kopiert, um ihn kurz vor der geplanten Tat an erfolgreiche Schriftsteller zu schicken. Mit den sechs Patronen im Magazin will er fünf Straßenpassanten und am Ende sich selbst töten.
Sein Vorhaben verschiebt er, bis ihm das Geld ausgeht – und dann noch einmal drei Tage lang, die er hungernd in seinem Apartment verbringt. Dann geht er los und stopft zunächst die 102 frankierten Kuverts mit seinem Schreiben in einen Briefkasten. Einzelne Passanten interessieren ihn nicht, aber als eine größere Gruppe vorbeikommt, unternimmt er auch nichts. Schließlich folgt er einem einzelnen Mann, und als der sich irritiert umdreht, jagt er ihm drei Kugeln in den Bauch. Eigentlich wollte er die Haustüre für die Flucht offen lassen, aber das vergaß er. Außerdem rennt er in die falsche Richtung. Um die Verfolger abzuhalten, gibt er weitere zwei Schüsse ab. Am Ende versteckt er sich in einer Toilettenkabine eines Cafés. Es dauert nicht lang, bis er die Verfolger vor der Tür hört. Die letzte Patrone im Magazin ist für seinen Suizid gedacht. Aber er lässt den Revolver fallen und öffnet die Tür.
Intimität
Lucienne („Lulu“) Crispin lebt mit ihrem Ehemann Henri in Paris. Dass sie nackt schläft, findet er unappetitlich. Henri hält sie und ihre Mutter für unfein. Das ärgert Lulu. Dass er impotent ist, stört sie nicht, im Gegenteil: deshalb heiratete sie ihn.
Henri habe ich geheiratet, weil er weich war, weil er mich an einen Pfaffen erinnerte.
Genau genommen kann man das ja gar nicht in die Hand nehmen; wenn es sich bloß ruhig verhalten könnte, aber es fängt sofort an, sich zu rühren wie ein Tier, es wird hart, es jagt mir Angst ein, und wenn es hart ist und gerade nach oben steht, ist es brutal; schmutzige Sache, die Liebe. Ich liebte Henri, weil sein kleines Ding nie hart wurde, nie das Köpfchen hob, ich lachte, manchmal küsste ich es, ich hatte davor nicht mehr Angst als vor dem eines Kindes, am Abend nahm ich sein weiches kleines Ding in die Hand, er errötete und wandte den Kopf seufzend zur Seite, aber es bewegte sich nicht, es blieb schön artig in meiner Hand, ich drückte es nicht, so verblieben wir lange, und er schlief ein. Dann streckte ich mich lang aus auf dem Rücken, dachte an Pfaffen und saubere Dinge, an Frauen, dann liebkoste ich meinen Bauch, meinen schönen flachen Bauch, immer tiefer glitt meine Hand hinab, und nun war es die Wollust, die Wollust, die mir kein anderer geben kann, nur ich selbst.
Ihre Freundin Rirette wundert sich darüber, dass sie behauptet, ihren Körper nicht zu mögen, sich jedoch figurbetont kleidet. Ihrem jüngeren Bruder Robert zeigt sie sich gern nackt. Und obwohl sie den feuchten Fleck auf dem Betttuch nach dem Sex ekelhaft findet, hat sie einen Liebhaber. Pierre ist verheiratet, reich und erfolgsgewohnt. Vor Pierre hatte Lulu eine Affäre mit einem Mann namens Rabut, dessen Gesicht voller Pickel war, die sie ihm gern ausdrückte.
Rirette rät ihr immer wieder, sich von Henri zu trennen. Als Lulu es dann tut, ist sie überrascht. Henri sei mit ihrem Bruder Robert in Streit geraten und habe ihn geohrfeigt, berichtet sie. Deshalb verließ sie ihn.
Lulu möchte einen Büstenhalter kaufen, und Rirette kann sie nicht davon abhalten, ein Geschäft in einem Stadtviertel aufzusuchen, in dem sie Henri begegnen könnten. Wie von Rirette befürchtet, läuft Henri ihnen über den Weg und fordert Lulu auf, zu ihm zurückzukehren. Er zieht sie am Arm, und Rirette zerrt am anderen, bis es ihr gelingt, mit ihrer Freundin in ein Taxi zu steigen und Henri zurückzustoßen.
Pierre bringt Lulu in einem Hotel unter, schläft mit ihr und fährt dann nach Hause. Am nächsten Morgen, so der Plan, soll Lulu mit dem älteren Ehepaar Texier nach Nizza reisen. Mitten in der Nacht klingelt sie bei Henri. Unter dem Mantel trägt sie nur Unterwäsche. Sie wolle sich vor ihrer Reise von ihm verabschieden, sagt sie und geht mit ihm ins Bett.
Am Morgen schickt sie Pierre einen Brief, in dem sie ihm mitteilt, dass sie nicht verreisen und bei Henri bleiben werde.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Die Mauer (Kommentar)
Von Anhängern Francos zum Tod verurteilt, schließt der Republikaner Pablo Ibbieta in der Nacht vor der Hinrichtung mit seinem Leben ab. Alles rückt in weite Ferne. Das gilt auch für seine Geliebte und seinen Mitkämpfer Ramon Gris. Bevor der stirbt, will er den Faschisten noch ein Schnippchen schlagen, aber durch einen Zufall bewirkt er damit ungewollt, dass Ramon Gris statt ihm füsiliert wird. Durch eine unvorhersehbare Ironie des Schicksals lädt er die Schuld am Tod des anderen auf sich.
Jean-Paul Sartre überlässt das Wort dem Protagonisten Pablo Ibbieta. Der Ich-Erzähler weiß also nicht mehr als die Figur, die Perspektive ist subjektiv, und die Sprache ist entsprechend einfach.
Den Titel „Le mur“ / „Die Wand“ assoziiert man nicht nur mit der Wand, vor der die zum Tod Verurteilten erschossen werden, sondern auch die Grenze zwischen Leben und Tod, Gegenwart und unbekannte Zukunft.
Herostrat (Kommentar)
Paul Hilbert erträgt andere Menschen nur, wenn er sie von seinem Balkon im 6. Stockwerk sieht, und es ekelt ihn davor, sie zu berühren. Als er von Herostrat hört, nimmt er sich vor, sich wie dieser durch eine Gewalttat von der Masse abzuheben und sich einen Namen zu machen: Der Egozentriker will fünf Straßenpassanten und sich selbst erschießen. Den Revolver, den er sich besorgt, vergleicht er mit einem erigierten Penis.
Auch diesen tragikomischen Antihelden setzt Jean-Paul Sartre als Ich-Erzähler ein.
Intimität (Kommentar)
Lulu, eine Frau voller Widersprüche, lehnt sich gegen die Erwartungen der Gesellschaft auf. Weil sie die Penetration als männliche Dominanz empfindet, hat sie einen impotenten Mann geheiratet, und sie kommt auch nur durch Selbstbefriedigung zum Orgasmus. Dennoch hat sie einen Geliebten, aber sie ekelt sich vor seinem Sperma. Obwohl sie behauptet, ihren eigenen Körper nicht zu mögen, kleidet sie sich figurbetont. Ihr Mann Henri kritisiert sie als unfein, ihre Freundin Rirette drängt sie, Henri zu verlassen, und ihr Geliebter Pierre stellt Besitzansprüche. Lulu wehrt sich gegen die Fremdbestimmung, bringt jedoch am Ende nicht die Kraft auf, sich zu befreien.
Für die komödienhafte Erzählung „Intimität“ wählte Jean-Paul Sartre die dritte Person Singular, durchbricht diese Form jedoch durch innere Monologe der beiden Frauen.
„Die Mauer“, „Das Zimmer“, „Herostrat“, „Intimität“, „Die Kindheit eines Chefs“
Unter dem Titel „Le Mur“ veröffentlichte der Verlag Gallimard im Februar 1939 fünf Erzählungen von Jean-Paul Sartre: „Le Mur“, „La Chambre“, „Érostrate“, „Intimité“, „L’enfance d’un chef“. Die deutschsprachige Ausgabe erschien 1950 im Rowohlt Verlag. Die Übersetzung „Die Mauer“ stammt von Hans Reisiger; „Das Zimmer“, „Herostrat“, „Intimität“ und „Die Kindheit eines Chefs“ wurden von Heinrich Wallfisch ins Deutsche übertragen. Das Buch ist Olga Kosakiewicz (1915 – 1983) gewidmet, die im Alter von 19 Jahren in die „Familie“ von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre aufgenommen worden war.
Jean-Paul Sartre schrieb „Das Zimmer“, „Herostrat“ und „Intimität“ 1936. Diese drei Erzählungen drehen sich um psychische Störungen, Sexualität und das Streben nach freier Selbstbestimmung. Die beiden anderen Erzählungen entstanden 1938. Es ist bemerkenswert, dass Jean-Paul Sartre damit den Band beginnt und beendet, denn er thematisiert in „Die Mauer“ und „Die Kindheit eines Chefs“ den Faschismus.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2018
Textauszüge: © Rowohlt Verlag
Jean-Paul Sartre (kurze Biografie)
Jean-Paul Sartre: Die Fliegen