Joachim Zelter : Die Verabschiebung

Die Verabschiebung
Die Verabschiebung Originalausgabe Edition Klöpfer, Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2021 ISBN 978-3-520-75201-7, 160 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der pakistanische Asylbewerber Faizan und seine deutsche Ehefrau Julia erwarten keine finanzielle Unterstützung vom Staat, sondern wollen nur gemeinsam hier leben dürfen. Jahrelang kämpfen sie für ein Bleiberecht, aber Populismus, Bürokratie und spitzfindig ausgelegte Gesetzesparagrafen stehen einer humanen Lösung entgegen.
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Kritik

Joachim Zelter beginnt den Roman "Die Verabschiebung" mit dem Ende und entwickelt die Geschichte dann chronologisch. Dabei erleben wir das Geschehen weitgehend aus Julias Sicht. Wir müssen davon ausgehen, dass Joachim Zelter nicht übertreibt, sondern ein (fiktives) Asylverfahren realistisch darstellt. Das ist erschütternd.
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Julia und Faizan

Als die Geschwister Julia und Johannes Kaiser noch Kinder waren, zog die Familie aus beruflichen Gründen des Vaters häufig um, blieb aber in der badischen Region. Dass die Kinder die Fenster mit Fingerfarben bemalen durften, löste bei den Nachbarn Befremden aus. Die Mutter musste mehrmals operiert werden und starb früh. Julia studierte Germanistik und Philosophie, brach jedoch kurz vor dem Examen ab. Sie arbeitet nun als Hilfskraft in der Stadtbibliothek.

2015 verliebt sie sich in Faizan Muhammad Amir, einen gut zehn Jahre jüngeren Pakistani, der in einer Flüchtlingsunterkunft wohnt und bei der Landesaufnahmestelle einen Asylantrag gestellt hat. Für die 5000 Kilometer lange Flucht von Asien nach Europa benötigte er ein ganzes Jahr, denn er reiste nicht mit dem Flugzeug, sondern legte den Weg zu Fuß, mit einem Fahrrad oder per Anhalter zurück. Am 26. März 2014 erreichte er sein Ziel: Deutschland. Inzwischen beschäftigt ihn das Döner-Restaurant „Osmanisches Reich“ als Hilfskellner, und Faizan träumt davon, eine eigene Gaststätte zu eröffnen. Doch woher soll er das Startkapital nehmen, zumal er seiner Familie in Pakistan regelmäßig Geld schickt?

Nachdem Julia und Faizan ein Paar geworden sind, stellt sie ihn ihrer Familie vor.

Sie saßen im Ratskeller und aßen Maultaschen, Rostbraten und Spätzle. Für die Eltern war das der Inbegriff eines guten Essens, während Faizan dieses Essen (nach pakistanischem Standard) nichtssagend und fad fand, ohne jeden Geschmack. Selbst die ihm empfohlene Pfefferpfanne schmeckte nach gar nichts.

Asylverfahren

Faizan erzählt Julia von seinem Landsmann Dr. Soleimani, den er in der Flüchtlingsunterkunft kannte. An der Universität in Karatschi hatte Dr. Soleimani Philosophie-Vorlesungen gehalten, bis ihn die Behörden mit einem Lehrverbot belegten und als Staatsfeind behandelten, weil er die atomare Rüstung Pakistans kritisierte. Er hoffte auf einen Neuanfang in Deutschland, aber vor kurzem schob man ihn ab. Das stärkt nicht gerade Faizans Zuversicht.

Seine persönliche Anhörung im 200 Kilometer entfernten Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wird für 8 Uhr morgens angesetzt, obwohl das bedeutet, dass er bereits am Vorabend mit dem Zug anreisen muss. Zwei Tage vor dem Termin stürzt Faizan mit dem Fahrrad, bricht sich eine Hand und muss wegen der Operation beim BAMF absagen.

Einen Rechtsanwalt zu finden, ist bei Asylverfahren schwierig, denn aus der Sicht der Juristen ist das nicht lukrativ. Für Julia sind die Honorare hingegen so hoch, dass sie sich verschulden muss.

Eheschließung

Als Faizans Asylantrag abgelehnt wird, rät der Anwalt zur Eheschließung. Julia wollte nie heiraten, denn sie lehnt die Institution der Ehe grundsätzlich ab. In ihrer Wohnung hängt ein Plakat mit kritischen Zitaten über die Ehe beispielsweise von Oscar Wilde, und bei Facebook hat sich Julia immer wieder ablehnend zur Ehe geäußert. Nun fühlt sie sich gezwungen, gegen ihre Überzeugung zu heiraten, um weiter mit Faizan zusammenbleiben zu können.

Drei Monate nach der Zeremonie auf dem Standesamt klingelt Herr Zöllner vom Sonderermittlungsdienst des Ausländeramts zum ersten Mal bei ihr und besteht nicht nur auf einer Befragung, sondern auch auf einer Wohnungsbegehung. Er deutet an, dass sich Julia einer Straftat schuldig gemacht haben könnte und erklärt, dass die Vortäuschung einer ehelichen Lebensgemeinschaft zur Erlangung eines Aufenthaltstitels mit bis zu drei Jahren Haft geahndet wird.

69 Abschiebungen zum Geburtstag

Pünktlich alle drei Monate muss Faizan seine Duldung verlängern lassen. Er erwartet weder eine finanzielle Unterstützung noch sonst eine Leistung vom deutschen Staat. Faizan möchte nur mit seiner deutschen Ehefrau zusammen hier leben dürfen.

Die Ausländerbehörde schlägt ihm vor, die Bundesrepublik innerhalb von 30 Tagen freiwillig zu verlassen und dann bei der deutschen Botschaft in Pakistan ein Visum zur Wiedereinreise zu beantragen, um sein Verfahren in „geordnete Bahnen“ zu bringen.

Ein Flug um die Welt für eine geordnete Bahn. […] Von hier zu gehen, um hierbleiben zu können. Von hier weg und dann wieder zurück.

Das Risiko ist Julia und Faizan zu hoch. Sie gehen nicht auf den Vorschlag ein. Auch als seine Mutter in Pakistan einen Schlaganfall erleidet und stirbt, wagt Faizan es nicht, Deutschland zu verlassen, weil zu befürchten ist, dass er nie mehr zurückkehren darf.

Entsetzt lesen Julia und Faizan, wie der Bundesinnenminister Horst Seehofer sich über die Abschiebung von 69 Flüchtlingen nach Afghanistan zu seinem 69. Geburtstag am 4. Juli 2018 freut.

Als Faizan immer stärker abnimmt, ruft Julia einen Arzt, und der weist ihn sogleich ins Krankenhaus ein, wo eine massive Hyperglykämie diagnostiziert wird.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Die Verabschiebung

Einige Monate nach Faizans Mutter stirbt auch Julias Mutter.

Während Julia ihren verwitweten Vater besucht, holen Polizisten Faizan aus der Wohnung. Sie geben ihm gerade einmal fünf Minuten, um ein paar Sachen zu packen und erlauben ihm den Vorschriften gemäß ein einziges Telefongespräch. Faizan alarmiert seine Frau. Julia ruft den Rechtsanwalt an, aber an diesem Sonntagabend ist die Kanzlei unbesetzt. Auf der Polizeiwache bestätigt man ihr, dass Faizan Muhammad Amir gerade abgeschoben wird.

Julia eilt zum Rhein-Main-Flughafen. Bei der einzigen Maschine nach Islamabad sind weder Terminal noch Gate angegeben, und bei der Bundespolizei erklärt man ihr, dass der Gesuchte sich im streng abgeschotteten Abschiebebereich befinde, also eigentlich schon nicht mehr auf deutschem Boden. Julia darf nicht zu ihm.

Nach einer gut besuchten Lesung des erfolgreichen Buchautors Edgar Schenk aus einem Wohlfühl-Roman ruft Julias Kollegin Jeanette zu einer Demonstration vor der Stadtbibliothek auf. Dadurch werden die Medien auf den Fall aufmerksam, und Journalisten äußern sich kontrovers darüber. Julia wird zum Opfer eines Shitstorms, denn die meisten, die ihr schreiben, fordern konsequentere Abschiebungen und halten ihre Eheschließung mit dem Asylanten für dubios.

Wir sind. Wir sind die, die die anderen nicht sind – nicht sind, nicht sein dürfen und nie sein werden.

Pakistan

Faizans Familie betrachtet seine erzwungene Rückkehr nach Pakistan als Scheitern.

Mit einem Termin zur Beantragung eines Visums in der deutschen Botschaft ist in eineinhalb Jahren zu rechnen, und dann – so heißt es – gelte noch eine Einreisesperre von 30 Monaten.

Anfang 2020, kurz bevor die Pandemie Deutschland erreicht, fliegt Julia für zehn Tage zu Faizan nach Pakistan. Dort sind die Verhältnisse umgekehrt: Sie ist fremd und gilt in dieser Gesellschaft als Eigentum des Ehemanns, der ihr sogar die Ausreise verbieten könnte.

Zunächst hält Julia mit ihrem Vater und ihrem Bruder Kontakt, aber dann kommt sie nicht mit der gebuchten Maschine zurück, und weder Johannes noch der 87-jährige Vater hören noch etwas von ihr. Der Vater wendet sich an das Auswärtige Amt, aber es dauert lang, bis er nach vielen vergeblichen Versuchen jemanden ans Telefon kriegt, der ihm zuhört und verspricht, die deutsche Botschaft in Pakistan einzuschalten.

Wie vom Vater gewünscht, fliegt Johannes im Sommer nach Islamabad, um seine verschollene Schwester zu suchen.

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In seinem Roman „Die Verabschiebung“ veranschaulicht Joachim Zelter, was es bedeuten kann, in Deutschland auf Asyl zu hoffen, wenn öffentliche Meinung und Populismus, Bürokratie und spitzfindig ausgelegte Gesetzesparagrafen einer humanen Lösung entgegenstehen. Die beiden Hauptfiguren – der pakistanische Flüchtling Faizan und seine deutsche Ehefrau Julia – erwarten keine finanzielle Unterstützung vom Staat und auch keine andere soziale Leistung, sondern wollen nur gemeinsam hier leben dürfen. Aber ihre jahrelangen, kräftezehrenden Bemühungen erweisen sich am Ende als hoffnungslos.

Joachim Zelter beginnt „Die Verabschiebung“ mit dem Ende und entwickelt die Geschichte dann chronologisch. Dabei erleben wir das Geschehen weitgehend aus Julias Sicht. Zwischendurch wechselt Joachim Zelter zu Faizans Perspektive, kurz auch zum Blickwinkel von Julias Vater, und sowohl am Anfang als auch am Ende fungiert Julias Bruder Johannes als Protagonist.

Den Namen Julia assoziieren wir wohl nicht ganz zufällig mit der weiblichen Hauptfigur in der Shakespeare-Tragödie „Romeo und Julia“.

In „Die Verabschiebung“ gibt es kein dramaturgisches Auf und Ab zwischen Erfolgen und Rückschlägen, Konflikten und Lösungen, Höhen und Tiefen. Es geht immer nur in eine Richtung: zum Trostlosen. Vielleicht hätte Joachim Zelter die kurzen Momente der Hoffnung stärker betonen können, aber auch dann würden die Enttäuschungen und bösen Überraschungen überwiegen. Leider müssen wir davon ausgehen, dass Joachim Zelter in „Die Verabschiebung“ nicht maßlos übertreibt, sondern ein (fiktives) Asylverfahren realistisch darstellt. Das ist erschütternd.

Joachim Zelter wurde am 26. August 1962 in Freiburg im Breisgau geboren und ist ein Nachfahre des Musikers Carl Friedrich Zelter (1758 – 1832). Von 1982 bis 1989 studierte er Anglistik und Politikwissenschaft in Tübingen. 1993 promovierte Joachim Zelter über „Sinnhafte Fiktion und Wahrheit, Untersuchungen zur ästhetischen und epistemologischen Problematik des Fiktionsbegriffs im Kontext europäischer Ideen- und englischer Literaturgeschichte“. 1995/96 dozierte er an der Yale University und im Anschluss daran bis 1997 wie zuvor auch schon an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Im Jahr darauf debütierte er mit dem Roman „Briefe aus Amerika“ als Schriftsteller. Weitere Romane, Erzählungen, Hörspiele und Bühnenwerke folgten.

Sein Roman „Die Verabschiebung“ gehört zu den ersten Bänden der im März 2021 vom Alfred Kröner Verlag gestarteten „Edition Klöpfer“ mit deutschsprachiger Gegenwartsliteratur, für die Hubert Klöpfer verantwortlich ist.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2021
Textauszüge: © Alfred Kröner Verlag

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Ihren Roman "Das Mädchen auf der Himmelsbrücke" entwickelt Eeva-Liisa Manner konsequent aus der kindlichen Perspektive der Hauptfigur. Dazu gibt es keine Korrekturen oder Kommentare. Gerade deshalb handelt es sich um einen märchenhaft-poetischen, feinfühligen und sehr berührenden Roman.
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