Valery Tscheplanowa : Das Pferd im Brunnen

Das Pferd im Brunnen
Das Pferd im Brunnen Originalausgabe Rowohlt-Berlin Verlag, Berlin 2023 ISBN 978-3-7371-0184-4, 190 Seiten ISBN 978-3-644-01708-5 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Die Russin Tanja kennt nur das Leben in der Sowjetunion, in der jede Art von Individualität und Streben nach Selbstverwirklichung unterdrückt wird. Die Analphabetin hält den Vorschlag, ihre Tochter auf eine Musikschule zu schicken, für eine Spinnerei. Stattdessen muss Nina schon als 7-jähriges Kind arbeiten und wird dann Krankenschwester. Ninas Tochter Lena emigriert 1988 mit ihrer Tochter Walja nach Deutschland.
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Kritik

In ihrem autofiktionalen Generationenroman "Das Pferd im Brunnen" entwickelt Valery Tscheplanowa keine stringente chronologische Geschichte, sondern reiht Miniaturen aneinander. Und sie verzichtet darauf, die Zusammenhänge deutlich einzuordnen. Ihr geht es mehr um Impressionen, Atmosphäre und Poesie.
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Tanja und Nina

Tanja, die Urgroßmutter der Erzählerin Walja, wohnt drei Jahrzehnte lang mit drei anderen Parteien in einem alten Holzhaus in der Nähe der russischen Stadt Kasan. Verbotenerweise – und ohne Wissen ihrer Tochter und ihrer Enkelin – lässt sie Walja taufen. Das Kind verbringt viel Zeit mit der Urgroßmutter, die weder lesen noch schreiben kann, und Onkel Mischa zeigt seiner Nichte eine besondere Stelle auf einem nahen Hügel:

Einige modrige, große Bretter liegen dort nebeneinander, und er hat ihr erzählt, unter den Brettern sei ein Brunnen und in dem Brunnen ein Pferd, das sei da mal hineingefallen. Da geht sie nun ständig hin und sitzt da und starrt auf die Bretter. Ob da ein Brunnen ist, weiß niemand, und wie da ein Pferd hineingefallen sein soll, erst recht nicht.

Tanjas Sohn starb im Alter von vier Jahren. Ihr Ehemann Nikolai war noch keine 20 Jahre alt, als er im Krieg fiel. Tanja zog ihre Tochter Nina Nikolaijewa allein auf und nahm sie mit ins Lazarett, wo sie arbeitete. Dort musste Nina schon als siebenjähriges Kind die Böden schrubben.

Jemand drängte Tanja, die Tochter auf eine Musikschule zu schicken, aber das hielt die Analphabetin für eine Spinnerei und erlaubte es nicht. Nina wird ihr das nie verzeihen. Als sie 17 Jahre alt ist, meldet ein Arzt sie auf einer Fachhochschule für Medizin an und sorgt dafür, dass sie zur Krankenschwester ausgebildet wird. Ob sie das möchte, fragt niemand, und sie selbst macht sich keine Gedanken darüber.

Nina und Lena

Mit 20 heiratet Nina 1955 einen jungen Mann, in den sie seit fünf Jahren verliebt ist: Jura Tokranov. Zwei Jahre später bringt sie ihre Tochter Lena zur Welt, und mit 27 ihren Sohn Mischa.

Mit 17 erträgt Lena die Streitigkeiten ihrer Eltern nicht länger, und weil die sich nicht entscheiden können, reicht Lena die Scheidungspapiere für sie ein. Als Jura einige Monate später einen Herzinfarkt erlitten hat, besucht ihn Nina und ihrer Tochter im Krankenhaus, aber Juras neue Lebensgefährtin wirft sie hinaus.

Lena studiert Sprachen. Die Mittagspause nutzt sie zum Anstehen.

Das Schlangestehen ist eine sozialistische Alltagshandlung, die mehrere Vorteile hat. Zum einen kann der Schlangestehende sich in Geduld üben, was für das ganze sozialistische Lebenskonstrukt eine Grundvoraussetzung ist. […]

Die 18-Jährige findet ihre Beine zu dick, die Brüste zu klein und den Hals zu kurz. Ihre Mutter unterschreibt deshalb für sie einen auf sechs Monate befristeten Arbeitsvertrag in dem Prothesenwerk in Kasan, in dem Nina angestellt ist. Die Konfrontation mit Amputierten kuriert die junge Frau.

Lena und Mischa bekommen einen Stiefvater: Slawa aus Minsk. Ihm wurde ein Unterschenkel amputiert. Eines Tages, als Lena aus der Universität kommt, ist Slawa nicht mehr da. Nina erklärt nicht, warum sie ihn fortgeschickt hat, und als er Jahrzehnte später Lena anruft und darum bittet, noch einmal mit Nina reden zu dürfen, lehnt diese es brüsk ab, ans Telefon zu kommen.

Von einer Kreuzfahrt, bei der sie als Dolmetscherin arbeitete, kehrt Lena mit dem deutschen Alleinunterhalter Horst Karl Johnny zurück, und 1988 zieht sie mit ihrer achtjährigen Tochter Walja zu ihm nach Deutschland.

Dort im Ausland gab es die erdrückende Selbstverständlichkeit der Unterschiede. Ganz so, als gebe es für jeden Menschen eine eigene Realität. Es gab dort ein T-Shirt für fünf Mark und eines für fünfhundert, ein Stück Käse für zwei Mark und eines für zwanzig.

1991 kommt Nina für vier Wochen aus Kasan zu Besuch – und fühlt sich in der Auffassung bestärkt, dass Horst Karl Johnny nicht der richtige Mann für ihre Tochter sei. Nach ihr reist Mischa an und bringt seine Schwester zurück nach Russland.

Nina und Tanja

Als Tanja im Alter dement wird, sich nackt vors Haus setzt und ihre im Ofen versteckte Rente versehentlich verbrennt, holt Nina sie 1995 zu sich in die Stadt, also nach Kasan. Die Rollen haben sich vertauscht: Nun wechselt die Tochter die Windeln der Mutter. Während Nina im Kindergarten arbeitet, bleibt Tanja allein. Eines Tages wirft sie ein Bügeleisen, einen Kassettenrecorder, den Radio und den Fernseher vom Balkon. Daraufhin sperrt Nina sie tagsüber in einem kleinen Zimmer der Wohnung ein, dessen Fenster sie verbarrikadiert hat.

Fünf Jahre müssen sie einander ertragen, bis Tanja stirbt.

Lena und Walja

Lena kehrt nach Deutschland zurück und zieht ihre Tochter Walja allein auf.

Im Alter von 17 Jahren reist Walja zu ihrer Großmutter Nina nach Russland und sucht nach ihrem Vater Viktor. Der lässt sich verleugnen, bis Nina seine Frau anruft und die Enkelin hinbringt. Drei Tage lang bleibt Walja bei Viktor und dessen Familie, dann bricht sie den Aufenthalt vorzeitig ab.

Als Nina im Krankenhaus stirbt, organisiert ihr Bruder Sascha die Bestattung.

Neun Jahre später reist Walja erneut nach Kasan und quartiert sich in Ninas ehemaliger Wohnung ein. Sie schaut nach dem Brunnen, von dem es in ihrer Kindheit hieß, ein Pferd sei hineingefallen.

Wenn ich morgens vor dem Spiegel stehe, sehe ich sie, meine Großmutter, in meinem Gesicht. Nina, die ohne mich gelebt hat. Auch ich habe ohne sie gelebt, von ihr getrennt durch Ländergrenzen, Utopien, Konsumgüter und den brennenden Wunsch, es einmal besser zu haben. Wenn ich dann aber meinen Grießbrei umrühre und wie Nina ein Stückchen Butter darin schmelzen lasse, muss ich lächeln, denn Tausende Kilometer von ihr entfernt ist es derselbe Topf, in dem sie ihren Grießbrei gerührt hat und in dem ich jetzt weiterrühre.

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Valery Tscheplanowa (eigentlich Veronika Walerjewna Tscheplanowa) wurde 1980 in der russischen Stadt Kasan geboren. 1988 emigrierte ihre Mutter, eine Dolmetscherin, mit der Tochter nach Deutschland, wo Valery Tscheplanowa eine erfolgreiche Sängerin, Film- und Theaterschauspielerin geworden ist. Als Schriftstellerin debütierte sie 2023 mit „Das Pferd im Brunnen“

Dabei handelt es sich um einen autofiktionalen Generationenroman. „Das Pferd im Brunnen“ beginnt mit dem Kapitel „Der Schaukelstuhl“ und endet mit „Mein Schaukelstuhl“. Der gehört Tanja, der Urgroßmutter der Ich-Erzählerin. Tanja ist Analphabetin und kennt nichts anderes als das Leben in der Sowjetunion, in der jede Art von Individualität und Streben nach Selbstverwirklichung unterdrückt wird. Beim alltäglichen stundenlangen Schlangestehen kommt auch niemand auf die Idee, einzigartig zu sein.

Valery Tscheplanowa erzählt in „Das Pferd im Brunnen“ von vier Frauen – Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Kind –, aber sie entwickelt keine stringente chronologische Geschichte, sondern reiht Miniaturen aneinander und springt dabei zwischen Personen und zeitlichen Ebenen hin und her. Im Zentrum steht Nina, die Großmutter der ebenso klugen wie nachdenklichen Ich-Erzählerin. Es kommt zu Wiederholungen und Spiegelungen. Dabei verzichtet Valery Tscheplanowa darauf, die Zusammenhänge deutlich einzuordnen. Ihr geht es mehr um Impressionen, Atmosphäre und Poesie.

Den Roman „Das Pferd im Brunnen“ von Valery Tscheplanowa gibt es auch als Hörbuch, gelesen von der Autorin selbst.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2024
Textauszüge: © Rowohlt-Berlin Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.