Ferdinand von Schirach : Sie sagt. Er sagt. Ein Theaterstück

Sie sagt. Er sagt. Ein Theaterstück
Sie sagt. Er sagt. Ein Theaterstück btb Verlag, München 2024 ISBN 978-3-442-77466-1, 144 Seiten ISBN 978-3-641-31981-6 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die erfolgreiche TV-Moderatorin Katharina Schlüter beschuldigt den CEO Dr. Christian Thiede, sie bei einem einvernehmlich begonnenen Koitus vergewaltigt zu haben. Die Verteidigerin des Angeklagten stellt die Beschuldigung als Falschaussage dar, als Racheakt der Frau, weil der ebenfalls verheiratete Mann die heimliche Affäre gegen ihren Willen beendete.
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Kritik

Der Titel des Lehrstücks bzw. Gerichtsdramas "Sie sagt. Er sagt." verweist bereits auf das juristische Dilemma, wenn im Prozess Aussage gegen Aussage steht. Erläuterungen zu anderen Gesichtspunkten legt Ferdinand von Schirach einer Rechtsmedizinerin und einer psychologischen Sachverständigen in den Mund. Das Ende bleibt nach einer überraschenden Wendung offen.
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Die Anklage

Dr. Christian Thiede, der CEO eines bedeutenden Unternehmens, steht als Angeklagter vor dem Landgericht in Berlin. Die erfolgreiche Fernsehmoderatorin Katharina Maria Schlüter behauptet, er habe sie am 14. August des Vorjahres vergewaltigt.

Die 48-Jährige schildert im Zeugenstand, was geschah bzw. ihre Version davon.

Christian Thiede und sie lernten sich vor fünf Jahren kennen und fingen vier Wochen danach eine Affäre miteinander an. Am 22. April des letzten Jahres schliefen sie noch einmal miteinander im Hotel Lexington. Noch am selben Tag beendeten sie ihre heimliche Affäre einvernehmlich in einem langen Telefongespräch, weil sie beide verheiratet waren und das Doppelleben nicht länger ertrugen. Als sie sich am 14. August zufällig auf dem Kurfürstendamm begegneten, ging Katharina Schlüter mit in seine Wohnung, und der Geschlechtsverkehr im Schlafzimmer begann auch mit ihrem Einverständnis. Doch plötzlich, so Katharina Schlüter weiter, habe sie sich besonnen.

Während er in mir war. Da ist mir klar geworden, dass das falsch ist. Dass es falsch ist, was ich da tue. Ich habe alles vollkommen klar vor mir gesehen. Die Monate nach der Trennung, den Schmerz, die Nächte damals. Ich wollte das nicht noch einmal. Nicht mehr zurück in dieses Tal. […] Ich hörte auf, mich zu bewegen. Ich wurde ganz steif. Ich sagte: ‚Ich kann das nicht mehr, hör auf, bitte entschuldige.‘

Obwohl sie ihn mehrmals auffordert habe, von ihr abzulassen, auf ihn eingeschlagen und sich gewehrt habe, sei er nicht zu stoppen gewesen.

Am Abend rief ihre Freundin Valery Maiburg an, und als sie hörte, was geschehen war, kam sie sofort zu ihr und drängte sie, den Vergewaltiger anzuzeigen. Sie zögerte allerdings, weil sie sich ausmalen konnte, was dann im Privaten und in der Öffentlichkeit geschehen würde. Am 17. August ging sie dann doch zur Polizei, denn ohne diesen Schritt konnte sie das Trauma nicht bewältigen.

Ich bin eigentlich ein überlegter Mensch. Aber das hier. Verstehen Sie, meine Welt, mein Verständnis davon, wer ich bin, alles stimmte plötzlich nicht mehr. Mein Körper wurde als … ich weiß nicht … wie ein Gegenstand gebraucht. Anders kann ich es nicht sagen. […] Er hat nur meinen Körper gebraucht. Es ging nicht um mich als Mensch.

Seither kann sie ihren Beruf nicht ausüben und befindet sich in einer Psychotherapie. Ihr Mann reichte nach 17 Ehejahren die Scheidung ein. Katharina Schlüter hat die Familienwohnung in München verlassen und sich in das vor längerer Zeit aus beruflichen Gründen in Berlin gemietete Apartment zurückgezogen. Ihre 14- bzw. 16-jährigen Töchter sind beim Vater in München geblieben.

Aussagen

Das Gericht ruft Maria Laux-Frohnau in den Zeugenstand, die Medizinerin am Institut für Rechtsmedizin der Charité, die am 17. August des Vorjahrs Katharina Schlüter wegen der Anzeige gynäkologisch untersuchte. Frauke Reuther, die Leiterin der Dienststelle für Sexualdelikte beim Landeskriminalamt, wird ebenso gehört wie die 48-jährige mit Katharina Schlüter seit der Schule befreundete Galeristin Valerie Maiburg.

Pia Altstedt, eine Professorin am Institut für forensische Psychiatrie an der FU Berlin, erläutert als Sachverständige den „Mythos der Vergewaltigung“. Dabei wird eine Frau in einer dunklen Gasse von einem Fremden gepackt und trotz heftiger Gegenwehr penetriert. Danach geht das Opfer unverzüglich zur Polizei. Je stärker ein konkreter Fall von diesem Mythos abweicht, desto weniger wird der Frau geglaubt. Oft kommt es dann noch zur sekundären Viktimisierung aufgrund der Vorstellung, dass Frauen, die durch ihre Kleidung oder ihr Verhalten auffallen, selbst schuld sind, wenn ein triebgesteuerter Mann über sie herfällt.

Christian Thiedes Verteidigerin Breslau hält der Darstellung der Nebenklägerin Katharina Schlüter eine andere Version der Ereignisse entgegen: Die Trennung am 22. April sei nicht einvernehmlich gewesen, sagt sie, sondern Christian Thiede habe seiner Geliebten am Telefon erklärt, dass er Schluss machen wolle. Nach dieser Demütigung, so die Rechtsanwältin weiter, habe Katharina Schlüter sich rächen wollen und dafür durch eine zufällige Begegnung am 14. August eine Gelegenheit bekommen. In der Wohnung des Angeklagten hätten die beiden nur geredet, seien aber nicht miteinander ins Bett gegangen. Die Vergewaltigung habe Katharina Schlüter erfunden, denn sie wolle den Mann, der die Affäre mit ihr beendete, ebenso leiden sehen wie sie selbst an den Folgen der Trennung leidet. Die Anwältin weist darauf hin, was die in ihren Augen falsche Beschuldigung für ihren Mandaten bedeutet: Seine Ehefrau hat die Scheidung eingereicht und das alleinige Sorgerecht für die Kinder beantragt. Christian Thiedes berufliche Karriere steht ebenfalls vor dem Aus; als CEO wurde er bereits freigestellt.

Schlussplädoyers

Die Oberstaatsanwältin Heise fordert in ihrem Schlussplädoyer eine Freiheitsstrafe von drei Jahren für den Angeklagten.

Rechtsanwalt Biegler, der Vertreter der Nebenklägerin Katharina Schlüter, spricht den Rechtsgrundsatz „In dubio pro reo“ an und weist darauf hin, dass in solchen Prozessen fast immer Aussage gegen Aussage stehe – „sie sagt, er sagt“ –, in diesem Fall jedoch der Angeklagte noch kein Wort gesagt habe, weder im Ermittlungsverfahren noch vor Gericht.

Herr Thiede schweigt, und die Aussage von Frau Schlüter ist vollkommen glaubhaft. So einfach ist es in Wirklichkeit.

Die Verteidigerin sieht das völlig anders und gibt sich nach wie vor überzeugt davon, dass Katharina Schlüter die Vergewaltigung erfunden habe, um sich an Christian Thiede zu rächen. Wenn sie nicht schon nach dem Telefongespräch am 22. April beschlossen habe, ihm die Demütigung heimzuzahlen, dann könne es auch so gewesen sein, dass sie beim zufälligen Wiedersehen am 14. August neue Hoffnung geschöpft habe und deshalb mit in Christian Thiedes Wohnung gegangen sei. Frustriert darüber, dass sie ihn nicht zur Fortsetzung der Affäre bewegen konnte, täuschte sie eine Vergewaltigung vor.

Schlusswort des Angeklagten

Gegen den Rat seiner Rechtsanwältin Breslau macht der Mandant von seinem Recht auf ein letztes Wort Gebrauch.

Er widerspricht Katharina Schlüter in zwei Punkten: Das Telefongespräch am 22. April des letzten Jahres sei nicht einvernehmlich verlaufen, sondern er habe gegen ihren Willen auf der Beendigung der Affäre bestanden.

Während Christian Thiede weiterredet, legt ein Wachtmeister der Oberstaatsanwältin eine Akte vor, und nachdem sie kurz hineingeschaut hat, bringt sie die Mappe der Vorsitzenden.

Was am 14. August in seiner Wohnung geschah, schildert Christian Thiede so:

Wir saßen vor den beiden Gestern und unterhielten uns lange Über unsere berufliche Situation. Ich erzählte, dass ich nach Washington fliegen müsse, sie erzählte von den Gästen ihrer nächsten Talkshow. Wir sprachen über Politik, Belangloses. Dann küssten wir uns. Aber wir gingen nicht ins Schlafzimmer. Wir blieben auf dem Sofa. Sie sagte, sie habe ihre Tage. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich dazu etwas gesagt habe, ich g aube das aber nicht. Sie kniete sich auf den Boden vor dem Sofa und befriedigte mich mit dem Mund und der Hand, bis ich kam.
Zu keinem Zeitpunkt waren wir im Bett. Zu keinem Zeitpunkt schliefen wir miteinander. […] Sie befriedigte mich, und damit hätte sie ja jederzeit aufhören können.

Neue Wendung

Nachdem die Vorsitzende dem Angeklagten für sein Schlusswort gedankt hat, erklärt sie, dass die Oberstaatsanwältin soeben eine neue Akte erhalten und dem Gericht vorgelegt habe. Franziska Thiede, die Noch-Ehefrau des Angeklagten, war am Vortag mit einem Rechtsanwalt bei der Polizei in München, um dort eine Aussage zu machen. Sie gab zu Protokoll, dass ihr Mann ihr gegenüber die angezeigte Vergewaltigung gestanden habe.

Wir werden Frau Thiede also in unserem Verfahren laden und hören müssen. Deshalb sehen wir uns gezwungen, wieder in die Beweisaufnahme einzutreten. […] Ich unterbreche die Verhandlung. Ein neuer Hauptverhandlungstermin wird Ihnen schriftlich mitgeteilt.

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Nach dem Muster seiner Lehrstücke „Terror“ und „Gott“ schrieb Ferdinand von Schirach nun ein Theaterstück zum Thema Vergewaltigung (oder auch Verleumdung). Aber in „Sie sagt. Er sagt.“ geht es nicht wie in „Terror“ und „Gott“ um die Aufforderung an das Publikum, zu komplexen moralischen Fragen Stellung zu nehmen, sondern um ein juristisches Dilemma.

Der Titel „Sie sagt. Er sagt.“ verweist bereits auf eine zentrale Problematik: Wenn ein Gericht bei lückenhafter Beweislage entscheiden muss, ob ein Angeklagter wegen eines sexuellen Übergriffs oder einer Vergewaltigung verurteilt werden soll oder nicht, steht Aussage gegen Aussage. Dann ist es entscheidend, wie glaubwürdig die Frau wirkt, die den Mann angezeigt hat.

Ferdinand von Schirach veranschaulicht das in seinem kammerspielartigen Justiz- bzw. Gerichtsdrama „Sie sagt. Er sagt.“ Nebenbei hören wir von Statistiken zum Thema und bekommen vorgeführt, welche zerstörerischen Auswirkungen eine Anzeige wegen Vergewaltigung im Privatleben und in der Öffentlichkeit haben kann.

Die sich widersprechenden Standpunkte werden in „Sie sagt. Er sagt.“ selbstverständlich von der Nebenklägerin und ihrem Anwalt auf der einen Seite und dem Angeklagten und seiner Verteidigerin auf der anderen vertreten. (Die Staatsanwaltschaft spielt in dem Stück kaum eine Rolle.) Erläuterungen zu anderen Gesichtspunkten legt Ferdinand von Schirach einer Rechtsmedizinerin und einer psychologischen Sachverständigen in den Mund.

Während „Gott. Ein Theaterstück“ fast ausschließlich über die vielschichtige Auseinandersetzung mit dem Thema wirkt, setzt Ferdinand von Schirach in „Sie sagt. Er sagt.“ auch auf überraschende Wendungen, also auf Dramatik. Das Ende bleibt offen.

Im Sommer 2023 verfilmte Matti Geschonneck das Theaterstück „Sie sagt. Er sagt.“ nach einem Drehbuch von Ferdinand von Schirach. Der Fernsehfilm wurde am 26. Februar 2024 erstmals im ZDF ausgestrahlt.

Originaltitel: Sie sagt. Er sagt. – Regie: Matti Geschonneck – Drehbuch: Ferdinand von Schirach nach seinem Theaterstück Sie sagt. Er sagt. – Kamera: Theo Bierkens – Schnitt: Dirk Grau – Darsteller: Ina Weisse, Godehard Giese, Johanna Gastdorf, Henriette Confurius, Matthias Brandt, Florian Bartholomäi, Maria Köstlinger, Proschat Madani, Bettina Lamprecht, Nicole Marischka, Alexander Hörbe, Neva Weinreich, Nicos Bliefert, Stephanie Schütz u.a. – 2024; 105 Minuten

„Sie sagt. Er sagt.“ erschien am 28. Februar 2024 in Buchform. Es gibt „Sie sagt. Er sagt.“ auch als Hörbuch, gelesen von den Darstellerinnen und Darstellern der Verfilmung. Die Uraufführung des Theaterstücks von Ferdinand von Schirach ist für 7. September 2024 am Theater in der Josefstadt in Wien geplant.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Ferdinand von Schirach

Ferdinand von Schirach: Verbrechen
Ferdinand von Schirach: Schuld
Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini
Ferdinand von Schirach: Der Bäcker
Ferdinand von Schirach: Tabu
Ferdinand von Schirach: Terror (Verfilmung)
Ferdinand von Schirach: Strafe
Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten
Ferdinand von Schirach: Gott. Ein Theaterstück

Dirk R. Meynecke - Die Autoren-Fibel
Der erfahrene Lektor und Literaturagent Dirk R. Meynecke schildert in seiner "Autoren-Fibel" nicht, wie man einen Roman oder ein Sachbuch schreibt, sondern was es zu beachten gilt, wenn das Manuskript von einem Verlag angenommen und veröffentlicht werden soll.
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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.