Natascha Wodin : Nastjas Tränen

Nastjas Tränen
Nastjas Tränen Originalausgabe Rowohlt Verlag, Hamburg 2021 ISBN 978-3-498-00260-2, 188 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Nastja lebt unter uns unvorstellbaren Bedingungen in der Ukraine und kümmert sich um den kleinen Sohn ihrer 1988 in den Westen geflohenen Tochter. Mit einem Touristenvisum fährt die Bauingenieurin 1992 nach Berlin und hofft, dort in vier Wochen mit Putzarbeiten den Lebensunterhalt für ein paar Monate in Kiew verdienen zu können. Aber damit ist ihr Existenzkampf noch lange nicht zu Ende.
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Kritik

Nastja ist zwar die Protagonistin des Romans, aber Natascha Wodin wählt eine andere Figur als Ich-Erzählerin und stellt das Geschehen aus deren Sicht dar. Wir erleben, wie die gut gemeinte Hilfe der Autorin zwar von Nastja angenommen, aber schließlich auch als bevormundend wahrgenommen wird. Und das spiegelt sich in der Komposition des ergreifenden Romans "Nastjas Tränen".
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Berlin 1992

Die Ich-Erzählerin zieht 1992 von einem Winzerort in der Südpfalz nach Berlin und sucht wegen ihrer Rückenschmerzen eine Haushaltshilfe. Auf ihre Zeitungsanzeige melden sich zahlreiche Bewerberinnen vor allem aus Osteuropa. Ihre Wahl fällt auf Nastja, eine 50 Jahre alte Frau aus der Ukraine, dem Land, in dem auch die Mutter der Autorin aufwuchs, die 1944 als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt worden war.

Als die Arbeitgeberin ukrainische Musik auflegt, weint die Haushaltshilfe, und die Erzählerin assoziiert mit Nastjas Tränen das Heimwehr ihrer eigenen Mutter, die sich ertränkte, als die Tochter elf Jahre alt war.

Nastjas Geschichte

Nastja wurde 1942 in einer westukrainischen Kleinstadt mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil geboren. Ihren Vater sah sie erstmals im Alter von drei Jahren, als er aus dem Krieg zurückkam. Die Eltern, ein Pharmazeuten-Ehepaar, führten die Apotheke des Ortes. Nastjas 15 Jahre ältere Schwester war als 16-Jährige wie die Eltern der Autorin zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt worden.

Eigentlich hätte Nastja gern Literatur am Gorki-Institut in Moskau beides studiert, aber dafür gab es keine Möglichkeit. Stattdessen drängte man die herausragende Schülerin, sich an der Technischen Hochschule in Kiew zur Tiefbauingenieurin ausbilden zu lassen.

Im dritten Semester freundete sich Nastja mit dem vier Jahre älteren, in Bachtschyssaraj auf der Krim geborenen jüdischen Medizinstudenten Roman an. Nach dem gleichzeitigen Studienabschluss heirateten die beiden in Kiew und traten ihre ersten Arbeitsstellen an.

Sie bekamen eine Tochter. Vika ließ sich mit 19 Jahren auf einen Säufer ein, der verschwand, sobald sie mit dem Sohn Slawa schwanger war. Vika setzte sich daraufhin 1988 – ein Jahr vor dem Zusammenbruch des Ostblocks − mit Hilfe einer als „Intergirl“ im Hotel Moskwa angebahnten Männerbekanntschaft in die Niederlande ab und ließ das Kind bei den Großeltern in Kiew zurück.

Nach dem Zerfall der UdSSR und der Trennung der Ukraine von Russland verlor Nastja nach 25 Dienstjahren beim größten Baukombinat der Ukraine ihre Anstellung. Die psychische Belastung führte auch zum Scheitern der Ehe.

Weil Nastja in der Ukraine nicht mehr wusste, von was sie leben und ihren Enkel ernähren sollte, sparte sie das Geld für eine Zugfahrkarte und reiste 1992 mit einem Touristenvisum für vier Wochen nach Berlin, wo ihre Schwester Tanja seit einigen Jahren lebte. Slawa ließ sie bei ihrem Ex-Mann Roman in Kiew zurück. Nastja hoffte, in den vier Wochen so viel Geld verdienen zu können, dass es dann für einige Monate zum Leben in der Ukraine reichen würde.

Die erste Putzstelle erhielt sie bei Marina Iwanowna, der hochnäsigen Ehefrau eines russischen Oligarchen, der zumeist auf Geschäftsreisen war. Das Ehepaar besaß nicht nur ein Domizil in der Rubljowka, „der bevorzugten Wohngegend der neuen Reichen, in der jedes Haus ein eigener Hochsicherheitstrakt war“, sondern auch eine Villa in Berlin mit Haushälterin und Chauffeur.

Tamara, die in Kiew das Konservatorium besucht hatte und nun als Klavierlehrerin an einer Musikschule in Berlin-Pankow unterrichtete, vermittelte der Tante Nastja ihres Ehemanns Maxim eine Putzstelle bei einer Augenärztin und einem Augenarzt mit zwei Kindern, die Nastja nicht nur weniger geizig bezahlten als Marina Iwanowna, sondern sie auch nicht so demütigend behandelten.

Eines Tages stellte Nastja fest, dass ihr Touristenvisum am Vortag abgelaufen war. Aus Furcht vor Strafe wagte sie es nicht, die Heimreise anzutreten. Stattdessen blieb sie als Illegale in Berlin – und wurde einige Zeit später von der Ich-Erzählerin eingestellt.

Der gefälschte Pass

Ein Russe namens Pjotr besorgt Nastja einen gefälschten ukrainischen Pass. Damit gilt sie nun als Tochter des greisen jüdischen Ehepaars Katz in Berlin. Pjotr verlangt dafür nicht nur 1000 DM, sondern auch alles, was Nastja durch den neuen Pass als Sozialhilfe bekommt (520 DM/Monat).

Inzwischen hat sie so viele Putzstellen, dass sie an sechs oder sieben Tagen in der Woche zehn Stunden arbeitet und Roman jeden Monat mehr als tausend Mark für Slawas Unterhalt schicken kann. Roman ist seit einiger Zeit mit einer Zeitungsredakteurin in zweiter Ehe verheiratet und Ljuba tut alles, um dem Jungen die Mutter zu ersetzen.

Nastja putzt bereits drei Jahre lang für die Erzählerin, als Pjotr 1995 als Mitglied eines Rings von Passfälschern und Menschenhändlern festgenommen wird. Weil Nastja nicht als Täterin, sondern als Opfer gilt, braucht sie wegen der falschen Identität kein Gerichtsverfahren zu befürchten, muss aber Deutschland innerhalb von drei Tagen verlassen.

Als die Autorin das erfährt, ruft sie eine Bekannte an, die mit einer Rechtsanwältin befreundet ist. Die Juristin rät dazu, gegen eine Abschiebung Einspruch zu erheben, um Zeit zu gewinnen.

Erst jetzt erfährt Nastja, dass sie als angebliche Tochter des Ehepaars Katz auf dem Papier 15 Geschwister hatte. Vermutlich waren die Katz‘ nicht ahnungslos, wie sie behaupten, sondern erhielten einen Teil der Sozialhilfe, die ihre vielen Kinder Monat für Monat für ihr Bleiberecht in Deutschland abliefern mussten.

Ehefrau eines Deutschen

Damit Nastja noch länger in Deutschland arbeiten kann, setzt die Autorin mit ihr zusammen eine Heiratsanzeige auf, und tatsächlich findet sich rasch ein 58-jähriger deutscher Kranführer namens Achim, der bereit ist, Nastja in Kiew zu heiraten.

Fast zur gleichen Zeit verliert er seine Arbeit als Kranführer und bleibt arbeitslos. Außerdem erzählt er Nastja, er habe für den Kredit eines Mannes gebürgt, dem er sein Leben verdanke und müsse deshalb nach dem Suizid des Lebensretters für dessen Schulden aufkommen. Nastja bleibt nichts anderes übrig, als ihm den größten Teil ihres Lohns abzutreten, denn mit einer Scheidung würde sie ihr Aufenthaltsrecht verlieren.

Schließlich nimmt Achim einen Hausmeisterposten an, lässt den Arbeitsvertrag jedoch unter einem Vorwand auf den Namen seiner Frau ausstellen. Und nach kurzer Zeit bringt er sie dazu, die damit verbundenen Arbeiten zusätzlich durchzuführen.

Mit der Reinigung der Büros war eine Firma beauftragt, doch zu den Pflichten des Hausmeisters gehörte es, täglich das fünfstöckige Treppenhaus zu kehren und zu wischen, die zwei Lifts mit ihren Spiegelwänden zu putzen, die Toiletten auf jedem Stockwerk zu reinigen und den Hof mit den ständig überquellenden Mülltonnen und Glascontainern sauber zu halten. Dafür brauchte sie jeden Tag drei bis vier Stunden, sodass sie nun, da sie ihre bewährten Putzstellen nicht aufgeben wollte, auf ein tägliches Arbeitspensum von annähernd zwölf Stunden kam.

Inzwischen gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass Achim sie ausbeutet, aber Nastja kann sich nicht dagegen wehren.

Die Befreiung erfolgt unerwartet. Achim kommt mit heftigen Schmerzen ins Krankenhaus, und dort wird ein Karzinom diagnostiziert. Als er stirbt und Nastja nicht weiß, wie sie das Geld für eine Grabstätte in Berlin aufbringen soll, bietet ihr der Bestatter an, die Urne in einen Provinzfriedhof zu schicken, wo man sie kostenlos in eine Nische stellen würde. Dafür verlangt er 200 DM. Nastja hält es zwar für möglich, dass er die Asche in die Mülltonne kippt, geht aber darauf ein.

Zu Achims Nachlass gehören Unmengen von Pornoheften, hochwertige Laptops, ein mit fabrikneuen Geräten vollgestopfter Keller und Mahnungen wegen unbezahlter Rechnungen für die Kühlschränke, Espressomaschinen, Staubsauger, Waschmaschinen usw. Die Schulden belaufen sich auf 150.000 DM. Außerdem gibt es Fotos, Dokumente und Aufzeichnungen, aus denen hervorgeht, dass Nastja Achims elfte Ehefrau war. Offenbar fand er immer wieder eine Ausländerin, die er ausbeuten konnte.

Die geerbten Schulden hätten Nastja ruiniert. Aber die Rechtsanwältin erklärt ihr, dass sie das Erbe ausschlagen könne, und sie folgt dem Rat.

Wohngemeinschaft

Die Erzählerin, die sich immer wieder für Nastja einsetzt und sie inzwischen als Freundin betrachtet, schlägt ihr eine Wohngemeinschaft vor. Zur Feier von Nastjas Einzug tischt sie Rindsrouladen mit Rotkohl und Kartoffelklößen auf. Nastja stochert auf ihrem Teller herum und schiebt ihn dann weg.

„Das schmeckt mir nicht», sagte sie in einem kalten, abweisenden Ton, den ich noch nie von ihr gehört hatte.“

Da begreift die Autorin, dass das geplante Zusammenleben von Gleich zu Gleich eine Illusion war.

Ich hatte zwar eine ukrainische Mutter und einen russischen Vater, ich sprach das Russische ohne Akzent, aber ich war in Deutschland geboren und hatte hier mein ganzes Leben gelebt. Ich dachte auf Deutsch, ich träumte auf Deutsch, ich schrieb meine Bücher in deutscher Sprache, ich hatte einen deutschen Freundeskreis und kochte deutsch […]. Ich war sehr viel mehr Deutsche als Ukrainerin oder Russin, und das war Nastja erst in dem Moment bewusst geworden […].

Von da an kochen die beiden Frauen zwar gleichzeitig, aber jede für sich. Nastja, die nie allein gewohnt hat, zieht sich nur zum Schlafen in ihr Zimmer zurück. Als sie einmal nach Kiew fährt, um ihren Enkel zu sehen, weist ihr der gut meinende Zugbegleiter ein leeres Abteil zu. Nastja wagt es nicht, sich dem Uniformierten zu widersetzen, aber die 28-stündige Reise allein in einem Abteil wird für sie zur Tortur.

Als Achims Witwe hat Nastja inzwischen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis für Deutschland und erhält eine Witwenrente.

Spiegelverkehrt

Nachdem Ljuba, Romans zweite Ehefrau, an Krebs gestorben ist, kommen sich Nastja und ihr Ex-Mann wieder näher.

Eine Freundin der Tochter teilt Roman telefonisch mit, dass Vika mit einem Darmverschluss im Krankenhaus liege. Bevor er sie nach Kontaktdaten fragen kann, legt sie auf. Über eine Memoryfunktion verfügt sein Apparat nicht. Weil Roman und Nastja von Vika nicht einmal erfahren haben, an welchem Ort in den Niederlanden sie lebt, können sie nur warten und bangen.

Einige Tage später ist es Vika selbst, die ihre Mutter in Berlin anruft. Sie hat die Operation überstanden und befindet sich auf dem Weg der Besserung.

Weil Nastja annimmt, dass Vika in prekären Verhältnissen lebt, will sie nach Kiew und zu Roman zurückkehren, um mit ihm, Vika und deren Sohn Slawa wieder eine Familie bilden zu können. Aber das geht nicht so einfach, denn Nastja ist nun eine deutsche Staatsbürgerin.

Aus einer Ukrainerin ohne Bleiberecht in Deutschland war eine Deutsche ohne Bleiberecht in der Ukraine geworden.

Um wieder einen ukrainischen Pass zu bekommen, könnte sie Roman ein zweites Mal heiraten – aber in diesem Fall würde sie ihre deutsche Witwenrente verlieren, und ohne die wäre das Familieneinkommen nicht ausreichend. Also reist Nastja – wie einige Jahre zuvor nach Deutschland – mit einem Touristenvisum in die Ukraine. Dort wird man sehen.

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In ihrem Roman „Nastjas Tränen“ bringt uns Natascha Wodin eine Frau nah, die unter für uns unvorstellbaren Bedingungen in der Ukraine aufwächst, heiratet, arbeitet und sich um den kleinen Sohn ihrer 1988 in die Niederlande geflohenen Tochter kümmert. Mit einem Touristenvisum fährt die Bauingenieurin 1992 nach Berlin und hofft, dort in vier Wochen mit Putzarbeiten den Lebensunterhalt für ein paar Monate in Kiew verdienen zu können. Aber Nastjas Existenzkampf ist damit noch lange nicht zu Ende.

Nastja ist zwar die Protagonistin des Romans, aber Natascha Wodin wählt eine andere Figur als Ich-Erzählerin und stellt das Geschehen aus deren Sicht dar. Dabei fallen Übereinstimmungen mit der Biografie der Schriftstellerin Natascha Wodin auf, und wir können wohl davon ausgehen, dass sie sich selbst in die namenlose Romanfigur eingebracht hat.

Die Perspektive ermöglicht es Natascha Wodin, eine zweite Ebene einzuziehen: Wir erleben nämlich, wie die gut gemeinte Hilfe der Ich-Erzählerin zwar von Nastja angenommen, aber schließlich auch als bevormundend, wenn nicht übergriffig wahrgenommen wird. Und das spiegelt sich sogar in der Komposition des Romans „Nastjas Tränen“, denn bis kurz vor dem Ende beansprucht die Ich-Erzählerin die Deutungshoheit über Nastjas Erlebnisse. Wenn sie beispielsweise schildert, wie Nastja das Leben im Westen erlebt, ist das nicht authentisch, sondern geschieht aus der subjektiven Sicht der Erzählfigur.

Den ergreifenden Roman „Nastjas Tränen“ von Natascha Wodin gibt es auch als Hörbuch, gelesen von Martina Gedeck.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Rowohlt Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon einen Monat, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte. Aus familiären Gründen reduziere ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik.