Klaus Gietinger : Eine Leiche im Landwehrkanal

Eine Leiche im Landwehrkanal
Originalausgabe: Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung der Rosa L. Decaton Verlag, Mainz 1993 Erweiterte Neuausgabe: Verlag 1900, Berlin 1995 Eine Leiche im Landwehrkanal Die Ermordung Rosa Luxemburgs Überarbeitete Neuausgabe: Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg Hamburg 2009, ISBN: 978-3-89401-593-0, 190 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Klaus Gietinger nimmt an, dass Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit stillschweigendem Einverständnis des SPD-Politikers Gustav Noske ermordet wurden. Obwohl Kurt Vogel sich selbst bezichtigt haben soll, Rosa Luxemburg erschossen zu haben, ist Klaus Gietinger überzeugt davon, dass Hermann W. Souchon der Täter war. Dabei lässt er sich nicht davon beirren, dass Souchon bestritt, auf Rosa Luxemburg geschossen zu haben.
mehr erfahren

Kritik

Auch wenn man nicht jede einzelne Schlussfolgerung des Autors für zwingend und die Art der Darstellung für literarisch anspruchslos hält, muss man ihm Respekt für seine Arbeit zollen: Mit "Eine Leiche im Landwehrkanal" hat er entscheidend zur Aufhellung der Vorgänge am 15. Januar 1919 beigetragen.
mehr erfahren

Die im Ersten Weltkrieg zuletzt an der Westfront eingesetzte Eliteeinheit Garde-Kavallerie-Schützen-Division stand zwar unter dem Kommando des Generalleutnants Heinrich von Hofmann (1863 – 1921), wurde jedoch aufgrund seiner Herzkrankheit faktisch vom Ersten Generalstabsoffizier Hauptmann Waldemar Pabst (1881 – 1970) geführt.

Pabst, klein, eitel, ehrgeizig und machthungrig (Seite 12)

Als dieser die Nachricht von der Novemberrevolution in Berlin bekam, eilte er mit seinen Männern nach Berlin, um eine Räterepublik zu verhindern und mit „der Herrschaft der Minderwertigen“ (Waldemar Pabst 1934; hier: Seite 13) aufzuräumen. Am 30. November 1918 traf er auf dem Bahnhof Wildpark bei Potsdam ein. Pabst wandelte die kaiserliche Truppe in ein Freikorps um. Ihm unterstanden nun auch das Regiment Reinhard, die Marine-Eskadron Pflugk-Harttung und Einwohnerwehren, insgesamt etwa 50 000 Mann. Heinrich von Hofmann bzw. Waldemar Pabst unterstanden General Walther Freiherr von Lüttwitz (1859 – 1942), der als „Oberbefehlshaber in den Marken“ im Januar 1919 den „Spartakusaufstand“ in Berlin niederschlug. Das Stabsquartier richtete Waldemar Pabst am 15. Januar 1919 vormittags im Hotel Eden gegenüber dem Haupteingang des Zoos ein.

Pabst hielt vor allem Karl Liebknecht (1871 – 1919) und Rosa Luxemburg (1871 – 1919) für gefährlich. Bandenähnliche Gruppen suchten nach ihnen.

Niemand sorgte sich um die Legalität dieses Unterfangens. (Seite 19)

Fünf Männer der Wilmersdorfer Bürgerwehr drangen am Abend des 15. Januar 1919 in eine Wohnung ein, in der Siegfried und Wanda Marcusson gemeldet waren. (Wer ihnen den Tipp gab, wissen wir bis heute nicht.) Sie trafen einen Mann an, der behauptete, Marcusson zu sein, und eine Frau, die keinen Namen nannte. Es handelte sich um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Zwei Männer fuhren mit Karl Liebknecht zu ihrem Hauptquartier; die anderen drei bewachten Rosa Luxemburg in der Wohnung und nahmen dann auch noch Wilhelm Pieck (1876 – 1960) fest, der gegen 21 Uhr klingelte.

Als Waldemar Pabst erfuhr, dass man Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg gefasst hatte, soll er zunächst Gustav Noske (1868 – 1946) angerufen haben, den Volksbeauftragten für das Heer und die Marine (und späteren Reichswehrminister).

Pabst hat mir […] versichert, dass er vor seiner Entscheidung Noske angerufen habe. Dieser habe ihn aufgefordert, die Genehmigung des Generals von Lüttwitz zur Erschießung der beiden Gefangenen einzuholen, und nach der Einwendung Pabsts, ‚die werde er nie bekommen‘, mit den Worten reagiert, ‚dann müsse er selbst verantworten, was zu tun sei‘. (Otto Kranzbühler in einem Brief vom 12. Januar 1993 an Klaus Gietinger; hier: Seite 104)

Klaus Gietinger, der Gustav Noske als „eine präfaschistische Figur“ (Seite 112) bezeichnet, ist offenbar überzeugt davon, dass der Volksbeauftragte insgeheim das weitere Vorgehen billigte (Seite 113).

Nach dem Telefonat schickte Waldemar Pabst seinen Adjutanten Hauptmann Heinz von Pflugk-Harttung (1890 – 1920) zu dessen Bruder Kapitänleutnant Horst von Pflugk-Harttung (1889 – 1967), dem Kommandanten der Marine-Eskadron. Die beiden Brüder kamen mit Leutnant Hermann W. Souchon (1894 – 1982) und weiteren drei von diesem ausgewählten Offizieren gegen 21.45 Uhr ins Hotel Eden – kurz nachdem man Karl Liebknecht dorthin gebracht hatte und eine Viertelstunde, bevor Rosa Luxemburg und Wilhelm Pieck eintrafen.

Alle wussten, was gespielt wurde, und was es zu tun gab: Luxemburg und Liebknecht zu töten.
Im Eden-Hotel angekommen, besprachen sich Souchon, Schulze, Stiege, von Ritgen, die beiden Pflugk-Harttungs, Rühle von Lilienstern und Pabst im ‚kleinen Saal‘, neben dem ‚kleinen Salon‘, in dem Liebknecht saß. Dies geschah, kurz bevor Rosa Luxemburg ins Eden eingeliefert wurde […] Von Pflugk-Harttung, Stiege, Schulze und von Ritgen sollten Liebknecht im Tiergarten ‚auf der Flucht‘ erschießen. Für die hinkende Rosa Luxemburg konnte dieser Weg kaum gewählt werden, also entschloss sich Pabst, sie von einem Unbekannten ‚aus der Menge heraus‘ töten zu lassen. (Seite 109)

Gegen 22.45 Uhr wurde Karl Liebknecht durch einen Nebenausgang des außen weiträumig abgeriegelten Hotels hinausgeführt und in den Fond eines bereitstehenden Autos gesetzt. Offiziell sollte er ins Gefängnis in Moabit gebracht wrden. Klaus Gietinger zählt die weiteren Insassen namentlich auf: den Fahrer und drei Offiziere. Außerdem stand links und rechts je ein Soldat auf dem Trittbrett.

Am Hauptportal des Hotels Eden wartete der Husar Otto Wilhelm Runge (1875 – 1945), ein gelernter Schweißer, der im Auftrag eines nicht in Pabsts Pläne eingeweihten Hauptmanns verhindern sollte, dass Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg lebend weggebracht wurden. Als Runge merkte, dass man Liebknecht zu einem Seitenausgang brachte, lief er um das Gebäude herum und versetzte dem bereits im Auto sitzenden Sozialistenführer einen kräftigen Hieb mit dem Kolben seines Karabiners und verletzte ihn am Kopf. Vor dem zweiten Stoß konnte Liebknecht sich wegducken. Im nächsten Augenblick fuhr der Wagen an. Ein Mann, dessen Namen Klaus Gietinger mit Edwin von Rzewuski angibt, soll noch kurz aufgesprungen sein und Liebknecht mit der Faust ins Gesicht geschlagen haben.

Rosa Luxemburg hatte nach einer kurzen „Vernehmung“ durch Waldemar Pabst ihren bei der Festnahme heruntergerissenen Rocksaum angenäht und in Goethes „Faust“ gelesen. Um 23.40 Uhr wurde sie von dem dreißigjährigen Oberleutnant a. D. Kurt Vogel über die Treppe hinunter in die Hotelhalle und zur Drehtür geführt. Otto Wilhelm Runge wartete inzwischen wieder vor dem Haupteingang. Sobald Rosa Luxemburg ins Freie trat, rammte er ihr den Gewehrkolben gegen den Kopf. Sie stürzte zu Boden, und Runge hieb noch einmal auf sie ein, bevor die anderen Rosa Luxemburg ins Auto zerrten. Den Schuh, den sie dabei verlor, hob ein Soldat auf und behielt ihn als Trophäe. Ein Wachoffizier stahl aus der zu Boden gefallenen Handtasche einen Brief von Clara Zetkin. (Er verkaufte ihn 1969 für mehrere hundert D-Mark.)

[…] stand unten vor dem Eden-Hotel ein Posten, ein Husar Runge. Der Mann hat, wie Frau Luxemburg ‚rauskam, ihr mit dem Kolben über den Schädel geschlagen. Das stand nicht in meinem „Programm“. Das hat der Mann, bestochen durch einen Herrn meines Stabes – der längst nicht mehr lebt, ich könnte Ihnen sonst den Namen sagen, der Eisenbahnreferent bei mir im Stabe war -, und der hat gedacht: Na, das wird wohl wieder so gehen, wie es mit den anderen gegangen ist, die werden wir schnell wieder lossein, und die Schweinerei beginnt von neuem. Der konnte sich ja keinen Begriff machen, das war ein Oberleutnant, und da hat er diesen Husaren Runge mit einer gewissen Geldsumme bestochen, irgendwie den Liebknecht und die Luxemburg umzubringen.
(Waldemar Pabst in einem Interview, „Der Spiegel“, 18. April 1962)

Klaus Gietinger beschäftigt sich mit der Frage, wer die anderen fünf Insassen des Fahrzeugs waren, mit dem Rosa Luxemburg weggebracht wurde (Seiten 30, 80, 111). Auf dem linken Trittbrett stand außerdem ein Jäger. Wieder – so Gietinger weiter – war Edwin von Rzewuski zur Stelle und schlug die bewusstlose Parteiführerin zweimal ins Gesicht. Nach 40 Metern Fahrt fiel ein Pistolenschuss, der vor dem linken Ohr ins Rosa Luxemburgs Kopf eindrang und auf der anderen Seite etwas tiefer wieder austrat.

Am nächsten Tag stand in der Zeitung, Karl Liebknecht habe eine Autopanne im Tiergarten zu einem Fluchtversuch genutzt und sei daraufhin erschossen worden. Das war ebenso falsch wie die Behauptung, Rosa Luxemburg sei von der aufgebrachten Menge vor dem Hotel Eden beinahe gelyncht worden und ein Unbekannter habe auf sie geschossen. Unterwegs sei der Wagen angehalten worden, und eine Passantengruppe habe die Revolutionärin in ihre Gewalt gebracht.

Waldemar Pabst, Heinrich von Hofmann und Walther Freiherr von Lüttwitz wurden am Morgen des 16. Januar zu einer Unterredung mit den Volksbeauftragten – also der von Friedrich Ebert geführten Regierung – in die Reichskanzlei gerufen. Dabei verständigten sich die Teilnehmer darüber, die beiden Bluttaten in einem kriegsgerichtlichen Verfahren zu bearbeiten.

Kriegsgerichtsrat Paul Jorns (1871 – 1942), der schließlich mit den Ermittlungen betraut wurde, ließ erst einmal Kurt Vogel und Horst von Pflugk-Harttung, die man inzwischen verhaftet hatte, wieder frei.

Am 12. Februar 1919 veröffentlichte „Die Rote Fahne“ auf der Titelseite einen Artikel mit der Schlagzeile „Der Mord an Liebknecht und Luxemburg. Die Tat und die Täter“. Der Autor, Rosa Luxemburgs Vertrauter Leo Jogiches (der am 10. März 1919 „auf der Flucht“ erschossen wurde), widersprach der offiziellen Version und schilderte, was er über die beiden Morde herausgefunden hatte.

Obwohl Kurt Vogel am 18. Februar gestand, er habe Rosa Luxemburgs Leiche in den Landwehrkanal werfen lassen, wurde er erst zwei Tage später verhaftet.

Im April 1919 wurde Otto Wilhelm Runge an der dänischen Grenze festgenommen, wo er sich als Krankenwärter mit dem Namen Dünnwald ausgegeben hatte.

Am 8. Mai 1919 begann in Moabit vor dem Kriegsgericht der Garde-Kavallerie-Schützen-Division ein „Camouflage-Prozess“ (Seite 7), eine „Justizposse, die als einer der großen Justizskandale unseres Jahrhunderts bezeichnet werden muss“ (Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biographie, Düsseldorf 1987, Seite 309). Besonders widersprüchlich fielen die Aussagen darüber aus, was in der Limousine geschehen war, in der man Rosa Luxemburg weggebracht hatte. Da man ihre Leiche noch nicht gefunden hatte, konnte nicht geklärt werden, ob sie durch die Hiebe mit dem Gewehrkolben oder den folgenden Pistolenschuss getötet worden war. Hintermänner und Drahtzieher standen ohnehin nicht vor Gericht. Am Ende wurden nur zwei der Angeklagten für schuldig befunden: Das Gericht verurteilte Otto Wilhelm Runge wegen versuchten Totschlags zu zwei Jahren Haft. Kurt Vogel, der beschuldigt worden war, den Pistolenschuss auf Rosa Luxemburg abgegeben zu haben, musste nur ins Gefängnis, weil er die Leiche beiseitegeschafft hatte. Der Schuss – so das Gericht – wurde möglicherweise nicht von ihm, sondern von einem Unbekannten abgegeben.

Nur Otto Wilhelm Runge verbüßte seine Strafe.

Kurt Vogel wurde am 17. Mai 1919 im Gefängnis Moabit von einem Mann abgeholt, der sich als „Leutnant Lindemann“ auswies und eine angeblich von Kriegsgerichtsrat Paul Jorns ausgestellte Bescheinigung vorwies, derzufolge er den Häftling übernehmen sollte. Mit einem von der Passstelle des Kriegsministeriums ausgestellten Ausweis auf den Namen Kurt Velsen floh Vogel in die Niederlande.

Der Fluchthelfer Vogels hieß Canaris. (Seite 64; vgl. auch Seite 112)

Klaus Gietinger geht davon aus, dass Kurt Vogel damit drohte, er werde aussagen, auf Befehl gehandelt zu haben. Der Kommandant des Gefängnisses soll dies weitergegeben haben. Daraufhin – so Gietinger – habe Wilhelm Canaris (1887 – 1945) die falschen Papiere besorgt und Vogel befreit. Der Kapitänleutnant, ein Adjutant von Gustav Noske, hatte in dem Prozess vor dem Kriegsgericht der Garde-Kavallerie-Schützen-Division als Richter fungiert. (Von 1933 bis 1944 leitete Wilhelm Canaris die Abwehr.)

Der Schleusenarbeiter Gottfried Knepel entdeckte am 31. Mai 1919 in der Nähe der Freiarchenbrücke eine verweste Frauenleiche im Landwehrkanal. Es handelte sich um die tote Rosa Luxemburg. Nach der Obduktion am 3. Juni stand fest, dass man sie erschossen hatte.

Insofern besteht die höhere Wahrscheinlichkeit dafür, dass die aller Wahrscheinlichkeit nach durch den Schuss bewirkte schwere Zertrümmerung der Schädelgrundfläche den sofortigen Tod herbeigeführt hat, als die vorangegangenen Kolbenschläge und es spricht die Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Schuss Frau Luxemburg noch lebend getroffen und getötet hat.
(Faksimile des Obduktionsbefundes: Seite 71)

Im Mai 1921 fiel ein Leutnant a. D. auf, der eine goldene Uhr feilbot, die Rosa Luxemburg gehört hatte: Ernst Krull. Der Staatsanwalt Ortmann konstatierte am 13. Mai:

Krull steht im dringenden Verdacht, die bisher nicht ermittelte Militärperson zu sein, die nach der Abfahrt des Autos der Frau Luxemburg vom Eden-Hotel auf das Trittbrett des Autos aufgesprungen, eine Strecke mitgefahren ist, auf der Fahrt den Schuss auf Frau Luxemburg abgegeben hat und dann vom Auto herabgesprungen ist.“ (hier: Seite 76)

Krull gestand zwar, eine Woche vor der Ermordung Rosa Luxemburgs deren Uhr und Abiturzeugnis bei einer „Hausdurchsuchung“ gestohlen zu haben und behauptete, ein Stück auf dem Trittbrett der Limousine mitgefahren zu sein, aber keiner der erneut befragten Insassen des Fahrzeuges konnte sich an ihn erinnern. Offenbar handelte es sich nicht um den Gesuchten.

Einige Monate später geriet ein anderer Mann in den Verdacht, der Mann zu sein, von dem angenommen wurde, dass er auf den Wagen aufsprang und Rosa Luxemburg erschoss: Hermann W. Souchon. Wie bereits erwähnt, hatte der Leutnant zur Marine-Eskadron Pflugk-Harttung gehört und war am 15. Januar 1919 im Hotel Eden gewesen.

Als Souchon erfuhr, dass man nach ihm suchte, meldete er sich im Februar 1922 aus Helsinki, wo er inzwischen als Bankkaufmann tätig war. Er kündigte an, in gut einem Jahr nach Deutschland zu kommen. Daraus wurde allerdings nichts. Erst im Juni 1925 konnte Hermann Souchon in Berlin vernommen werden. Dabei sagte er aus, dass er eigentlich Karl Liebknecht begleiten hätte sollen, aber in dem Durcheinander nicht mehr rechtzeitig in den Wagen gekommen sei. Daraufhin habe er sich zurückgemeldet und sei zunächst für die Bewachung Rosa Luxemburgs und dann für ihren Transport ins Gefängnis Moabit eingeteilt worden. Im Auto habe er schräg vor Rosa Luxemburg, neben Kurt Vogel und hinter dem Fahrer (Rechtssteuerung) gesessen. Unterwegs habe er einen Schuss gehört aber nicht beobachtet, wer ihn abgab. Obwohl er bei seiner Vernehmung am 29. März 1919 behauptet hatte, den Abtransport Rosa Luxemburgs nicht gesehen zu haben, konnte er ungehindert nach Helsinki zurückreisen. Erst einige Monate später wollte man ihn noch einmal vernehmen. Wieder erklärte Hermann Souchon sich dazu bereit, doch er meldete sich nicht mehr – bis die Staatsanwaltschaft das Verfahren am 18. Juli 1932 einstellte.

Am 30. November 1959 sprach Günter Nollau (1911 – 1991), der damalige stellvertretende Leiter (und spätere Präsident) des Bundesamtes für Verfassungsschutz, mit Waldemar Pabst, der sich von 1920 bis 1930 und von 1943 bis 1955 im Ausland aufgehalten hatte und nun in Düsseldorf lebte. Bei der Unterredung soll Pabst behauptet haben, er habe nicht Kurt Vogel, sondern Hermann Souchon den Befehl zur Liquidierung Rosa Luxemburgs erteilt. Günter Nollau zitiert seinen Gesprächspartner:

Die Rolle, die wütende Volksmenge darzustellen, war dem Marineleutnant Souchon zugedacht, der an einer verabredeten Stelle auf den Kraftwagen wartete, mit dem Rosa Luxemburg weggebracht wurde. Der Kraftwagen hielt an, und Souchon schoss auf die noch bewusstlose Luxemburg (hier: 85)

Am 5. Januar 1962 erklärte Waldemar Pabst in der Zeitschrift „Das deutsche Wort“:

Dieser Entschluss zur Beseitigung der beiden verderblich wirkenden und gelehrigen Moskau-Schüler ist mir nicht leicht gefallen. (hier: Seite 87)

Daraufhin führten die Redakteure Hans Schmelz und Martin Virchow mit ihm ein Interview, das am 18. April 1962 in „Der Spiegel“ erschien.

Spiegel: Herr Pabst, Sie haben am 15. Januar 1919 die Kommunistenführer Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg umbringen lassen …
Pabst: … richten lassen …
Spiegel: … richten lassen?
Pabst: Ja.
[…]
Pabst: Die Sache war so: Wir waren die Macht im Staate und nicht die Volksbeauftragten. Diese sind gekommen am 24. Dezember [1918] und haben uns gebeten, herausgepaukt zu werden aus den Klauen der revolutionären Kräfte in Berlin: So war die Sache und nicht anders.

Der Historiker Joseph Wulf (1912 – 1974) entdeckte 1966 die verloren geglaubten Akten des Kriegsgerichts der Garde-Kavallerie-Schützen-Division aus den Jahren 1921 bis 1925 und machte sie Dieter Ertel zugängig, dem damaligen Leiter der Abteilung Dokumentarfilm des Süddeutschen Rundfunks, der daraufhin im Februar, Mai und Dezember 1966 Gespräche mit Waldemar Pabst führte und das Drehbuch für das Fernseh-Dokumentarspiel „Der Fall Liebknecht-Luxemburg“ schrieb, das am 14. und 15. Januar 1969 in zwei Teilen ausgestrahlt wurde.

Originaltitel: Der Fall Liebknecht-Luxemburg – Regie: Theo Mezger – Drehbuch: Dieter Ertel – Kamera: Horst Schalla – Darsteller: Edith Heerdegen, Richard Lauffen, Martin Benrath, Gert Westphal, Harry Buckwitz, Günther Jerschke, Alexander Kerst, Herbert Stass, Karl Walter Diess, Gerd Baltus, Jürgen Schmidt, Rolf-Dieter Groest, Günter Mack, Hubert Suschka, Ulrich Matschoss, Helmut Kircher, Friedrich G. Beckhaus, Peter Thom, Heinz Giese, Günter Glaser, Peter Chatel, Bernhard Dübe, Herbert Dubrow, Gernot Duda, Wilfried Elste, Gerhard Jersch, Klaus Krüger, Uwe-Jens Pape, Joachim Richert, Hans Christian Rudolph, Berndt Schauen u.a. – 1969

Zwei Monate nach der Sendung klagte Hermann Souchon gegen den SDR, den Intendanten Hans Bausch und Dieter Ertel wegen Verleumdung. Das Stuttgarter Landgericht urteilte am 12. Februar 1970 auf der Grundlage der Akten des Kriegsgerichts der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, offenbar ohne das damalige Verfahren zu hinterfragen und verlangte einen Widerruf in der „Tagesschau“.

Waldemar Pabst schrieb am 26. Juni 1969 in einem Brief:

Tatsache ist: Die Durchführung der von mir angeordneten Befehle […] ist erfolgt, und dafür sollten diese deutschen Idioten Noske und mir auf Knien danken […] Dass ich die Aktion ohne Noskes Zustimmung gar nicht durchführen konnte (mit Ebert im Hintergrund) und auch meine Offiziere schützen musste, ist klar. Aber nur ganz wenige Menschen haben begriffen, warum ich nie vernommen oder unter Anklage gestellt worden bin, und warum die kriegsgerichtliche Verhandlung so verlaufen ist, Vogel aus dem Gefängnis befreit wurde, usw. Als Kavalier habe ich das Verhalten der damaligen SPD damit quittiert, dass ich 50 Jahre lang das Maul gehalten habe über unsere Zusammenarbeit. Die Saukerle vom Spiegel, Stern hätten gerne herausbekommen, wer alles hinter unserer Aktion gestanden hat. (hier: Seite 105ff)

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Klaus Gietinger veröffentlichte im September 1992 in der „Internationalen wissenschaftlichen Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ einen Bericht über die Ermordung von Rosa Luxemburg und die Versuche, die Täter vor einer Strafverfolgung zu bewahren. Im Jahr darauf publizierte der Decaton-Verlag sein Buch „Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung der Rosa L.“ (109 Seiten). Eine erweiterte Ausgabe davon nahm 1995 der Verlag 1900 ins Programm (189 Seiten). Parallel zu der Biografie „Der Konterrevolutionär Waldemar Pabst. Eine deutsche Karriere“ von Klaus Gietinger (ISBN: 978-3-89401-592-3, 535 Seiten, 39.90 €) erschien im Januar 2009 in der Edition Nautilus die hier vorliegende überarbeitete Neuausgabe unter dem Titel „Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs“.

Minutiös schildert Klaus Gietinger zunächst, wie Rosa Luxemburg festgenommen und ermordet wurde. Dann beschäftigt er sich mit dem Gerichtsverfahren und der Befreiung von Kurt Vogel aus dem Gefängnis. Abschließend berichtet er, wie man in den Fünfziger- und Sechzigerjahren insbesondere durch Aussagen von Waldemar Pabst Neues über die Vorgänge von damals erfuhr.

Klaus Gietinger geht davon aus, dass die SPD-Führung unter Friedrich Ebert bei der Verhinderung einer Räterepublik mit den Militärs bzw. Freikorps zusammenarbeitete und Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit stillschweigendem Einverständnis des SPD-Politikers Gustav Noske ermordet wurden. Die Verbrechen verschärften die Feindschaft zwischen der SPD und der KPD, die es den beiden Parteien später unmöglich machte, ihren politischen Kampf gegen die Nationalsozialisten zu koordinieren. Obwohl Kurt Vogel sich selbst bezichtigt haben soll, Rosa Luxemburg erschossen zu haben, ist Klaus Gietinger überzeugt davon, dass nicht er, sondern Hermann W. Souchon der Täter war. Dabei lässt er sich nicht davon beirren, dass Souchon u. a. in einer eidesstattlichen Erklärung bestritt, auf Rosa Luxemburg geschossen zu haben.

Rosa Luxemburg wurde ins Auto geworfen wie ein Stück Vieh.
Der Wagen fuhr an, von Rzewuski sprang kurz auf, schlug die Bewusstlose und sprang wieder ab. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sprang dann nach weiteren 40 Metern Fahrt an der Ecke Kurfürstendamm / Nürnberger Straße Souchon, der dort im Dunkeln kurz gewartet hatte, auf das linke Trittbrett, beugte sich zur bewusstlosen Rosa Luxemburg, setzte ihr seine Mauserpistole, Kaliber 7,65 mm, an die linke Schläfe und drückte ab. (Seite 111)

Auch wenn man nicht jede einzelne Schlussfolgerung des Autors für zwingend und die Art der Darstellung für literarisch anspruchslos hält, muss man ihm Respekt für seine Arbeit zollen: Mit „Eine Leiche im Landwehrkanal“ hat er maßgeblich zur Aufhellung der Vorgänge am 15. Januar 1919 beigetragen. Dabei ist Klaus Gietinger (* 1955) kein Historiker, sondern Sozialwissenschaftler, Drehbuchautor und Regisseur.

Die Wahrheit über den Doppelmord – keiner hat sich um ihre Erforschung so verdient gemacht wie der Drehbuchautor und Regisseur Klaus Gietinger. (Volker Ullrich, „Die Zeit“, 15. Januar 2009)

Der 73 Seiten umfassende Anhang des Buches „Eine Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordung Rosa Luxemburgs“ von Klaus Gietinger besteht nicht nur aus Anmerkungen bzw. Quellenangaben und einem Namensregister, sondern außerdem aus einer Reihe von Dokumenten im Wortlaut und Kurzbiografien von fünfzehn Personen, die in die Vorgänge am 15. Januar 1919 verstrickt waren.

Wer sich ernsthaft mit der Ermordung von Rosa Luxemburg beschäftigt, wird um dieses Buch (und Klaus Gietingers Biografie „Der Konterrevolutionär Waldemar Pabst. Eine deutsche Karriere“) nicht herumkommen.

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Lutz Schulenburg

Rosa Luxemburg (Kurzbiografie)

Hans Christian Andersen - Märchen
Hans Christian Andersen bearbeitete Volksmärchen, bis sie seinen literarischen Ansprüchen genügten, wie gesprochen klangen und von Kindern verstanden werden konnten. So entstanden zauberhafte romantische Kunstmärchen.
Märchen