Siegfried Lenz : Deutschstunde

Deutschstunde
Deutschstunde Erstausgabe: Hoffmann und Campe 1968
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Der beflissene Dorfpolizist Jens Ole Jepsen setzt das 1943 von den Nationalsozialisten gegen den Kunstmaler Max Ludwig Nansen verhängte Berufsverbot durch, obwohl dieser bis zu diesem Augenblick sein Freund gewesen war. Auch nach dem Krieg hält er die Verfolgung des Künstlers für seine Pflicht. Sein jüngerer Sohn stellt sich allerdings auf die Seite des Verfolgten ...
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Kritik

Am Beispiel eines Dorfpolizisten, der glaubt, ohne Rücksicht auf Elternliebe, Freundschaft und Individualität seine Pflicht tun zu müssen, prangert Siegfried Lenz die unreflektierte Autoritätsgläubigkeit eines Mitläufers an. "Deutschstunde" ein Plädoyer für das Gewissen, die Eigenverantwortung und die kritische Hinterfragung von Autoritäten.
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Siggi Jepsen, Jahrgang 1933, befindet sich 1954 in einem Internat für schwer erziehbare bzw. straffällig gewordene Jugendliche auf einer Elbeinsel bei Hamburg. Eines Tages schreibt die Klasse einen Deutschaufsatz über „Die Freuden der Pflicht“. Siggi fühlt sich von den auf ihn einstürmenden Erinnerungen so überwältigt, dass er nicht weiß, wo er anfangen soll und trotz größter Anstrengung keine Zeile zu Papier bringt.

[Der Deutschlehrer] Julius Korbjuhn konnte meine Schwierigkeiten nicht einsehen, glaubte mir nicht die Qual des Beginnens, konnte sich einfach nicht vorstellen, dass der Anker der Erinnerung nirgendwo fasste, die Kette straffte, sondern nur rasselnd und polternd, bestenfalls Schlamm aufwirbelnd über den tiefen Grund zog, sodass keine Ruhe eintrat, kein Stillstand, der nötig ist, um ein Netz über Vergangenes zu werfen.

Damit Siggi den versäumten Aufsatz nachholt, wird er allein in einem Zimmer eingesperrt. Aus einem inneren Zwang heraus schreibt er nun ein Heft nach dem anderen voll.

Siggis Vater Jens Ole Jepsen, der beflissene Dorfpolizist von Rugbüll, setzte das 1943 von den Nationalsozialisten gegen den Kunstmaler Max Ludwig Nansen in Bleekenwarf verhängte Berufsverbot stur durch, obwohl dieser bis zu diesem Augenblick sein Freund gewesen war und ihn einmal vor dem Ertrinken im Hafenbecken in Glüserup gerettet hatte. Befehl ist Befehl!

„[…] ich frage nicht, was einer gewinnt dabei, wenn einer seine Pflicht tut, ob es einem nützt oder so. Wo kämen wir hin, wenn wir uns bei allem fragten: und was kommt danach? Seine Pflicht, die kann man doch nicht nach Laune tun […]“

„Wer seine Pflicht tut, der braucht sich keine Sorgen zu machen – auch wenn die Zeiten sich einmal ändern sollten.“

Für Max Ludwig Nansen war blinde, unkritische Pflichterfüllung ein Gräuel; als Richtschnur eines Handelns akzeptierte er nur sein Gewissen.

„[…] es kotzt mich an, wenn ihr von Pflicht redet.“

„Pflicht, das ist für mich nur blinde Anmaßung.“

Nicht erst durch den Verstoß gegen das Malverbot entwickelte Nansen sich zum Opponenten gegen das Hitler-Regime. Anfangs war er zwar von der Bewegung mitgerissen worden, aber schon im Jahr nach Hitlers Machtergreifung hatte er sich gegen den Verlust der individuellen Freiheit in diesem Staat aufgelehnt und einen Posten an der staatlichen Kunstschule abgelehnt – wegen einer angeblichen Braunallergie. Nansen konnte nicht mit dem Malen aufhören, denn es war seine Berufung. Jepsen, der durch die Auseinandersetzung immer stärker die totalitäre Ideologie der Nationalsozialisten verinnerlichte, zeigte ihn wegen des Verstoßes gegen das Malverbot an. Die Gestapo holte Nansen daraufhin ab, aber er kam einige Tage später wieder zurück.

Siggi war erst zehn Jahre alt, als sein Vater das Malverbot gegen Nansen verhängte, aber er erlebte den Konflikt intensiv mit. Statt seinen Vater als Spitzel bei der Durchsetzung des Malverbots zu unterstützen, sympathisierte er mit Max Ludwig Nansen und versteckte einige der Gemälde vor seinem Vater in einer verfallenen Mühle, seinem Zufluchtsort.

Als sein älterer Bruder Klaas nach einer Selbstverstümmelung desertierte, lehnten die Eltern es ab, ihn bei sich aufzunehmen. Siggi half seinem Bruder. Aus Angst vor der Entdeckung flüchtete Klaas ins Moor, wurde aber von seinem Vater an die Gestapo verraten. (Nach dem Krieg und seiner Entlassung aus britischer Kriegsgefangenschaft zog Klaas mit Nansens Tochter Jutta zusammen nach Hamburg.)

Gegen Ende des Krieges gruben sich Jens Ole Jepsen und der Vogelwart in der Nähe der Mühle ein, um die Straße zu verteidigen. Der Polizist bestand darauf, dass auch Max Ludwig Nansen bei ihnen war, damit er ihn kontrollieren konnte. Am Abend ließ der Maler sich allerdings nicht davon abhalten, nach Hause zu gehen. Auch die anderen beiden Männer rückten ab – sodass zwei britische Panzerwagen den Ort kurz darauf kampflos besetzen konnten.

Der Krieg ging zu Ende, Siggis Vater verlor das Amt des Dorfpolizisten und das Malverbot der Nationalsozialisten galt längst nicht mehr, aber Jens Ole Jepsen hielt es noch immer für seine Pflicht, Max Ludwig Nansen zu verfolgen. Als die Mühle brannte und die von Siggi dort versteckten Gemälde verbrannten, verdächtigte er seinen Vater als Brandstifter. Er glaubte, auch die übrigen Bilder des Malers im Feuer zu sehen. Wie unter Zwang stahl Siggi Gemälde Nansens aus einer Ausstellung und versteckte sie. Als Bilderdieb überführt, wurde er in die Besserungsanstalt auf der Elbinsel gebracht.

Dort beschäftigt sich der Psychologiestudent Wolfgang Mackenroth mit ihm und schreibt an einer Diplomarbeit mit dem Titel „Kunst und Kriminalität, dargestellt am Fall des Siggi J.“

Die Strafarbeit zwingt Siggi dazu, sich mit den Erlebnissen und seiner eigenen Rolle von damals auseinanderzusetzen. Er kommt zu dem Schluss, dass man ihn stellvertretend für seinen Vater bestraft hat und dass die Zeit keine psychischen Verletzungen heilt.

Schließlich lässt Direktor Himpel Siggi rufen und kündigt ihm eine vorzeitige Entlassung an. Was Siggi Jepsen in der wiedergewonnenen Freiheit tun wird, bleibt offen.

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Am Beispiel eines Dorfpolizisten, der glaubt, ohne Rücksicht auf Elternliebe, Freundschaft und Individualität seine Pflicht tun zu müssen und dadurch zum willfährigen Werkzeug der Nationalsozialisten wird, prangert Siegfried Lenz die unreflektierte Autoritätsgläubigkeit eines Mitläufers an. Aber auch der Künstler, der sich nur seinem Gewissen verpflichtet fühlt und gegen staatliche Willkür aufbegehrt, ist nicht wirklich frei: Er kann nicht anders, als trotz des Verbots weiter zu malen und dabei das bloßzustellen, was er in seiner Umwelt wahrnimmt. Unfrei ist auch der selbstlos handelnde Junge, der es für seine Aufgabe hält, die Bilder des Malers vor der Zerstörung zu retten. Dennoch ist „Deutschstunde“ ein Plädoyer für das Gewissen, die Eigenverantwortung und die kritische Hinterfragung von Autoritäten. Außerdem verdeutlicht Siegfried Lenz an diesem Beispiel, dass ein Verständnis der Gegenwart erst durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit möglich ist.

„Deutschstunde“ ist aus der Sicht Siggi Jepsens geschrieben, der als Einundzwanzigjähriger über zurückliegende Vorgänge nachdenkt, bei denen er Zeuge, Täter und Opfer war. Siggis subjektive Perspektive wird durch die objektivere des Psychologen Wolfgang Mackenroth ergänzt.

Die Figur des Künstlers Max Ludwig Nansen weist Parallelen zu dem expressionistischen Maler Emil Nolde (1867 – 1956) auf, der unter dem bürgerlichen Namen Emil Hansen in Nolde bei Tondern in Nordschleswig geboren wurde. Die Nationalsozialisten verfemten seine Gemälde als „entartete Kunst“ und erteilten ihm 1941 ein Berufsverbot.

Die Auflage des Romans „Deutschstunde“ überschritt Mitte der Siebzigerjahre die Millionenmarke.

Peter Beauvais adaptierte den Roman 1971 in einem zweiteiligen Fernsehfilm.

Deutschstunde – Regie: Peter Beauvais – Drehbuch: Diethard Klante – Kamera: Jost Vacano – Schnitt: Barbara Herrmann – Darsteller: Jens Weisser (Siggi mit 19), Andreas Poliza (Siggi mit 10), Wolfgang Büttner (Max Nansen), Arno Assmann (Jens Jepsen), Irmgard Först (Gudrun Jepsen), Edda Seippel (Ditte Nansen) u. a.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002 / 2004
Textauszüge: © Hoffmann und Campe

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