Ferdinand von Schirach : Schuld
Inhaltsangabe
Volksfest – DNA – Die Illuminaten – Kinder – Anatomie – Der Andere – Der Koffer – Verlangen – Schnee – Der Schlüssel – Einsam – Justiz – Ausgleich – Familie – Geheimnisse
Kritik
Volksfest
Bei der 600-Jahr-Feier einer Kleinstadt spielt eine Blaskapelle. Die Männer haben sich Perücken aufgesetzt, Bärte angeklebt und sich von ihren Ehefrauen schminken lassen.
Es waren ordentliche Männer mit ordentlichen Berufen: Versicherungsvertreter, Autohausbesitzer, Handwerker. (Seite 7)
In den Pausen trinken sie hinter dem Bühnenvorhang Bier. Eine Siebzehnjährige, die in einem Jahr ihr Abitur machen und dann entweder in Berlin oder in München Medizin studieren will, bringt ihnen die Getränke.
Das Mädchen war siebzehn und musste sich noch zu Hause abmelden, wenn sie bei ihrem Freund übernachten wollte. (Seite 9)
Als sie ausrutscht und hinfällt, ergießt sich Bier über ihr weißes T-Shirt, und weil sie keinen Büstenhalter trägt, zeichnen sich ihre Brüste ab. Die Männer verstummen.
Ein anonymer Anrufer alarmiert die Polizei. Die Beamten finden die Siebzehnjährige nackt und besudelt vor. Ihr Rücken ist von den am Boden liegenden Glasscherben zerschnitten, man hat ihr zwei Rippen, die Nase und den linken Arm gebrochen.
Als die Männer fertig gewesen waren, hatten sie ein Brett angehoben und sie unter die Bühne geworfen. (Seite 11)
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Die Polizei stellt zwar die Kleidung des Mädchens sicher, packt sie in einen Plastiksack und legt diesen in den Streifenwagen, aber als das Auto stundenlang in der Sonne steht, bilden sich Pilze und Bakterien, die die Asservate für eine DNA-Analyse unbrauchbar machen. Und die Ärzte im Krankenhaus wischen nicht nur die Haut der Vergewaltigten ab, sondern beseitigen auch die Spuren in ihren Körperöffnungen.
Aufgrund der Perücken, falschen Bärte und geschminkten Gesichter ist das Opfer nicht in der Lage, die Männer zu benennen, die über sie hergefallen waren. Zumindest einer von ihnen ist unschuldig, denn er rief die Polizei, während die Siebzehnjährige vergewaltigt wurde. Aber er gibt sich nicht zu erkennen.
Dem Untersuchungsrichter bleibt nichts anderes übrig, als alle Beschuldigten freizulassen. Es kommt zu keiner Anklage.
DNA
Nina ist siebzehn. Ebenso wie ihr neuer, sieben Jahre älterer Freund Thomas ist sie obdachlos und treibt sich bettelnd am Bahnhof Zoo in Berlin herum. Meistens sind sie betrunken. Als ein gut gekleideter älterer Herr Nina anspricht und in seine warme Wohnung einlädt, weil Weihnachten sei und er nicht allein sein wolle, besteht sie darauf, dass Thomas mitkommt.
Der freundliche Gastgeber schlägt ihr vor, ein Bad zu nehmen. Die Türe ist zwar nicht abschließbar, aber Nina fühlt sich sicher, weil Thomas nebenan vor dem Fernsehgerät sitzt. Da kommt der Fremde herein und beginnt zu masturbieren. Nina schreit. Thomas stößt die Türe auf, trifft den Mann mit der Klinke in der Nierengegend. Der Fremde kippt in die Wanne. Nina rammt ihm ein Knie gegen die Nase, bevor sie Thomas hilft, den Kopf des anderen so lange ins Wasser zu drücken, bis er sich nicht mehr bewegt.
Der Tote war wegen sexueller Nötigung und Verkehr mit einer Minderjährigen vorbestraft. Aufgrund einer Zeugenaussage werden Nina und Thomas von der Polizei vernommen. Es kann ihnen nichts nachgewiesen werden. Der Fall bleibt ungeklärt.
Mit dem Geld, das Nina und Thomas in der Wohnung des Getöteten gestohlen haben, mieten sie eine Wohnung. Sie hören zu trinken auf. Nina arbeitet als Verkäuferin, Thomas als Lagerverwalter bei einem Grossisten. Sie heiraten und bekommen zwei Kinder.
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Neunzehn Jahre lang geht alles gut. Dann wird es technisch möglich, die im Aschenbecher des Getöteten sichergestellten Zigaretten molekulargenetisch zu untersuchen und den Fall neu aufzurollen. Die Polizei fordert Nina und Thomas wie alle anderen, die damals mit der Tat in Beziehung gebracht wurden, zu einer Speichelprobe auf.
Sie werden verhaftet, aber nach sechs Wochen Untersuchungshaft bis zur Hauptverhandlung freigelassen.
Kurz darauf findet man ihre Leichen am Ufer des Wannsees: Thomas schoss Nina ins Herz und sich danach in die Schläfe.
Die Illuminaten
Die Einschulung ist für Henry ein Schock.
Er saß auf seinem Stuhl, er starrte auf seine Türe und die Tüten der andern, und als ihn die Lehrerin nach seinem Namen fragte, wusste er nicht, was er sagen sollte, und er begann zu weinen […] Der Junge neben ihm stand auf und suchte sich einen neuen Nachbarn. (Seite 29)
Obwohl sein Vater nur einen Mittelschulabschluss hat, brachte er es zum stellvertretenden Direktor der Elektrizitätswerke und sitzt im Stadtrat. Bei Henrys Mutter handelt es sich um die Tochter des größten Bauern in der Gegend.
Sie schicken Henry in ein Internat, als er zwölf ist. Zwei Jahre später bekommt er Akne. Die Mädchen lassen sich am Baggersee zwar Eis und Getränke von ihm bezahlen, küssen aber andere Jungen. Umso verwunderter ist Henry – er ist inzwischen fünfzehn –, als ihn eine hübsche Mitschülerin in die Umkleidekabine mitnimmt, den Bikini ablegt und sich vor ihn auf den Boden kniet. Während sie sich an ihm zu schaffen macht, würde er gern ihre Brüste anfassen, wagt es aber nicht. Am nächsten Morgen klärt ihn die Mitschülerin spöttisch darüber auf, dass sie eine Wette verloren habe, und die Sache mit ihm ihr Einsatz gewesen sei.
Henry ist in der neunten Klasse, als in dem Internat eine neue Kunstlehrerin anfängt, die kurz vor der Pensionierung steht. Sie erkennt seine zeichnerische Begabung und fördert ihn.
Ein Mitschüler ertappt ihn im Umkleideraum, als er Geld aus den Hosen stiehlt. Der Zeuge gehört mit zwei anderen Sechzehnjährigen einem „Geheimbund“ an. Sie nennen sich „Illuminaten“, nach dem am 1. Mai 1776 von Adam Weishaupt, einem Lehrer für Kirchenrecht an der Universität Ingolstadt, gegründeten und 1784 verbotenen Geheimorden. Statt Henry anzuzeigen, nutzen die drei „Illuminaten“ ihr Wissen, um ihn zu erpressen. Wochenlang demütigen sie ihn und lassen sich Süßigkeiten von ihm kaufen. Dann bestellen sie ihn zum „Exorzismus“ ins Alte Schlachthaus.
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Er muss sich nackt ausziehen und sich selbst eine vorbereitete Schlinge um den Hals legen. Sie fesseln ihm die Hände und ziehen das Seil an einem Deckenhaken hoch, bis er kaum noch mit den Zehen den Boden berührt. Einer liest aus aus dem Rituale Romanum von 1614 vor. Dann wird Henry ausgepeitscht. Dabei verliert er vollends den Halt, und die Schlinge zieht sich zu.
Ein Mensch, der langsam erhängt wird, erstickt. In der ersten Phase schneidet das Seil in die Haut, Halsvenen und –arterien werden verschlossen, das Gesicht verfärbt sich blau-violett. Das Gehirn wird nicht mehr mit Sauerstoff versorgt, nach etwa zehn Sekunden schwindet das Bewusstsein, und nur wenn die Luftzufuhr nicht vollständig unterbrochen wird, dauert es länger. In der nächsten Phase, die etwa eine Minute dauert, zieht sich die Atemmuskulatur zusammen, die Zunge tritt aus dem Mund, Zungenbein und Kehlkopf werden verletzt. Dann kommen die Krämpfe, heftig und unkontrollierbar, Beine und Arme zucken acht- bis zehnmal, oft zerreißen die Halsmuskeln. Plötzlich scheint der Erhängte ruhig, er atmet nicht mehr, und nach ein, zwei Minuten beginnt die letzte Phase, der Tod ist jetzt kaum mehr abzuwenden. Der Mund öffnet sich, der Körper schnappt nach Luft, nur einzelne hechelnde Züge, nicht mehr als zehn in der Minute. Aus Mund, Nase und Ohren kann Blut austreten, das Gesicht ist jetzt aufgedunsen, die rechte Herzkammer erweitert. Nach etwa zehn Minuten tritt der Tod ein. Erektionen während des Hängens kommen nicht selten vor: Im fünfzehnten Jahrhundert glaubte man, die Alraune, ein Nachtschattengewächs, entstünde aus dem Sperma der Gehenkten. (Seite 46f)
Henrys Erektion wird von den drei „Illuminaten“ missdeutet. Sie glauben, die Schmerzen würden ihn erregen und schlagen noch fester zu.
Der Kunsterzieherin, die zufällig auf dem Fahrrad vorbeikommt, fällt der Kerzenschein in den Fenstern des Alten Schlachthofs auf. Sie schaut nach, schreit auf, verfehlt die Stufe und stürzt so unglücklich, dass sie sich das Genick bricht. Der Junge, der das Seil hält, lässt los, und Henry stürzt zu Boden. Die Schüler rennen los, um Hilfe zu holen.
Henry kehrt nach seiner Genesung nicht mehr ins Internat zurück. Er beginnt in einer Schraubenfabrik zu arbeiten und zeichnet nie mehr.
Die Täter gestehen alles und werden zu je drei Jahren Haft verurteilt.
Kinder
Miriam ist Lehrerin. Holbrecht arbeitet als Vertreter für Büromöbel. Ein Jahr nach der Hochzeit kaufen sie sich eine Doppelhaushälfte am Rand von Berlin. Holbrecht wünscht sich Kinder, aber seine neun Jahre jüngere Frau möchte damit noch warten.
Er ist achtunddreißig, als er eines Morgens aus dem Bett heraus verhaftet wird und man ihn beschuldigt, eine achtjährige Schülerin in vierundzwanzig Fällen missbraucht zu haben [Kindesmissbrauch]. Miriam kann es nicht fassen. Einer der Polizisten erklärt ihr, dass die meisten Ehefrauen nichts von den Perversionen ihrer Männer ahnen.
Noch in der Untersuchungshaft erhält Holbrecht die Scheidungspapiere von seiner Frau, und er unterschreibt sie.
Ein dreiundsechzigjähriger Richter verurteilt Holbrecht zu dreieinhalb Jahren Haft.
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Einige Jahre nach der Verbüßung seiner Strafe sieht er das Mädchen, das er missbraucht haben soll, auf der Straße. Sie ist jetzt sechzehn oder siebzehn. Er beschattet sie und setzt sich im Kino hinter sie.
Am nächsten Morgen kommt er mit einem Küchenmesser in die Kanzlei des Erzählers und gesteht, dass er das Mädchen im Kino erstechen wollte. Aber er habe es nicht fertiggebracht.
Der Anwalt setzt sich mit der jungen Frau in Verbindung und bringt sie dazu, neu auszusagen. Sie gibt zu, sich alles ausgedacht zu haben. Im Wiederaufnahmeverfahren wird Holbrecht freigespochen.
Anatomie
Als der Einundzwanzigjährige sie in einer Diskothek anspricht, lacht sie ihn aus. Er sei nicht ihr Typ, meint sie.
Um sich für die Demütigung zu rächen, kauft er sich ein Sezierbesteck.
Es durfte nicht schnell gehen. Wenn er zu aufgeregt war, würde es schieflaufen. So wie bei seiner allerersten Katze, er hatte schon nach der Amputation der Ohren nicht an sich halten können und viel zu früh wahllos auf sie eingestochen. (Seite 66)
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Im Auto wartet er, bis sie aus dem Haus kommt.
Das würde der schwierigste Teil werden. Er musste sie zwingen mitzukommen, sie durfte nicht schreien. Er hatte alle Varianten aufgeschrieben. Die Aufzeichnungen, die Bilder der jungen Frau, der getöteten Tiere und Hunderte von Splatterfilmen fand die Polizei später im Keller seiner Eltern. Die Beamten hatten das Haus durchsucht, als sie sein Tagebuch und das Sezierbesteck in seinem Auto fanden. (Seite 67)
Er steigt aus – und wird von einem Auto erfasst. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt er.
Der Autofahrer wird wegen fahrlässiger Tötung zu einem Jahr und sechs Monaten Haft auf Bewährung verurteilt.
Der Andere
Der achtundvierzigjährige Unternehmer Paulsberg besitzt in Deutschland und Österreich siebzehn große Geschäfte für Herrenbekleidung. Seine zwölf Jahre jüngere Ehefrau arbeitet als Anwältin in einer Kanzlei.
Während eines Urlaubs in einem Alpenhotel starrt ein Südländer Mitte zwanzig Paulsbergs Frau in der Sauna an und geht dann mit halb erigiertem Penis hinaus. In dieser Nacht schlafen sie nach langer Zeit wieder einmal miteinander. Am nächsten Tag gehen sie zur gleichen Zeit in die Sauna. Wie erhofft, ist auch der Fremde da. Paulsbergs Frau öffnet ihr Badetuch bereits beim Betreten. Wortlos nimmt sie den Penis des Südländers in die Hand und masturbiert ihn. Dann zeigt sie Paulsberg das Sperma, mit dem der Andere sie bespritzt hat.
Sie probieren verschiedene Saunen und Swingerclubs aus und setzen entsprechende Anzeigen ins Internet.
Einen der Herren, die sich daraufhin melden, kennt Paulsberg noch aus der Schule. Er schaut zu, wie seine Frau und der Andere kopulieren.
Das Ehepaar ist jetzt seit acht Jahren verheiratet.
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Paulsberg hat den Anderen schon vergessen, als er ihn auf einer Konferenz in Köln zufällig wiedertrifft. Er nimmt seinen früheren Mitschüler mit in sein Hotelzimmer und schnupft von dem angebotenen Kokain. Danach folgt er ihm ins Bad und schlägt dort mit einem schweren Aschenbecher auf seinen Kopf ein.
In der fünf Monate später stattfindenden Hauptverhandlung, in der Paulsberg sich wegen versuchten Mordes verantworten muss, schweigt er aus Rücksicht auf seine Frau, die in der angesehenen Kanzlei nicht länger tragbar wäre, wenn die Leute erführen, dass sie es im Beisein ihres Mannes mit fremden Männern trieb. Die Frau sagt im Zeugenstand aus, sie habe mit dem Opfer eine Affäre gehabt, und die Tat sei vermutlich aus Eifersucht geschehen.
Weil Paulsberg aufgehört hatte, mit dem Aschenbecher auf den Anderen einzuschlagen, bevor dieser tot war, wird er nicht wegen versuchten Mordes, sondern gefährlicher Körperverletzung zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Bei Mordversuch hätte der Richter eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängen müssen.
Der Koffer
Bei einer Verkehrskontrolle fällt einer Polizeimeisterin der höfliche Fahrer eines Leihwagens auf. Die Papiere sind in Ordnung, aber sie wundert sich darüber, dass in dem Fahrzeug überhaupt nichts herumliegt. Weil der Mann kein Deutsch kann, ruft sie einen Kollegen, der etwas Polnisch spricht. Sie fordern den Fahrer auf, den Kofferraum zu öffnen. Auch der ist bis auf einen roten Aktenkoffer leer. In dem Koffer befinden sich achtzehn Farbfotokopien von elf Männern und sieben Frauen, die offenbar zum Zeitpunkt der Aufnahmen ermordet wurden.
Jan Bathowiz, so heißt der polnische Fahrer, behauptet, in seiner Heimatstadt Witoslaw habe ihn ein Geschäftsmann gebeten, den angeblich wichtige Baupläne enthaltenden Aktenkoffer mit nach Berlin zu nehmen und damit am Montag um 17 Uhr vor einer bestimmten Telefonzelle zu stehen.
Weil kein Straftatbestand gegen Bathowiz vorliegt, muss ihn die Polizei nach den Vernehmungen laufen lassen.
Zum angegebenen Zeitpunkt stellt sich ein Polizist, dessen Statur der des Polen gleicht, mit dem roten Aktenkoffer an die Telefonzelle. Aber nichts geschieht.
Am nächsten Morgen findet ein Jogger Jan Bathowiz‘ Leiche. Er wurde erschossen. Die deutsche Polizei setzt sich mit der polnischen in Verbindung, aber der Mordfall kann nicht aufgeklärt werden. Und die Umstände, unter denen die Fotos entstanden, bleiben ebenfalls im Dunkeln.
Verlangen
Seit zwei Jahren fühlt die Frau sich leer. Sie funktioniert zwar wie gewohnt als Ehefrau und Mutter, kommt sich aber nur noch wie eine Hülle vor; nichts berührt sie, und die Welt ist ihr fremd.
Sie beginnt mit Ladendiebstählen. Das Diebesgut wirft sie jedesmal in den nächsten Mülleimer. Sie benötigt die gestohlen Sachen nicht; es kommt ihr nur auf den Kick an.
Wie befürchtet, wird sie eines Tages von einem Detektiv auf frischer Tat ertappt und angezeigt. Die Polizei fordert sie zu einer schriftlichen Stellungnahme auf. Weil sie nicht vorbestraft ist und aufgrund des geringen Warenwertes stellt der Staatsanwalt das Verfahren ein.
Die Dinge beruhigten sich, wie sich alles in ihrem Leben beruhigt hatte. (Seite 104)
Schnee
Als er vor zweiundzwanzig Jahren ein Unterhemd unter dem Ehebett fand, das ihm nicht gehörte, trennte er sich von seiner Frau, überließ ihr alles, was er besaß und kündigte seine Arbeitsstelle. Er begann zu trinken, verwahrloste und wurde mehrmals zu Haftstrafen verurteilt.
Seit einiger Zeit bekommt er von dem Libanesen Hassan 1000 Euro pro Monat. Dafür stellt er ihm und seinen Freunden seine Küche für das Strecken und Abpacken von Heroin zur Verfügung.
Ein Spezialeinsatzkommando schlägt seine Türe ein und stürmt die Wohnung. Die Araber sind nicht da.
Er verweigert die Aussage.
Eine junge Polin namens Jana besucht ihn während der Untersuchungshaft. Sie ist im siebten Monat schwanger. Hassan sei der Vater des ungeborenen Kindes, erklärt sie dem Häftling.
Zu Hause versichert sie Hassan, der Mann werde nicht gegen ihn aussagen. Aber er benötige neue Zähne. Hassan gibt ihr das dafür erforderliche Geld.
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Der Beschuldigte schweigt weiter, denn er möchte, dass die Polin nicht allein ist, wenn sie ihr Kind bekommt.
Er wird zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt.
Ein Sozialarbeiter, mit dem Jana gesprochen hat, sorgt dafür, dass er nach der Haftentlassung neue Zähne bekommt.
Hassan, dessen Eltern im Libanon für ihn eine Ehe arrangiert haben, bleibt bei Jana, bis das Kind da ist, dann verlässt er sie, und Jana kehrt nach Polen zurück.
Einige Zeit später erblickt Hassan einen Kerl, den er seit Wochen sucht, weil dieser ihm 20 000 Euro schuldet. Er überfällt ihn und zerschlägt ihm mit einem Hammer elf Zähne.
Der Schlüssel
In einem Café in Amsterdam treffen Frank und Atris sich mit einem etwa fünfzig Jahre alten Russen, dem zwei Finger der rechten Hand fehlen. Er sei Berufssoldat in der Roten Armee gewesen und habe in Tschetschenien gekämpft, erzählt er und schwadroniert von seinen Erlebnissen, bis Frank ungeduldig wird. Er könne alles besorgen, behauptet der Russe, selbst Viren, aber die beiden Deutschen sind nur an Designerdrogen interessiert. Eine Probe davon testeten sie bereits mit drei Mädchen, die sie in einer Diskothek kennengelernt hatten.
Dass an einer Bushaltestelle gegenüber dem Café während der ganzen Zeit eine Frau sitzt, die die Kapuze ihres schwarzen Pullovers über den Kopf gezogen hat, merken Frank und Atris nicht.
Mit vierzehn war Atris in der Schulklasse in Wedding der Schwächste. Frank beschützte ihn und gab ihm Anabolika. Nach sechs Jahren diagnostizierte ein Arzt bei Atris einen Leberschaden; mit zweiundzwanzig waren seine Hoden kaum noch vorhanden, aber niemand wagte es mehr, ihn zu verprügeln.
Einige Zeit nach dem Treffen mit dem Russen fährt Frank nochmals nach Amsterdam, um den Deal perfekt zu machen. Atris bleibt in Berlin und passt auf Franks Dogge Buddy auf. Sie haben drei Wochen Zeit, für die Pillen 250 000 Euro zu bezahlen. Das Geld befindet sich in einem Bahnhofsschließfach.
Unvorsichtigerweise stellt Atris das Hundefutter auf den Tisch. Während Atris eine DVD anschaut, reißt die Dogge das Tischtuch herunter.
Plötzlich glänzte etwas zwischen den Fleischstücken. Atris brauchte eine hundertstel Sekunde, um zu begreifen. (Seite 130)
Atris wirft sich auf Buddy, kommt jedoch zu spät; die Dogge verschlingt den Schließfachschlüssel samt den Fleischstücken und beißt ihm das linke Ohrläppchen ab. Atris fährt mit dem Hund zum Tierarzt, und weil er herumbrüllt, braucht er nicht zu warten, bis er an der Reihe ist. Er legt dem Arzt 1000 Euro auf den Schreibtisch. Dafür soll dieser die Dogge aufschneiden, den Schlüssel herausholen und das Tier wieder zunähen. Der Veterinär erklärt ihm, er könne den Hund dann nicht gleich wieder mitnehmen sondern müsse ihn zwei Tage hierlassen. Das will Atris nicht, weil er hofft, Frank sein Ungeschick verheimlichen zu können. Am Ende einigt er sich mit dem Arzt auf ein Abführmittel. Für 1200 Euro verabreicht der Mediziner der Dogge eine fünffache Dosis. Die wirkt bereits auf dem Rückweg im Maserati. Der Hund macht alles voll, aber der Schlüssel ist nicht dabei.
Seit Frank wieder in die Bundesrepublik einreiste, verfolgt ihn ein deutsches Spezialeinsatzkommando. In der Toilette eines Rastplatzes packen die Polizisten zu. Frank wehrt sich. Dabei geht die Einrichtung zu Bruch, er erleidet Hämatome, eine Gehirnerschütterung sowie Frakturen des Schlüsselbeins und des rechten Oberarms. Im Krankenhaus der Berliner Haftanstalten kommt er wieder zu sich. Weil keine Drogen bei ihm gefunden wurden, lautet der Haftbefehl auf Körperverletzung, denn einer der acht Beamten, die sich auf ihn geworfen hatten, brach sich den kleinen Finger.
Die Frau im schwarzen Pullover war Frank von Amsterdam aus nachgefahren und hatte auch seine Festnahme beobachtet.
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In seiner Verzweiflung wendet Atris sich an seinen Cousin Hassan, der sein Geld mit der Entsorgung alter Autoreifen verdient, die er in einen Wald in Brandenburg wirft. Er schlägt Buddy mit einem Wagenheber tot, damit Atris das Tier aufschneiden kann. Sie werden einen neuen Hund besorgen. Und weil der Maserati voller Hundekot ist, beauftragt Hassan seine Komplizen, einen anderen Maserati zu stehlen. Der ist zwar rot statt blau, aber das wird Atris Frank schon irgendwie erklären können.
Als er wieder nach Hause kommt, wird er von der Frau im schwarzen Pullover überfallen. Sie steckt ihm den Lauf einer Pistole in den Mund und erzählt ihm, die Polizei habe seinen Partner verhaftet. Die 250 000 Euro müssten trotzdem bezahlt werden.
„Wo ist das Geld?“, sagte sie.
Atris öffnete den Mund und sagte: „Das Geld ist im Bahnhof. Buddy hat den Schlüssel verschluckt, er hat alles vollgeschissen, ich musste ihn “
„Ruhe“, sagte die Frau. Ihre Stimme war scharf. „Nimm sofort den Lauf wieder in den Mund.“
Atris verstummte und tat, was sie sagte.
„Deine Geschichte ist zu lang. Ich möchte keinen Roman hören. Ich möchte nur wissen, wo das Geld ist.“ (Seite 142)
Sie will mit Atris zum Bahnhof fahren. In der Tiefgarage hat Muhar El Keitar gerade den gestohlenen Maserati entdeckt. Er fungiert als eine Art arabischer Pate im Stadtviertel und wurde vom Besitzer beauftragt, den Wagen wiederzufinden.
Atris kommt in einem Keller wieder zu sich. Er sitzt nackt und gefesselt auf einem Stuhl. Vor ihm steht eine Autobatterie. Er verspricht Muhar, den Maserati zu bezahlen und noch etwas als Entschädigung draufzulegen. Das Geld befinde sich im Hauptbahnhof, erklärt er und weist auf den Schließfachschlüssel in seinem Portemonnaie hin. Muhar will selbst zum Bahnhof und beauftragt seine beiden Komplizen, auf den Gefangenen aufzupassen.
Er ging die Treppen nach oben. Dann kam er sie rückwärts wieder runter. Er hatte eine Pistole im Mund. (Seite 147f)
Die Frau meint:
„Wir werden unsere Probleme jetzt gemeinsam lösen.“ (Seite 148)
Kurz darauf sitzen Muhar und einer seiner Kumpane mit Kabelbindern gefesselt auf dem Boden. Der andere Mann kauert in einer Blutlache. Er machte den Fehler, einen Totschläger aus der Tasche zu ziehen. Ohne die Pistole aus Muhars Mund zu nehmen, holte die Frau mit der linken Hand ein Rasiermesser heraus, klappte es auf und zerschnitt dem Angreifer den rechten Schenkel. Er ging zu Boden.
„Ich habe deine große Beinschlagader durchtrennt“, hatte sie gesagt. „Du wirst jetzt ausbluten, es dauert sechs Minuten. Dein Herz wird das Blut immer weiter aus deinem Körper pumpen. Zuerst wird dein Gehirn nicht mehr versorgt, du wirst bewusstlos.“
„Hilf mir“, hatte er gesagt.
„Jetzt kommt die gute Nachricht. Du kannst überleben. Es ist einfach: Du musst in die Wunde greifen, mit dem Finger findest du das Ende der Arterie. Du musst sie zwischen Daumen und Zeigefinger zudrücken.“
Der Mann hatte sie ungläubig angesehen. Die Lache war größer geworden.
„An deiner Stelle würde ich mich beeilen“, hatte sie gesagt.
Er hatte in seiner Wunde gewühlt. „Ich find sie nicht, verdammt, ich finde sie nicht!“ Dann hatte es plötzlich aufgehört zu bluten. „Ich hab sie.“
„Du darfst jetzt nicht mehr loslassen. Wenn du weiterleben willst, musst du sitzen bleiben. Irgendwann wird ein Arzt kommen. Er wird mit einem kleinen Stahlclip die Arterie wieder schließen. Also halt still.“ (Seite 148f)
Sie fährt mit Atris zum Hauptbahnhof. Er holt zwei Taschen aus einem Schließfach. Sie erkundigt sich nach dem Inhalt: 220 000 Euro und 1,1 Kilogramm Kokain, lautet die Antwort. Sie nimmt beides und lässt ihn stehen. Er alarmiert anonym die Polizei:
„Eine Frau mit schwarzem Kapuzenshirt, ca. 1,70 groß, schlank, geht im Hauptbahnhof in Richtung Ausgang […] Sie ist bewaffnet, sie hat eine Tasche mit Falschgeld und ein Kilogramm Kokain bei sich. Sie hat einen blauen, nein, einen roten Maserati gestohlen. Er steht auf Parkdeck zwei.“ (Seite 150)
Dann nimmt er einen hinter den Münzschacht geklebten zweiten Schlüssel heraus, öffnet das Schließfach daneben. Mit einer Tasche, in der sich echte Banknoten im Wert von 250 000 Euro befinden, geht er durch die Haupthalle. Er sieht die Frau am Boden liegen. Acht Polizisten stehen um sie herum. Das Falschgeld hatten er und Frank sich andrehen lassen. Bei dem weißen Pulver handelt es sich um Zucker.
Frank kann nichts nachgewiesen werden. Er kommt frei.
Die Pillen im Wert von 250 000 Euro sind in einem Postpaket von Amsterdam zur Adresse von Atris‘ Mutter unterwegs.
Einsam
Larissa ist vierzehn. Ihr Vater hat seit zwanzig Jahren keine Arbeit. Sie leben von Sozialhilfe. Larissas Bruder zog mit sechzehn weg.
Während die alkoholkranken Eltern in einer Trinkhalle sind, kommt Lackner vorbei, ein Nachbar, der mit Larissas Vater befreundet ist. Er nimmt das Mädchen mit. Als ihnen im Treppenhaus Frau Halbert entgegenkommt, reißt Larissa sich los und flüchtet sich schluchzend in die Arme der Nachbarin. Später wird der Richter Frau Halbert fragen, warum sie dem Kind nicht geholfen habe. Lackner vergewaltigt und defloriert das Mädchen.
Die Monatsblutungen bleiben aus; Larissa ist es hin und wieder übel, mitunter krümmt sie sich vor Schmerzen. Koliken seien das, glaubt sie. Einmal schafft sie es gerade noch zur Toilette.
Sie griff zwischen ihre Beine und spürte das Fremde. Es wuchs aus ihr. Sie tastete verschmierte Haare, einen winzigen Kopf […] Ein paar Minuten später fiel das Baby in die Toilettenschüssel, sie hörte das Wasser klatschen. (Seite 156)
Mit einer Nagelschere durchtrennt sie die Nabelschnur. Dann wickelt sie das Kind in ein Handtuch, packt es in eine Tüte und legt diese im Fahrradkeller ab. Im Flur bricht sie zusammen.
Der Arzt im Krankenhaus holt die Nachgeburt und alarmiert die Polizei.
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Sie habe nicht gewusst, dass sie schwanger war, gibt Larissa zu Protokoll.
In der Lunge des toten Kindes werden Kolibakterien gefunden. Es ist ertrunken, lebte also bei der Geburt noch. Der Richter spricht Larissa dennoch frei. Sie sei durch die Vergewaltigung traumatisiert und von der Geburt überrascht gewesen und habe zwischen Recht und Unrecht nicht unterscheiden können, begründet er das Urteil.
Lackner muss für sechseinhalb Jahre ins Gefängnis.
Justiz
Ein Rechtsanwalt wird zu einem Häftling namens Harkan Turan in Berlin-Moabit gerufen. Der Mann soll seinen Pitbullterrier in Neukölln ausgeführt haben, mit einem Mann namens Horst Kowski in Streit geraten sein und ihn zusammengeschlagen haben. Der Anwalt kann sich das kaum vorstellen, weil der schmächtige Einundvierzigjährige ein verkrüppeltes Bein hat und nur mit Krücken gehen kann.
Der Jurist lässt sich die Akten kommen. Horst Kowski sagte aus, seine Frau habe den Pitbull-Halter gekannt und ihm die Adresse am Computer des Sonnenstudios herausgesucht, in dem sie arbeitet.
Bei der angegebenen Adresse fand die Polizei unter den 184 Klingelschildern zwar keinen Tarun, wie von Kowski angegeben, aber einen Harkan Turan – und ging von einem Tippfehler aus.
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Man schickte Harkan Turan einen Strafbefehl. Der wurde rechtskräftig, weil er nicht darauf reagierte. Auch die Zahlkarte der Vollstreckungsabteilung ignorierte er. Er hätte ohnehin kein Geld gehabt. Daraufhin wurde die Geld- in eine Haftstrafe umgewandelt und Harkan Turan aufgefordert, sich zum Strafantritt zu melden. Er warf den Brief weg. Drei Wochen später wurde er verhaftet.
In der von seinem Anwalt beantragten Wiederaufnahme stellt sich heraus, dass Kowski den Beschuldigten noch nie gesehen hat. Harkan Turan hat Angst vor Hunden und noch nie einen besessen. Er wird freigesprochen.
Für jeden der unschuldig verbüßten Hafttage stehen ihm 11 Euro Entschädigung zu. Das Geld muss er innerhalb von sechs Monaten beantragen. Harkan Turan versäumt die Frist.
Ausgleich
Alexandra wächst in Oldenburg auf. Ihre Eltern haben einen Bauernhof. Nach der mittleren Reife macht sie in einer Bäckerei in der Stadt eine Lehre. Als sie sich mit neunzehn ihr erstes Auto kauft, verabredet sie sich mit dem zehn Jahre älteren Verkäufer Thomas. Zwei Jahre später heiraten sie.
Er schlägt sie. Und seit der Geburt der Tochter Saskia schläft er nicht mehr mit ihr. Wenn er sie verprügelt, beißt sie sich in die Hand, um nicht zu schreien und das Kind aufzuwecken. Thomas vergewaltigt sie auch anal. Alexandra will weg, aber er erwischt sie im Treppenhaus. Am Abend bricht er ihr eine Rippe. Sie muss nun auf dem Fußboden schlafen und nackt sein, wenn er zu Hause ist. Als Saskia neun Jahre alt ist, nimmt sie sich vor, wegen der Tochter noch vier oder fünf Jahre durchzuhalten.
Felix, ein freundlicher Nachbar, umwirbt Alexandra. Nach drei Monaten geht sie mit ihm ins Bett. Bevor sie sich entkleidet, macht sie das Licht aus. Einmal, als sie ihre Strümpfe nicht findet, knipst Felix die Lampe an. Da sieht er die Hämatome. Er will zur Polizei, aber Alexandra hält ihn davon ab, denn sie hat Angst um ihre Tochter.
Zwei Monate später beginnen die Sommerferien, und Alexandra bringt Saskia zu ihren Eltern.
Am letzten Ferientag kündigt Thomas an, er werde das inzwischen zehnjährige Mädchen nach der Rückkehr ficken.
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Alexandras Vater bittet den Rechtsanwalt, der die Geschichte erzählt, seine Tochter zu verteidigen. Sie wird beschuldigt, ihren Ehemann mit einer Statue erschlagen zu haben. Und weil Thomas schlief, wird das Gericht sie wohl wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilen müssen.
Im Haftkrankenhaus berichtet Alexandra ihrem Anwalt, was sie durchmachte. Er lässt die Blutergüsse fotografieren. Der medizinische Bericht umfasst vierzehn Seiten. Beide Nieren sind gequetscht, Milz und Leber gerissen, zwei Rippen angebrochen, an sechs weiteren Rippen werden Spuren alter Frakturen festgestellt.
In der Hauptverhandlung sagt der vor seiner Pensionierung stehende Richter, es widerstrebe ihm, die Angeklagte wegen Mordes zu verurteilen. In Berlin hätte der Staatsanwalt nach einer solchen Äußerung sofort einen Befangenheitsantrag gestellt, aber in der Provinz ist das anders. Am Ende spricht der Richter Alexandra tatsächlich frei. Obwohl Thomas zum Tatzeitpunkt schlief, behauptet der Richter, es habe sich um Notwehr gehandelt. Wenn Alexandra gewartet hätte, bis er aufwachte, wäre ihre Tochter in Gefahr gewesen. Nach der Urteilsverkündung überredet der Richter den Staatsanwalt, keine Revision einzulegen.
Im Café gegenüber dem Gerichtsgebäude fällt Alexandras Verteidiger auf, dass kein Sachverständiger zu Fingerabdrücken gehört wurde. Er sieht auf seinem Laptop nach: An der Statue, mit der Thomas erschlagen wurde, fand die Polizei keine Fingerabdrücke. Der Täter trug vermutlich Handschuhe. Die Statue wiegt 41 Kilogramm, nur etwas weniger als Alexandra. Auf ihrer Kleidung waren keine Blutspritzer. Das alles konnte dem erfahrenen Richter nicht entgangen sein!
Dann sieht der Rechtsanwalt, wie Alexandra aus dem Gerichtsgebäude kommt und von Felix abgeholt wird.
Familie
Sechzehn Tage nachdem Waller sein Abitur in Hannover bestanden hat, stirbt sein Vater, ein Eisenflechter, bei einem Arbeitsunfall. Seine Mutter hatte die Familie verlassen, als Waller noch ein Kind gewesen war.
Statt das angebotene Stipendium einer Studienstiftung anzunehmen, fliegt Waller nach Kyoto und zieht sich ein Jahr lang in ein Kloster zurück. Dann fängt er bei einem deutschen Maschinenbauer in Japan an. Jahre später setzt er in London seine erfolgreiche Karriere fort, aber von dem vielen Geld, das er verdient, gibt er so gut wie nichts aus. Mit neununddreißig besitzt er 30 Millionen Euro, hört zu arbeiten auf und kauft sich ein Herrenhaus an einem bayrischen See.
Dort kommt er mit einem Rechtsanwalt ins Gespräch, der in der Nähe ein Ferienhäuschen gemietet hat, und beauftragt ihn, für die bestmögliche juristische Vertretung seines Halbbruders Fritz Meinering zu sorgen. Wallers Mutter hatte wieder geheiratet und einen Sohn geboren. Als das Kind zwei Jahre alt war, trennte sich dessen Vater von der Familie. Die Mutter starb an einer Alkoholvergiftung, als Fritz eingeschult wurde. Er kam in ein Kinderheim. Später trank er, wurde obdachlos und verbüßte mehrere Haftstrafen. Ein Drogenhändler, den er im Gefängnis kennengelernt hatte, überredete ihn, Kokain aus Brasilien nach Deutschland zu schmuggeln. Mit 12 Kilogramm Kokain wurde Fritz Meinering in Rio de Janeiro festgenommen. Waller übernimmt die Anwaltskosten, will aber gegenüber seinem Halbbruder anonym bleiben.
Nach zwei Jahren Haft in Brasilien wird Fritz Meinering nach Deutschland abgeschoben, wo die Verfahren gegen ihn eingestellt werden.
Drei Wochen nach seiner Ankunft gerät er mit einem Russen in Streit. Er schlägt ihn tot und wird noch am Tatort festgenommen. Waller wird nichts mehr für ihn tun.
Geheimnisse
Fabien Kalkmann spricht immer wieder in einer Anwaltskanzlei vor. Er werde von der CIA und vom BNA verfolgt, klagt er. Kürzlich sei er bei einem Optiker gewesen. Dort habe man ihn vierundzwanzig Stunden lang festgehalten und ihm eine Kamera ins linke Auge montiert. Nun, so Kalkmann weiter, könnten die Geheimagenten alles sehen, was er anblickt.
Kalkmann wollte, dass ich den BND anzeige. Und natürlich die CIA. Und den früheren amerikanischen Präsidenten Reagan, auf den alles zurückgehe. Als ich sagte, Reagan sei tot, antwortete er: „Das glauben Sie. In Wirklichkeit lebt er bei Helmut Kohl auf dem Dachboden.“ (Seite 199)
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Der Anwalt ruft schließlich den psychiatrischen Notdienst an und erklärt Kalkmann vorsichtig, dass er Hilfe benötige. Der Verrückte leistet keinen Widerstand. Sie nehmen ein Taxi. Als sie einem jungen Arzt gegenüber sitzen und der Jurist gerade zu sprechen anfangen will, kommt ihm Kalkmann zuvor:
„Guten Tag, ich heiße Ferdinand von Schirach, ich bin Rechtsanwalt.“ Er zeigte auf mich. „Ich bringe Ihnen hier Herrn Kalkmann. Ich vermute, er hat einen schweren Defekt.“ (Seite 200)
Ferdinand von Schirach (* 1964) ist seit 1994 als Rechtsanwalt in Berlin tätig. 2009 debütierte er als Schriftsteller sehr erfolgreich mit einer Sammlung von Kurzgeschichten bzw. Erzählungen unter dem Titel „Verbrechen“. „Schuld“ besteht ebenfalls aus „Stories“ (so der Untertitel), die auf seinen beruflichen Erlebnissen basieren.
Diese Fälle sind wahr, aber nicht in dem Sinne, dass alle so passiert sind. Sie sind wie diese schönen alten Drucker-Setzkästen, wo 38-mal das „A“ drinnen ist. Wenn man lange Strafverteidiger war, hat man einen großen Setzkasten von Personal, Ereignissen und Szenen. (Ferdinand von Schirach in einem Interview mit Rebecca Casati, Süddeutsche Zeitung, 31. Juli 2010)
Die fünfzehn Stories in „Schuld“ handeln von grundverschiedenen Menschen,deren Motive und Charaktere lebendig und anschaulich dargestellt werden. Die meisten von ihnen sind kriminell. Gleich zu Beginn („Volksfest“) blicken wir in menschliche Abgründe, die sich hinter einer biederen Fassade auftun. In „DNA“ läutert sich ein Paar nach der Ermordung eines Triebtäters, wird aber von der Vergangenheit später eingeholt. Zwei Frauen machen sich durch Tötungsdelikte schuldig, werden von den Gerichten jedoch freigesprochen („Einsam“, „Ausgleich“). Ein anderes Gericht verurteilt einen Autofahrer, der zufällig einen grausamen Mord verhindert hat, paradoxerweise zu einer Bewährungsstrafe („Anatomie“). In zwei Fällen („Kinder“ und „Justiz“) geht es um Justizirrtümer, und nur in der letzten Geschichte („Geheimnisse“) geschieht weder etwas Kriminelles, noch lädt jemand Schuld auf sich. Dafür ist „Geheimnisse“ die lustigste der Kurzgeschichten. Schwarzen Humor nach Art von Quentin Tarantino („Pulp Fiction“) beweist Ferdinand von Schirach vor allem in „Der Schlüssel“. Mit 32 Seiten ist das die längste der Geschichten, und bei aller Brutalität überrascht die Handlung immer wieder mit urkomischen Wendungen.
Ferdinand von Schirach erzählt in kurzen, einfachen, präzisen Sätzen, lakonisch und schnörkellos, ohne Ausschmückung durch Metaphern. Er beschränkt sich auf das Sichtbare und verzichtet darauf, Gedanken und Gefühle der Figuren introspektiv wiederzugeben. Nicht zuletzt durch diesen Stil wirken die Geschichten realistisch.
Die von Ferdinand von Schirach unter dem Titel „Schuld“ zusammengefassten Stories gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Burghart Klaußner (Hamburg 2010, ISBN 978-3869520469).
Sechs der Erzählungen (Volksfest, DNA, Illuminaten, Der Andere, Schnee, Ausgleich) wurden im Sommer 2014 fürs ZDF verfilmt, und zwar mit Moritz Bleibtreu in der Rolle des Berliner Anwalts Friedrich Kronberg. Regie: Hannu Salonen, Maris Pfeiffer; Drehbücher: André Georgi, Jobst Oetzmann, Nina Grosse. Die Ausstrahlung der sechs je 45 Minuten langen Folgen dieser Fernsehserie ist für Frühjahr 2015 geplant.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2010 / 2014
Textauszüge: © Piper Verlag
Ferdinand von Schirach: Verbrechen
Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini
Ferdinand von Schirach: Der Bäcker
Ferdinand von Schirach: Tabu
Ferdinand von Schirach: Terror (Verfilmung)
Ferdinand von Schirach: Strafe
Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten
Ferdinand von Schirach: Gott. Ein Theaterstück
Ferdinand von Schirach: Sie sagt. Er sagt. Ein Theaterstück