Ocean Vuong : Auf Erden sind wir kurz grandios

Auf Erden sind wir kurz grandios
On Earth We're Briefly Gorgeous Penguin Press, New York 2019 Auf Erden sind wir kurz grandios Übersetzung: Anne-Kristin Mittag Carl Hanser Verlag, München 2019 ISBN 978-3-446-26389-5, 269 Seiten ISBN 978-3-446-26495-3 (eBook)
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der Schreiber des Briefes – der schwule Sohn einer analphabetischen Immigrantin − setzt sich mit seiner Mutter, seiner Identität und der US-amerikanischen Gesellschaft auseinander. Obwohl seine Mutter ihn schlug, klagt er sie nicht an, sondern versucht, die von Krieg, häuslicher Gewalt, Verlorenheit und Überforderung traumatisierte Frau zu verstehen.
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Kritik

Ocean Vuong schreibt scheinbar unangestrengt, aber der Briefroman ist sorgfältig komponiert. Gegensätze prallen aufeinander, und die Fragmentierung der Geschichte spiegelt die Zerrissenheit des Ich-Erzählers. "Auf Erden sind wir kurz grandios" ist ein rhythmisches Sprachkunstwerk mit eindringlichen poetischen Bildern.
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Brief an die analphabetische Mutter

Lass mich von vorn anfangen.
Ma,
ich schreibe, um dich zu erreichen − auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist.

Ein 28 Jahre alter, in Vietnam geborener und in den USA aufgewachsener Schriftsteller schreibt einen langen Brief an seine Mutter Hong bzw. Rose, eine Analphabetin.

„Đẹp quá“, sagtest du nach einem Augenblick kaum hörbar. „Đẹp quá.“
Kein Gegenstand ist in einer ständigen Beziehung zur Lust, schrieb Barthes. Für den Schriftsteller jedoch ist es die Muttersprache. Doch was, wenn die Muttersprache verkümmert ist? Was, wenn diese Sprache nicht nur das Symbol einer Leere, sondern diese Leere selbst ist, was, wenn die Zunge herausgeschnitten ist? Kann man Lust an Verlust haben, ohne sich völlig zu verlieren? Das Vietnamesisch, das ich spreche, habe ich von dir, eines, dessen Diktion und Syntax nur das Niveau der zweiten Klasse erreichen.
Du warst noch ein Mädchen, als du von einem Bananenwäldchen aus zusahst, wie dein Schulhaus nach einem amerikanischen Napalmangriff einstürzte. Mit fünf hast du das letzte Mal ein Klassenzimmer betreten. Unsere Muttersprache ist so überhaupt keine Mutter — sondern eine Waise. Unser Vietnamesisch eine Zeitkapsel, die den Punkt markiert, an dem deine Bildung endete, zu Asche zerfiel. Ma, unsere Muttersprache zu sprechen heißt, nur teilweise auf Vietnamesisch zu sprechen, aber ganz auf Krieg.

Mekong-Delta, Vietnam

Hongs Mutter, die sich später den Namen Lan bzw. Lilie gibt, läuft im Alter von 17 Jahren mit ihrer kleinen Tochter Mai aus ihrer arrangierten Ehe mit einem dreimal so alten Mann fort. Sie schlägt sich in ihren Heimatort Gò Công südlich von Saigon durch und sucht vergeblich nach Arbeit. Um das Kind und sich ernähren zu können, prostituiert sich Lan in Saigon. Bei ihren Freiern handelt es sich um amerikanischen GIs auf Fronturlaub.

Als Lan 1967 in einer Bar in Saigon dem fünf Jahre jüngeren Soldaten Paul begegnet, ist sie im vierten Monat schwanger. Im Jahr darauf bringt die 28-Jährige Mais zwölf Jahre jüngere Schwester zur Welt, die weißer ist als andere vietnamesische Kinder und deshalb „Geistermädchen“ gerufen wird. Lan wird nicht nur als Hure beschimpft, sondern auch als Verräterin, weil sie sich mit dem Feind eingelassen hat.

Wie sie ihr das kastanienbraun schimmernde Haar abschnitten, als sie, die Arme beladen mit Körben voll Bananen und Zucchini, vom Markt heimlief.

Paul kehrt 1971 in die USA zurück. Seine Mutter täuschte eine Tuberkulose vor, um ihn dazu zu bewegen. Lans Briefe erhält er nicht, denn sein Bruder fängt sie ab.

1988 bringt Rose einen Jungen zur Welt. Im Jahr darauf flieht sie mit ihrer Mutter Lan, ihrer Schwester Mai und dem kleinen Kind aus Vietnam.

Hartford/Connecticut

Paul erfährt 1990 durch einen Anruf der Heilsarmee von einer Frau in einem Flüchtlingslager auf den Philippinen, die eine Heiratsurkunde mit seinem Namen besitzt und nach ihm sucht.

Zuflucht finden die Frauen in Hartford/Connecticut. Und obwohl Paul inzwischen eine Familie in Virginia gegründet hat, kümmert er sich um sie. Der „Little Dog“ gerufene Junge glaubt bis zu seinem neunten Lebensjahr, dass Paul sein Großvater sei.

Mai zieht nach dem Scheitern ihrer Ehe mit einem gewalttätigen Mann nach Florida und eröffnet dort ein Nagelstudio.

Auch Rose wird von ihrem Ehemann krankenhausreif geschlagen, bis dieser sich nach Kalifornien absetzt. Sie arbeitet in einem Nagelstudio, obwohl ihr das Aceton und die anderen giftigen Dämpfe zusetzen. Wenn sie spätabends nach Hause kommt, ist sie erschöpft und gereizt. Nicht selten ohrfeigt sie ihren Sohn. Und als er im Alter von sechs Jahren das Bett nässt, sperrt sie ihn in den Keller.

Du lagst bäuchlings auf einer Decke auf dem Fußboden, während Lan, die auf deinem Rücken saß, die Verspannungen und harten Stränge in deinen Schultern durchknetete. Im grünlichen Licht des Fernsehers sahen wir alle wie unter Wasser aus. […]
— als Lan mir zurief: „Little Dog, komm her und hilf mir, deiner Mutter zu helfen.“ Also knieten wir uns links und rechts neben dich und wälzten die verhärteten Stränge in deinen Oberarmen hinab zu den Handgelenken, den Fingern aus. Für einen Augenblick, beinahe zu flüchtig, um etwas zu bedeuten, ergab das Sinn — dass drei Menschen auf dem Boden, durch Berührung miteinander verbunden, so etwas wie das Wort Familie ergaben.
Du stöhntest vor Erleichterung, als wir deine Muskeln lockerten, dich nur mit unserem Gewicht aufdröselten. […]
„Ich bin glücklich!“ Lan warf ihre Arme in die Luft. „Ich bin glücklich auf meinem Boot. Mein Boot, siehst du?“ Sie zeigte auf deine Arme, die wie Ruder ausgebreitet dalagen, wir beide auf je einer Seite. Ich blickte hinab und sah es; sah, wie sich die braungelblichen Dielenbretter in trüb wirbelnde Strömungen auflösten. Ich sah die träge, vor Öl und totem Gras schlammige Ebbe. Wir ruderten nicht, wir trieben dahin. Wir klammerten uns an eine Mutter von der Größe eines Floßes, bis die Mutter unter uns im Schlaf schwer wurde. Und wir verstummten bald, während das Floß uns alle diesen großen braunen Strom namens Amerika hinabtrug, und wir endlich glücklich waren.

Außerhalb der Wohnung erfährt Little Dog, dass er „anders“ ist. Er wird ausgegrenzt und angefeindet.

Und dann gab es den Schulbus. An diesem Morgen, wie jeden Morgen, setzte sich niemand neben mich. Ich drückte mich gegen das Fenster und füllte meinen Blick mit der Außenwelt, malvenfarben mit frühmorgendlicher Dunkelheit: das Motel 6, Kline’s Waschsalon, der noch nicht geöffnet hatte, ein beiger Toyota ohne Motorhaube, gestrandet in einem Vorgarten mit einer halb im Schmutz schleifenden Reifenschaukel. Als der Bus beschleunigte, wirbelten Fetzen der Stadt vorbei wie in der Trommel einer Waschmaschine. Um mich herum rangelten die Jungen. […] Weil ich wusste, wie fremd mein Gesicht auf die Menschen in dieser Gegend wirkte, presste ich meinen Kopf noch entschlossener gegen das Fenster, um ihrer Aufmerksamkeit zu entgehen. In diesem Moment sah ich auf einem Parkplatz draußen etwas aufblitzen. Erst als ich ihre Stimmen hinter mir hörte, begriff ich, dass der Funken aus meinem eigenen Kopf kam. Dass jemand mein Gesicht in das Glas gestoßen hatte.

Als Little Dog seiner Mutter davon erzählt und sie erfährt, dass er sich nicht wehrte, erhält er von ihr noch eine Ohrfeige.

„Du findest einen Weg. Du findest einen Weg oder erzählst mir nie wieder was davon, verstanden?“

Später liest er von einem Fall im Jahr 1884. Ein weißer Eisenbahnarbeiter stand in Texas vor Gericht, weil er einen Chinesen ermordet hatte. Der selbst ernannte Friedensrichter Roy Bean (1825 – 1903) sprach ihn frei und begründete das Urteil damit, dass zwar die Tötung eines Menschen unter Strafe stehe, aber dieses Gesetz im Fall des Chinesen nicht relevant sei.

Trevor

Im Sommer 2003 jobbt der inzwischen 14-jährige Schüler erstmals auf einer Tabakfarm außerhalb von Hartford. Dabei begegnet er Trevor, dem zwei Jahre älteren Enkel des Farmers Buford, dessen Mutter mit ihrem Liebhaber nach Oklahoma zog und dessen alkoholkranker Vater seither allein in einem Trailer haust.

Der schüchterne Immigrantensohn und der Abenteuer suchende Enkel des Farmers werden nicht nur Freunde; sie verlieben sich und entdecken die gleichgeschlechtliche Sexualität.

Aber nach zwei Jahren zieht Little Dog nach New York, um dort aufs College zu gehen.

„Du wirst New York rocken.“ Seine Stimme klingt unvollständig. Und in dem Moment begreife ich, dass er high ist. In dem Moment sehe ich die Blutergüsse an seinen Oberarmen, die Venen hervortretend und geschwärzt, wo die Nadeln gewühlt haben. […]
Ich wusste nicht, dass ich ihn da zum letzten Mal sah […].

Im Alter von 17 Jahren vertraut Little Dog seiner Mutter an, dass er schwul sei.

„Sag mir“, du hast dich mit unruhiger Miene aufgesetzt, „wann hat das alles angefangen? Ich habe einen gesunden, normalen Jungen zur Welt gebracht. Das weiß ich. Wann?“

Sterben

Gut fünf Jahre später erfährt der Student in New York von Trevors Tod. Er nimmt den nächsten Zug nach Hartford.

Sieben meiner Freunde sind gestorben. Vier an einer Überdosis. Fünf, wenn man Xavier mitzählt, der sich auf einer unreinen Charge Fentanyl mit 140 Sachen in seinem Nissan überschlug.

Nachdem sich Trevor bei Dirtbike-Sprüngen einen Knöchel gebrochen hatte, verordnete ihm der Arzt das Opioid Oxycontin gegen die Schmerzen. Die Fraktur heilte, aber Trevor wurde süchtig – und starb im Alter von 22 Jahren an einer Überdosis mit Fentanyl gestrecktem Heroin.

Sieben Monate nach Trevors Tod erliegt Lan einem Krebsleiden. Die Urne wird in Vietnam beigesetzt.

Ein Freund aus Norwegen hat mir von einem Maler erzählt, der auf der Suche nach dem richtigen Grünton in einen Sturm hinausging und nie wieder zurückkehrte. Ich schreibe dir, weil ich nicht derjenige bin, der geht, sondern jener, der mit leeren Händen wiederkommt.

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Ocean Vuong (Vương Quốc Vinh) wurde am 14. Oktober 1988 auf einer Reisfarm bei Ho-Chi-Minh-Stadt geboren. Im Jahr darauf emigrierten seine Angehörigen mit ihm, und nach einem Jahr in einem Flüchtlingslager auf den Philippinen fanden sie Zuflucht in Hartford/Connecticut. Ocean Vuong studierte am Brooklyn College of the City University of New York englische Literatur des 19. Jahrhunderts und schloss sein Studium mit einem Mastertitel in Poesie der New York University ab. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und debütierte 2019 mit dem Roman „On Earth We’re Briefly Gorgeous“ / „Auf Erden sind wir kurz grandios“.

Der Briefroman weist unübersehbar autobiografische Bezüge auf. Der Schreiber des Briefes – der schwule Sohn einer analphabetischen Immigrantin − setzt sich mit seiner Mutter, seiner Identität und der US-amerikanischen Gesellschaft auseinander. Obwohl seine Mutter ihn schlug und in den Keller sperrte, klagt er sie nicht an, sondern versucht, die von Krieg, häuslicher Gewalt, Verlorenheit und Überforderung traumatisierte Frau zu verstehen. Ocean Vuong widerlegt den Mythos vom amerikanischen Traum und veranschaulicht die weit verbreitete Fremdenfeindlichkeit. Auch die Opioidkrise thematisiert er in „Auf Erden sind wir kurz grandios“.

Das Buch – ein fiktiver langer Brief – ist eine Migrations-, Coming-of-Age- und Aufsteigergeschichte. Im Gegensatz zu Trevor geht der Ich-Erzähler seinen Weg, wenn auch voller Selbstzweifel.

Ocean Vuong schreibt scheinbar unangestrengt, aber „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist sorgfältig komponiert. Gegensätze prallen aufeinander: die Liebe und Aggressivität der Mutter, die Demütigung des Einwandererkindes, die feinfühlig geschilderte Entwicklung einer Liebe zwischen zwei halbwüchsigen Jungen und die Schmerzen der analen Penetration.

Die Zersplitterung der Geschichte, die Abfolge von chronologisch ungeordneten Erinnerungsfragmenten in „Auf Erden sind wir kurz grandios“ spiegelt die Zerrissenheit des Ich-Erzählers. Ocean Vuong erweist sich als Sprachvirtuose. „Auf Erden sind wir kurz grandios“ ist ein rhythmisches Sprachkunstwerk mit literarischen Elipsen und eindringlichen poetischen Bildern. Dass dies auch in der deutschen Übertragung erhalten geblieben ist, verdanken wir Anne-Kristin Mittag.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2019
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

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"Täuscher" ist ein düsterer, knapp erzählter Kriminalroman. Andrea Maria Schenkel entwickelt die Geschichte nicht linear, sondern montiert sie aus Episoden. Nebenbei vermittelt sie Eindrücke vom Leben in Landshut Anfang der 20er-Jahre.
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