Ferdinand von Schirach : Kaffee und Zigaretten
Inhaltsangabe
Kritik
Eins
Das erste Kapitel erweckt den Eindruck, als handele es sich bei „Kaffee und Zigaretten“ um eine autobiografische Erzählung, auch wenn Ferdinand von Schirach nicht in der Ich-Form, sondern in der distanzierten dritten Person Singular schreibt.
Kurz vor seinem zehnten Geburtstag kommt er in ein Jesuiteninternat. Der Ort liegt in einem dunklen, engen Schwarzwaldtal, sechs Monate Winter, die nächste größere Stadt ist weit entfernt. Der Fahrer bringt ihn weg von seinem Zuhause, weg von den Chinoiserien, den bemalten Seidentapeten und den Vorhängen mit den bunten Papageien.
Sein Vater stirbt, als er 15 Jahre alt ist. Er hatte ihn schon viele Jahre nicht mehr gesehen, die Eltern trennten sich früh. Sein Vater schickte Postkarten ins Internat, Straßenansichten aus Lugano, Paris und Lissabon. Einmal kam eine Karte aus Manila, vor dem weißen Malacañang-Palast stand ein Mann in hellem Leinenanzug. Er stellt sich vor, dass sein Vater aussah wie dieser Mann.
Er wartet, bis alle im Bett sind, dann geht er zur Bar, setzt sich in einen Sessel und trinkt systematisch in kleinen Schlucken anderthalb Flaschen Whiskey. […]
Im Keller öffnet er den Waffenschrank, entnimmt eine der Schrotflinten und verlässt das Haus, die Tür lässt er offen stehen. […] Er nimmt den schwarzen Lauf des Gewehrs in den Mund, er ist eigenartig kalt auf der Zunge. Dann drückt er ab.
Am nächsten Morgen finden ihn die Gärtner in seinem Erbrochenen, die Schrotflinte liegt in seinem Arm. Er war so betrunken, dass er keine Patrone eingelegt hatte. Er spricht mit niemandem über diese Nacht, in der er sich selbst gesehen hat.
Zwei
Aber Ferdinand von Schirach setzt im ersten Kapitel keineswegs den Ton für das Buch; bereits das zweite, nur eine halbe Seite lange Kapitel von „Kaffee und Zigaretten“ klingt ganz anders:
Vor 54 Jahren, am Tag meiner Geburt, verhängte die Liga der Arabischen Staaten einen Import-Boykott über einen englischen Hersteller von Regenmänteln, die Firma Burberry. Zur Begründung hieß es, die Firma mache Geschäfte mit Israel. […]
In London blieb man gelassen. Ein Sprecher der Firma teilte mit, in arabischen Ländern regne es ohnehin selten und bisher seien „lächerlich wenige“ Regenmäntel dorthin exportiert worden.
Vier
Im 4. Kapitel vergleicht Ferdinand von Schirach auf sieben Seiten die früheren RAF-Anwälde Horst Mahler, Otto Schily und Hans-Christian Ströbele.
Drei junge Männer, drei grundverschiedene Charaktere, drei ganz unterschiedliche Entscheidungen für ein politisches Leben. Schily verteidigte das Recht gegen den Staat, Ströbele glaubte an das Gute, Mahler verfing sich im Extremen.
Fünf
Ferdinand von Schirach erzählt von einem Mandanten in Untersuchungshaft, der vor dem Gerichtssaal in Moabit verbotenerweise raucht und von einem Wachtmeister aufgefordert wird, die Zigarette auszudrücken. Der Mann raucht gelassen weiter und fragt: „Was wollen Sie machen? Mich verhaften?“
Im selben Kapitel berichtet Ferdinand von Schirach von dem Schlosser Berthold Wehmeyer, der wegen Mordes verurteilt und am 11. Mai 1949 in Moabit enthauptet wurde.
Acht
Imre Kertész wohnte über Ferdinand von Schirachs Kanzlei in Berlin. Als der Rechtsanwalt einmal am Abend unangekündigt Dokumente nach oben bringt, bittet ihn der elegant gekleidete Schriftsteller herein. Ferdinand von Schirach vermutet wegen des sorgfältig gedeckten Tisches, dass der allein wohnende Imre Kertész einen Gast erwartet, aber der bereits schwerkranke Nobelpreisträger erklärt ihm, er mache das jeden Abend so, man dürfe sich doch nicht auch noch gehenlassen.
Zwanzig
Das 20. Kapitel ist eine acht Seiten lange Huldigung Michael Hanekes.
„Das ohnmächtige, vollkommene Ausgeliefertsein an ein durchaus Fremdes, Bedrohliches: das Leben, die Natur; an ein dem Menschen, der Existenz feindliches Sein, an die Verfinsterung, das Schweigen, den Wahnsinn“ – das schrieb Michael Haneke als junger Rezensent über Thomas Bernhards „Auslöschung“. Es scheint mir heute das Programm seiner Filme.
Zweiundzwanzig
Ein paar Seiten weiter berichtet Ferdinand von Schirach von Albert Camus. Der Schriftsteller wollte am 4. Januar 1960 von Lourmarin nach Paris zurückfahren und besaß auch bereits eine Bahnfahrkarte, aber Michel Gallimard, ein Neffe des berühmten Verlegers, nahm ihn im Auto mit. Bei Villeblevin zerschellte der Wagen an einer Platane. Abert Camus war sofort tot, Michel Gallimard erlag fünf Tage später im Krankenhaus seinen Verletzungen, seine Frau und seine Tochter überlebten den Unfall. In Camus‘ Aktentasche fand man das Manuskript „Der erste Mensch“.
Dreiundzwanzig
Im folgenden Kapitel erzählt Ferdinand von Schirach von einem Mann, der seine Frau verlassen will:
Seit 15 Jahren ist er verheiratet. Er hält sie nicht mehr aus. Wie sie isst, ihren Atem, ihre Bewegungen im Schlaf […]. Er hat ihr nie etwas gesagt, es ist nicht seine Art, sich zu beschweren, aber seit zwei Jahren kann er nicht mehr. Er muss es jetzt tun, er wird ihr die Sache erklären. Es ist ja mein einziges Leben, denkt er […].
Vier Monate später hat er ich noch immer nicht getrennt. Sie gehen am Wochenende ins Kino, ein Liebesfilm, den sie sehen will. Er fällt im Mittelgang um. Er liegt auf dem roten Teppich in dem Popcorn, das er für sie gekauft hat. […] Im Krankenhaus bekommt er einen zweiten Herzinfarkt und stirbt.
Achtundzwanzig
Im 28. Kapitel porträtiert Ferdinand von Schirach einen Mandanten, der sein Unternehmen verkauft hatte und vom neuen Inhaber wegen Bilanzfälschung angezeigt wurde. Nach acht Wochen Gerichtsverhandlung feiert Kramer den erzielten Vergleich mit seiner Frau, seinem früheren Buchhalter, dessen Frau – und seinem Rechtsanwalt.
Der Kellner brachte eine Flasche [Champagner] und Gläser. Kramer knüllte einen Geldschein zusammen, stopfte ihn in die Hemdtasche des Kellners und schlug mit der flachen Hand auf dessen Brust. „Guter Mann“, sagte er.
Angetrunken wirft Kramer 5000 Euro auf den Tisch. Damit wette er, dass eine der beiden anwesenden Damen fremdgeht, lallt er. Obwohl niemand auf die Wette eingeht, kippt Kramerr die Handtasche seiner Frau aus, nimmt das Telefon und prüft die letzten Kurznachrichten. Am Ende gibt er die Wette verloren.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)„Ich habe die Wette gar nicht angenommen“, sagte der Buchhalter. […]
„Nimm das Geld, du Idiot.“ Kramer gab der Geldrolle einen Stoß. „Los, verdammt noch mal.“
Der Buchtitel „Kaffee und Zigaretten“ erinnert an den Film „Coffee and Cigarettes“ (2004) von Jim Jarmusch. Der Film setzt sich aus elf Episoden zusammen; Ferdinand von Schirach reiht auf 180 Seiten 48 Kapitel aneinander. Die sind zwischen einer halben Seite und acht Seiten lang und auch inhaltlich recht verschieden: Kindheitserinnerungen, merkwürdige Erlebnisse als Rechtsanwalt, skurrile Begegnungen, essayistische Betrachtungen, Porträts, Impressionen, Aperçus … Die Bandbreite ist groß, reicht von guten Beobachtungen und Gedanken bis zu Banalitäten und Trivialitäten. Das „Konzept“ dürften manche als Beliebigkeit abqualifizieren. Wohlmeinend könnte man sagen, die Heterogenität des Buches spiegele das Leben.
Einige Themen bzw. Motive werden in „Kaffee und Zigaretten“ immer wieder umkreist: Entwurzelung, Einsamkeit, verpasste Gelegenheiten, Melancholie und Lebensmüdigkeit, Tod und Trauer.
Ferdinand von Schirach erzählt schnörkellos, lakonisch und unkompliziert, nüchtern und unaufgeregt.
„Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Lars Eidinger.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Luchterhand Literaturverlag
Ferdinand von Schirach: Verbrechen
Ferdinand von Schirach: Schuld
Ferdinand von Schirach: Der Fall Collini
Ferdinand von Schirach: Der Bäcker
Ferdinand von Schirach: Tabu
Ferdinand von Schirach: Terror (Verfilmung)
Ferdinand von Schirach: Strafe
Ferdinand von Schirach: Gott. Ein Theaterstück
Ferdinand von Schirach: Sie sagt. Er sagt. Ein Theaterstück