Wilfried Steiner : Schöne Ungeheuer
Inhaltsangabe
Kritik
Der Wissenschaftsjournalist
Georg Hollaus ist 54 Jahre alt und schreibt als Wissenschaftsjournalist für eine Zeitung in Wien.
Ich arbeite beim Beobachter, einer mittelgroßen Wiener Zeitung, die jeden Tag aufs Neue an ihrem Anspruch scheitert, der österreichische Guardian zu werden. […] Mein Beruf wird mit einem von jenen zusammengesetzten Begriffen bezeichnet, deren erster Teil Erwartungen weckt, die der zweite nicht erfüllen kann. Wissenschaftsjournalist.
Früher war er mit seinem Kollegen Herbert Schiller befreundet, aber seit dieser die Karriereleiter hochkletterte, hat sich das Verhältnis deutlich abgekühlt. Georg kann es nicht ausstehen, wenn jemand statt Inhalt Content sagt und Sätze wie „leise ist das neue laut“. Die beiden Männer verstehen einander nicht mehr.
[Herbert:] „Du solltest öfter über deinen Tellerrand blicken.“
[Georg:] „Um was zu sehen? Andere Teller?“
Georg war zwar noch nie in Sibirien, träumt jedoch davon, ein Buch über das rätselhafte Ereignis am 30. Juni 1908 nahe des Flusses Steinige Tunguska im sibirischen Krasnojarsk zu schreiben. Augenzeugen berichteten von einer noch in 500 Kilometern Entfernung wahrnehmbaren Explosion. Traf ein Asteroid die Erde? Zerbarst er weit über der Oberfläche? Das könnte erklären, dass damals zwar Millionen Bäume umgerissen wurden, aber die Forscher nie einen Krater entdeckt haben.
Mordfall
Widerstrebend lässt sich Georg Anfang Mai 2019 von seinem Vorgesetzten Herbert dazu überreden, im Fall des ermordeten jungen Physikers Jan Koller zu recherchieren und fährt nach Linz, um mit der 46-jährigen Rechtsanwältin Dr. Eva Mattusch zu reden, der Verteidigerin der Mordverdächtigen.
Jan Koller arbeitete vier Jahre lang am CERN (Europäische Organisation für Kernforschung) bei Genf, bevor ihm dort im letzten Jahr gekündigt wurde. Am Vorabend eines für 28. April 2019 geplanten Kongresses in Linz, bei dem er als Redner vorgesehen war, wurde er in seinem Hotelzimmer erstochen.
Die Physikerin Elisabeth Borgmann will gesehen haben, wie ihre Kollegin Jelena Karpova das Zimmer verließ, und die Beschuldigte legte nach ihrer Festnahme auch ein Geständnis ab. Allerdings behauptete sie, Koller von hinten erstochen zu haben. Tatsächlich erfolgte der tödliche Stich mit einem Brieföffner von vorn. Und Jelena Karpova weigert sich, weiter über den Tathergang oder das Mordmotiv zu reden.
Niemand kann sich vorstellen, dass die zierliche Teilchenphysikerin, die 2012 bei der Entdeckung der Higgs-Teilchen am Large Hadron Collider dabei gewesen war, jemand ermorden könnte.
Jelena war zwei Jahre alt, als die Eltern 1984 mit ihr von Krasnojarsk (!) nach Wien zogen, wo der Physiker Nikolai Karpov bald darauf einen Lehrstuhl an der Universität bekam. 2007 wechselte er zum CERN bei Genf. Seine sieben Jahre jüngere Frau Ekaterina, eine bildende Künstlerin, hatte die Familie wegen eines Fliesenlegers verlassen, und 1995 war die Ehe geschieden worden. Jelena studierte theoretische Physik, promovierte im Alter von 22 Jahren und fing 2008 als Teilchenphysikerin beim CERN an. Ihr Vater beendete 2018 seine Berufstätigkeit und zog sich nach Wien zurück, wo der inzwischen 66-Jährige am 27. April 2019 – kurz bevor Jan Koller ermordet wurde – in seiner Wohnung mit einem Herzinfarkt zusammenbrach und im Krankenhaus starb.
Von Nikolai Karpovs ukrainisch-stämmiger Pflegerin Natalia Stepowa werden Eva und Georg später erfahren, dass der Physiker unmittelbar vor seinem Kollaps einen augenscheinlich schockierenden Telefonanruf erhalten hatte.
Als Jelena Karpova in der Justizvollzugsanstalt von ihrer Anwältin Eva Mattusch erfährt, dass ein Wissenschaftsjournalist, der sich mit dem Tunguska-Ereignis beschäftigt, mit ihr sprechen will, erklärt sie sich damit einverstanden, denn ihr Urgroßvater gehörte zu den Augenzeugen. Allerdings droht sie, die Begegnung sofort abzubrechen, falls Georg Hollaus den Mordfall Jan Koller erwähnen würde.
CERN
Jelenas Kolleginnen und Kollegen beim CERN möchten mithelfen, die Unschuld der Angeklagten zu beweisen. Prof. Martin Renner, der Leiter der Abteilung für Experimentelle Physik am CMS (Compact-Muon-Solenoid-Experiment) und Prof. Maria Tiefenbacher, die Entdeckerin der W- und Z-Bosonen, führen Eva Mattusch und Georg Hollaus durch die Anlage.
Deren Herzstück ist der Teilchenbeschleuniger, der Large Hadron Collider (LHC), das größte je für die Wissenschaft konstruierte Bauwerk, in dem fast auf Lichtgeschwindigkeit beschleunigte Protonen kollidieren. Was dabei geschieht, halten die Detektoren ATLAS, ALICE, CMS bzw. LHCb fest.
Eine in Zürich lebende Deutsche klagte gegen den Bau des LHC, weil sie befürchtete, dass bei dessen Betrieb Schwarze Löcher entstehen und die Erde zerstören könnten. Die Klage scheiterte 2012 vor dem Oberverwaltungsgericht in Münster.
Nach der Besichtigung sehen Eva Mattusch und Georg Hollaus kurz Fabiola Gianotti vorbeigehen, die Generaldirektorin des CERN.
Um sich ein genaueres Bild von Jelena Karpova, deren Vater und Jan Koller machen zu können, befragen die Anwältin und der Journalist dann noch Marietta Bianchi, Gabriel Bodmer und Konrad Zeller. Es sieht so aus, als ob es unter den Wissenschaftlern zwei Lager gäbe.
Einerseits die Pragmatiker mit ihrem Standardmodell, deren oberster Gott die Beweisbarkeit ist. Die experimentellen Physiker. Auf der anderen Seite die glühenden Verfechter gewaltiger Theoriegebäude, Anhänger der Supersymmetrie, der Stringtheorie und geheimnisvoller Multiversen. Die Theoretiker.
Nikolai Karpov und seine Tochter lehnten die ihrer Meinung weder veri- noch falsifizierbaren Hypothesen ab; Jan Koller dagegen gehörte zur anderen Fraktion, und er scheint etwas entdeckt zu haben, das er auf dem Kongress am 28. April 2019 in Linz vorstellen wollte.
Bei einem weiteren Besuch im CERN zeigen Martin Renner und Maria Tiefenbacher der Anwältin und dem Journalisten eine Aufzeichnung des CMS-Detektors vom 28. September 2015, die als Nachweis eines mini black-hole interpretiert werden könnte. Der Frankfurter Physiker Horst Stöcker postulierte 2006 die Möglichkeit, dass beim Zerstrahlen solcher winzigen Schwarzen Löcher Reste (relics) bleiben, die zur Energiegewinnung nutzbar wären. War Jan Koller diesem Ansatz auf der Spur?
Villa Diodati
Im Genfer Vorort Cologny zeigt Eva Mattusch ihrem Begleiter Georg Hollaus die Villa Diodati.
Lord Byron hatte 1816 nach dem Skandal um seine Trennung von Lady Caroline Lamb und Gerüchten über seine Homosexualität London verlassen und im Mai die Villa Diodati am Genfersee gemietet. Hier wohnte der 28-Jährige mit seinem sieben Jahre jüngeren Leibarzt John Polidori und traf sich mit seiner schwangeren Geliebten Claire Clairmont, ihrer Halbschwester Mary Godwin und dem Dichter Percy Bysshe Shelley.
Weil aufgrund eines Vulkanausbruchs auf der Insel Sumbawa im Jahr zuvor Staubteilchen in der Atmosphäre für einen besonders kalten Schlechtwetter-Sommer 1816 sorgten, blieb die Gruppe zumeist im Haus, und um sich die Zeit zu vertreiben, schlug Lord Byron in der Nacht auf den 19. Juni vor, jeder solle sich eine Gespenstergeschichte ausdenken.
Mary Godwin (später: Shelley) schrieb den Schauerroman „Frankenstein oder Der Moderne Prometheus“, der im Januar 1818 veröffentlicht wurde, als sie bereits mit Percy Bysshe Shelley verheiratet war. Das Buch lässt sich nicht zuletzt als Warnung vor der Hybris von Wissenschaftlern lesen.
Am 9. Oktober [1816] begeht ihre Halbschwester Fanny Selbstmord. Zwei Monate später ertränkt sich Shelleys erste Frau Harriet. Shelley heiratet Mary.[…] Im September 1818 stirbt Marys Baby Clara in Venedig. Im März 1819 wird der Sohn William in Rom schwer krank. Er stirbt im Juni desselben Jahres. Dr. John Polidori begeht am 21. April 1821 Selbstmord […]. Am 20. April 1822 wird Lord Byrons Tochter Allegra, fünf Jahre alt, vom Typhus dahingerafft. […] Am 16. Juni 1822 verblutet Mary beinahe an einer Fehlgeburt, Shelley rettet sie, das Kind ist tot.
Damit war die Unglücksserie nicht zu Ende: Percy Bysshe Shelley kam am 8. Juli 1822 bei einer Bootsfahrt zwischen Livorno und La Spezia ums Leben.
Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.
Gerichtsurteil
Weil die Angeklagte zu keinen weiteren Aussagen bereit ist, bleibt der Verteidigerin vor Gericht nur eine einzige Strategie: sie muss Zweifel an Jelenas Geständnis sähen. Das gelingt Eva Mattusch, und Jelena Karpova wird freigesprochen.
Bei der Trauerfeier für Stephen Hawking im Frühjahr 2018 habe sie Thomas Pynchon kennengelernt, erzählt Jelena, als sie Georg wiedersieht. Selbstverständlich kennt er die Tunguska-Szene in Pynchons Roman „Gegen den Tag“. Der Schriftsteller kann sich vorstellen, dass die Explosion in Sibirien durch ein Experiment von Nikola Tesla verursacht wurde. Der Physiker wollte Energie drahtlos durch die Ionosphäre übertragen und ließ dazu auf Long Island einen 57 Meter hohen Holzturm mit Eisenantenne bauen. Während Robert E. Peary in der Antarktis vergeblich auf Signale vom Wardenclyffe Tower wartete, traf die Energie versehentlich eine Gegend in Sibirien, die Steinige Tunguska.
Jelena erzählt Georg außerdem, dass sie eine Affäre mit Jan Koller gehabt habe. Als er sie verließ, sorgte ihr Vater dafür, dass der junge Physiker nicht länger bei CERN bleiben konnte. Deshalb hasste Jan Koller Jelenas Vater und plante schließlich, dessen ablehnende Haltung gegenüber der Stringtheorie durch die Bekanntgabe einer sensationellen Entdeckung auf dem Kongress in Linz als Vorurteil zu entlarven, also seinen Ruf als Wissenschaftler zu zerstören.
Jelena, die das ahnte, flehte ihn am 27. April an, mit der Veröffentlichung noch zu warten, aber er ging nicht darauf ein. Kurz darauf berichtete ihr die Pflegerin Natalia Stepowa telefonisch aus Wien von Nikolai Karpovs Herzinfarkt und dem unmittelbar vorausgegangenen Telefonat. Weil Jelena sofort durchschaute, wer der Anrufer gewesen war, suchte sie Jan Koller erneut in seinem Hotelzimmer auf, und als er sie verhöhnte, erstach sie ihn mit einem herumliegenden Brieföffner. Das Geständnis mit widersprüchlichen Angaben legte sie ab, um den Ermittlern und dem Gericht vorzutäuschen, dass sie den wahren Täter zu decken versuche. Der Plan ging auf.
Eva kommt dazu, und Georg begreift, dass sie das alles bereits vor der Gerichtsverhandlung durchschaute.
Nach dem Rechtsgrundsatz „Ne bis in idem“ bzw. „bis de eadem re ne sit actio“ kann Jelena nach dem Freispruch nicht noch einmal im selben Fall angeklagt werden.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Ein Physiker wird erstochen, die Handlung dreht sich um dieses Verbrechen – und dennoch ist „Schöne Ungeheuer“ kein Kriminalroman, denn Wilfried Steiner nimmt die Thriller-Elemente nicht so wichtig. Ihm kommt es auf Unterhaltung mit Esprit an. Und da „liefert“ er.
Auf selbstironische Weise lässt Wilfried Steiner einen erfolglosen, fast schon ein wenig tölpelhaften Wissenschaftsjournalisten durch das Geschehen stolpern und in der Ich-Form davon erzählen. Dass dieser 54-jährige Antiheld Georg Hollaus kein Überflieger ist, hindert ihn nicht daran, spritzige Dialoge wiederzugeben, die nicht nur amüsieren, sondern auch die Figuren charakterisieren und die Handlung weitertreiben. Die Sprache ist auf funkelnde Ecken und Kanten geschliffen, witzig und pointiert.
Es gibt in „Schöne Ungeheuer“ auch urkomische Szenen wie zum Beispiel die Beschreibung eines Fotos im (tatsächlich existierenden) Bildband „Inside CERN“ von Andri Pol, auf dem der Physiker Richard Kellogg in einem mit wissenschaftlichem Gerät vollgestopften Raum zu sehen ist. Mit beiden Armen macht er eine Geste:
Was soll das?
Kann mir jemand das erklären?
What the fuck ‒?
Oder, in deutschen Krimiserien sehr beliebt: Was zum Teufel …?
Der Blick des Mannes […] richtet sich auf einen Gegenstand, der als einer der wenigen auf diesem Tableau klar zu erkennen ist.
Eine Espressomaschine.
„Himmel in Flammen“, „Die Weltmaschine“, „Das Geschöpf“ und „Wölfe im Gottesdienst“ lauten die vier Kapitelüberschriften des Romans „Schöne Ungeheuer“ von Wilfried Steiner. Den Auftakt bildet die Beschäftigung des Ich-Erzählers mit dem Tunguska-Ereignis („Himmel in Flammen“). Mit der „Weltmaschine“ ist der Large Hadron Collider des CERN gemeint. Und das „Geschöpf“ ist die von Victor Frankenstein geschaffene Kreatur im Roman „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“, mit dem Mary Shelley vor der Hybris der Wissenschaftler warnt.
Ohne Bildungshuberei, aber mit viel Vergnügen spielt Wilfried Steiner mit diesen Themen. Zwischendurch erwähnt er auch andere spektakuläre Ereignisse in der physikalischen Forschung. So den im Februar 2016 bekannt gewordenen Nachweis von Gravitationswellen durch das LIGO-Observatorium (Laser Interferometer Gravitational-Wave Observatory / Laser-Interferometer Gravitationswellen-Observatorium) in Hanford/Washington und in Livingston/Louisiana. Peinlich war es, als Physiker des „Opera“-Teams, die im Herbst 2011 verkündet hatten, auf der 730 Kilometer langen Strecke zwischen dem CERN und den Laboratori Nazionali del Gran Sasso seien Neutrinos mit Überlichtgeschwindigkeit unterwegs gewesen, ein halbes Jahr später Messfehler eingestehen mussten.
Fazit: Wilfried Steiner bietet mit „Schöne Ungeheuer“ eine unterhaltsame Lektüre mit Esprit.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2022
Textauszüge: © Otto Müller Verlag