Jurek Becker : Amanda herzlos

Amanda herzlos
Amanda herzlos Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1992 ISBN: 3-518-40474-1, 384 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 1994 ISBN: 3-518-38795-2, 384 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Drei Männer erzählen unabhängig voneinander über ihre Ehefrau bzw. Lebensgefährtin Amanda. Der erste schreibt seinem Scheidungsanwalt. Der letzte führt ein Tagebuch. Der mittlere, ein Schriftsteller, versucht eine verloren gegangene autobiografische Novelle über seine sieben Jahre mit Amanda zu rekonstruieren und vergleicht die Handlung immer wieder mit den wahren Begebenheiten. – Nebenbei erfahren wir einiges über den Alltag in der DDR.
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Kritik

Die Titelfigur lernen wir in dem kunstvoll aufgebauten Roman "Amanda herzlos" nur durch Äußerungen ihrer drei Lebenspartner kennen. Jurek Becker erzählt feinfühlig und nuanciert, mit einem ironischen Unterton, unspektakulär und ohne emotionale Ausbrüche.
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Die Scheidung

Der Ostberliner Sportreporter Ludwig Weniger schreibt einen Brief an seinen Scheidungsanwalt, um ihm Argumente für die bevorstehende Verhandlung zu liefern.

Ludwig lernte die Zahnarzttochter Amanda Zobel vor drei Jahren in der Kantine des Zeitungsverlages kennen, für den er tätig ist. Nach ihrem abgebrochenen Studium hatte sie sich um eine feste Anstellung bei der Redaktion beworben, allerdings nur die Zusage erhalten, dass man sie hin und wieder als freie Mitarbeiterin beschäftigen würde. Ein Jahr später heirateten Ludwig und Amanda. Vor zwei Jahren bekamen sie einen Sohn: Sebastian.

Bei Amanda handele es sich um eine Einzelgängerin, schreibt Ludwig. Sie habe auch nur eine einzige Freundin: Lucie Capurso. Die enge Beziehung der beiden gleichaltrigen Frauen reicht bis in die Kindergartenzeit zurück. Als achtzehnjährige Schülerin brachte Amanda den Physiklehrer Nowatzki dazu, sich im dunklen Hausflur mit dem Reißverschluss ihres Rocks abzumühen. Da kam Lucie verabredungsgemäß dazu, schaltete des Licht im Treppenhaus ein – und brauchte sich von diesem Augenblick an trotz mangelhafter Kenntnisse keine Sorgen mehr um ihre Physiknote zu machen. Ihren italienischen Nachnamen verdankt Lucie einem Regieassistenten, mit dem sie neunzehn Jahre lang verheiratet war. Ihre Tochter Soja hält Ludwig für „eine perfekte Terroristin im Alter von fünf Jahren“ (Seite 34).

Während Ludwig sich längst mit den politischen Gegebenheiten abgefunden hat, verhehlt Amanda ihre kritische Einstellung gegenüber dem Regime nicht. Deshalb bekam sie von der Redaktion immer weniger Aufträge. Ludwig unterstellt Amanda dabei aber auch eine Absicht:

Nach meiner Überzeugung handelt es sich um kaltblütig herbeigeführte Arbeitslosigkeit; nicht allein das Beharren auf Prinzipien steckt dahinter, sondern auch Faulheit. Ich habe gelesen, dass sich manche Männer im Krieg eigenhändig verstümmelten, um nicht eingezogen zu werden – etwa so sollte man sich Amandas Radikalisierung erklären. (Seite 32)

Sehr zum Missfallen ihres Ehemanns schrieb Amanda an einem Roman und stand offenbar über eine Kontaktperson namens Katharina Mangold mit einem westdeutschen Verlag in Verbindung. Als Ludwig vom Redaktionsspitzel der Stasi darauf angesprochen wurde, lud er ihn zum Abendessen ein, damit er Amanda ins Gewissen reden konnte. Dabei erfuhr Ludwig auch, dass seine Frau heimlich ein Konto in Hamburg hatte.

Einmal, als er nach Hause kam, saß der Schriftsteller Fritz Hetmann mit Amanda im Wohnzimmer.

Sagt Ihnen der Name Fritz Hetmann etwas? An einem Nachmittag komme ich von der Arbeit, wer sitzt in meinem Wohnzimmer? Fritz Hetmann. In meinen Augen ist er einer jener Schriftsteller, die aus ihrer Feindseligkeit gegenüber unserem Staat einen Beruf gemacht haben, und zwar einen einträglichen […] Amanda stellte uns auch noch mit einem Gesicht vor, als müsste ich glücklich sein über so hohen Besuch. Sebastian saß auf Hetmanns Schoß und spielte mit seiner seidenen Krawatte, ich bitte Sie, was hat mein Sohn auf dem Schoß dieses Menschen zu suchen? Auf dem Tisch lag eine wichtigtuerische Pralinenschachtel, natürlich aus dem Westen. Mir ist bis heute nicht klar, warum ein bekannter Schriftsteller, nennen wir ihn so der Einfachheit halber, der sich bereit erklärt, mit einer jungen Frau über deren Texte zu reden, Pralinen mitbringt. Dazu gleich einen halben Zentner […]
Sie muss die ganze Welt verrückt gemacht haben mit ihrer Romanschreiberei. (Seite 98f)

Im Lauf der Zeit wurde ihm Amanda immer fremder, und schließlich warf sie ihm vor, er habe sie noch kein einziges Mal zum Orgasmus gebracht.

Vor zwei Wochen sei er betrunken nach Hause gekommen, gesteht Ludwig seinem Anwalt, und habe versucht, Amanda zu vergewaltigen. Sie schlug ihm eine Nachttischlampe aus Messing auf den Kopf und ließ ihn liegen. Dann holte sie Sebastian aus dem Bett, fuhr zu ihren Eltern und reichte die Scheidung ein.

Ein heikler Punkt ist das Kind. Ich will offen zu Ihnen sein: Ich will den Jungen nicht haben. Ich kann ihn nicht nehmen. Wie sollte ein alleinstehender Mann, dazu in meinem Beruf, mit einem Kind leben? Dass ich bereit bin, meinen gesetzlichen Pflichten nachzukommen, versteht sich von selbst […] Das Peinliche besteht nun darin, dass ich zu Amanda gesagt habe, ich würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den Jungen zu behalten. Was heißt gesagt, ich habe es ihr ins Gesicht geschrien, mehr als nur einmal […] Und nun verlässt sie mich, und ich will nicht klein beigeben. Mein Bedarf an Demütigungen ist gedeckt. Mit einem Wort – ich möchte vor Gericht so tun, als wollte ich Sebastian um alles in der Welt behalten, gleichzeitig müsste aber gewährleistet sein, dass wir uns damit nicht durchsetzen. Das wäre dann Ihre Aufgabe. (Seite 10f)

Inzwischen hat Ludwig eine Affäre mit Lucie Capurso begonnen. Als er zum ersten Mal mit ihr im Bett lag, fragte er sie über Amanda aus, und Lucie erklärte ihm, dass Amanda über seine Seitensprünge Bescheid gewusst habe, aber Ludwig glaubte ihr das nicht. Plötzlich kam ihm der Verdacht, dass Lucie versuchen könnte, ihn auszuhorchen, um für Amandas Scheidungsanwalt Material gegen ihn zu sammeln.

„Ich behaupte nicht, sie hätte dich beauftragt, mit mir ins Bett zu gehen, das kann auch deine Idee gewesen sein. Du hast vielleicht gedacht, du könntest das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.“ (Seite 73)

Jedenfalls scheiterte der Beischlaf an Ludwigs Erektionsstörung.

Ein Thema, mit dem sie mich in Schwierigkeiten bringen könnte, sind Frauen. Es ist wahr, dass ich von Zeit zu Zeit so genannte Ehebrüche begangen habe, ich sage das nicht mit Stolz, aber auch nicht zerknirscht. Ich bin von Versuchungen umzingelt, in der Redaktion, auf Reisen, in Lokalen, ich brauche meine Kraft für etwas anderes, als mich immerzu gegen das Lächeln hübscher Frauen zur Wehr zu setzen. (Seite 18f)

Bestimmt brauchen Sie auch diese Information. Amanda hat keine Männergeschichten. Ich meine damit nicht, dass ich nichts von Männergeschichten weiß, die sie eventuell haben könnte, ich meine: Sie hat keine. (Seite 22)

Die verlorene Geschichte

Sieben Jahre lang lebte Amanda in wilder Ehe mit dem zwanzig Jahre älteren Schriftsteller Fritz Hetmann zusammen, den sie bei einer ungenehmigten Autorenlesung kennengelernt hatte. Über die gemeinsame Zeit mit Amanda schrieb Fritz Hetmann die Novelle „Der Feminist“, doch als er sie kürzlich von der Diskette in den Computer laden wollte, war die Datei gelöscht.

Ich bin sicher, der kleine Dreckskerl Sebastian war es. (Seite 111)

Fritz argwöhnt, dass Amanda ihren inzwischen zehnjährigen Sohn losgeschickt hatte, die autobiografische Novelle zu zerstören, bevor sie veröffentlicht werden konnte. Sie habe es skrupellos ausgenutzt, vermutet Fritz, dass er den Jungen hin und wieder einlud.

Nun versucht er, die Novelle aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Die beiden Hauptfiguren nannte er in „Der Feminist“ nicht Fritz und Amanda, sondern Rudolf und Louise, und aus Amandas Sohn Sebastian machte er die Tochter Henriette.

Rudolf heißt in Wirklichkeit sein ältester Bruder, der sich Mitte der Fünfzigerjahre nach Amsterdam abgesetzt hatte und inzwischen irgendwo in Westeuropa lebt.

Wenn ich richtig gezählt habe, saß er fünfmal im Gefängnis, nie länger als ein paar Wochen. Inzwischen ist er reich, es arbeiten drei Anwälte für ihn, und er geht nicht einen Schritt ohne Leibwache aus dem Haus. (Seite 137f)

Fritz Hetmanns Erinnerungen reichen bis in die Kindheit zurück. Nachdem sein Vater kurz vor Kriegsende gefallen war, ließ seine Mutter Claire sich mit einem russischen Offizier ein: Arkadij Rodionowitsch Pugatschow aus Charkow.

Anfangs verbrachte er halbe Nächte in unserer Wohnung, dann komplette Nächte, dann Abende und Nächte, bis er schließlich, so kann man es sagen, bei uns wohnte. Er schleppte gewaltige Mengen von Lebensmitteln an, Wurstringe, Fischbüchsen, eingelegte Gurken, aber auch andere Wertgegenstände wie Stoffballen oder Kinderschuhe. Einmal stand meine beglückte Mutter vor einem Karton mit Seifenpulver und flüsterte: Welch eine Liebe! (217f)

Claire bekam zwei Töchter von ihm – Laura und Selma –, aber die Beziehung endete nach dem Aufstand am 17. Juni 1953. Während Arkadij Rodionowitsch damals tagelang fortblieb, wurde Claire von den Nachbarn als Russenhure beschimpft. Als er zurückkam, stritt Claire mit ihm und warf ihn dann hinaus.

Rudolf (also Fritz) wird Schriftsteller und hat durchaus Erfolg. Als der Lektor bei einem Manuskript Änderungen verlangt, überwirft Rudolf sich mit ihm und bietet den Roman dem Ellenreuther Verlag in München an. Kurz darauf wird er zu einer Aussprache in den Schriftstellerverband geladen. Als er hinkommt, liegen das Manuskript und das von ihm handschriftlich adressierte Kuvert auf dem Tisch. Man weist ihn eindringlich auf die Unrechtmäßigkeit seiner Handlungsweise hin.

Seit er ein Manuskript an einen westdeutschen Verlag schickte, gilt Fritz als Dissident. Das nutzt er, um durch regimekritische Interviews auf seine Neuerscheinungen aufmerksam zu machen.

An einer Stelle sagt er, der Unterschied zwischen Sozialismus und real existierendem Sozialismus sei derselbe wie zwischen Firmengründung und Bankrott. (Seite 323)

Bevor Fritz Amanda kennen lernte, war er zweimal verheiratet.

Ihren Mann konnte er nicht leiden, nicht nur, weil er ein Parteiabzeichen trug.

Als Sebastian freiwillig auf meinen Schoß kam, vielleicht um den Pralinen näher zu sein, fiel die Wohnungstür ins Schloss […]
Der Mann, der gleich darauf eintrat, war mir von der ersten Sekunde an unsympathisch […] Als er die Tür öffnete, erwartete er keinen Besuch und hatte einen Ärmel seines Jacketts schon abgestreift. Nach zwei Schritten bemerkte er mich, blieb stehen, zog sich das Jackett wieder an und sah fragend zu Amanda. Da ich von der Situation nicht überrascht war, konnte ich jede Einzelheit registrieren: dass Amanda alles andere als erfreut zu sein schien, dass Sebastian nur kurz den Kopf seinem Vater zuwendete und dann weiter mit meiner Krawatte spielte, dass Ludwig Weniger, während Amanda uns bekanntmachte, nicht mich ansah, sondern auf dem Tisch die offene Pralinenschachtel. Diese Ehe sollte glücklich sein?
Mein Name bedeutete ihm zuerst nichts (ich fing schon an, enttäuscht zu sein), doch dann wurde sein Blick aufmerksamer. Sein Gesicht nahm einen feindseligen Ausdruck an, und er fragte, ob ich der Schriftsteller sei. (Seite 141)

Nach der Scheidung zog Amanda mit ihrem Sohn zu Fritz. Als ihr Ex-Mann die Hälfte des von Amanda in Hamburg angelegten Geldes verlangte, traf Fritz sich mit ihm in einer Kneipe und drohte ihm mit einer Anzeige. Er habe Zeugen, behauptete Fritz, die aussagen würden, dass Amanda von Ludwig Weniger um Geld erpresst worden sei, und zwar mit der Drohung, im Scheidungsverfahren ihr Hamburger Konto zu erwähnen.

Ein Jahr nach der Trennung stellte Weniger die Unterhaltszahlungen ein. Amanda ließ es zu, denn sie wollte nicht länger durch die Gutschriften an ihn erinnert werden.

Zwar bot Fritz (Rudolf) Amanda (Louise) die Ehe an, aber sie wollte nicht noch einmal heiraten, sondern lieber ohne Trauschein mit ihm zusammenleben.

Amanda gab ihrem Lebensgefährten das Roman-Manuskript zu lesen. Es missfiel ihm, aber er wagte nicht, es ihr zu sagen, bis sie ihn danach fragte. Dann klagte sie über die Diskrepanz zwischen ihren Zielen und ihren Fähigkeiten:

Und die größte Pleite das Schreiben. Sie leide an einer äußerst seltenen Krankheit: Ehrgeizig zu sein und zugleich die eigenen Fähigkeiten realistisch einschätzen zu können. Ein Mensch, dem diese Krankheit erspart geblieben sei, könne sich keine Vorstellung von den Qualen machen, die die betroffene Person zu erdulden habe. Das eigentliche Unglück bestehe weniger in der Erkenntnis, dass man unfähig sei, den eigenen Ansprüchen zu genügen, als vielmehr darin, dass diese Ansprüche nun mal da seien. (Seite 236)

Schließlich begann Amanda, sich in einer regimekritischen Gruppe zu engagieren, die sich regelmäßig in einer Kirche versammelte.

Was jetzt vor ihr lag, war das Sichfügen in die Normalität, in eine Existenz als originelle, intelligente Person, in deren Macht es leider nicht steht, aufsehenerregende Leistungen zu vollbringen. (Seite 201)

Als ein Reporter einer österreichischen Zeitung mit Namen Hunsicker ein Interview mit Rudolf machen will, stellt dieser eine Gegenforderung: Der Journalist soll ihm als Geburtstagsgeschenk für Louise einen schwarzen Kaschmirmantel aus Westberlin mitbringen.

In Wahrheit gab es das Interview nicht. Ich kannte den jungen Mann schon lange, er war kein Österreicher, er arbeitete für den Norddeutschen Rundfunk und hatte mir schon oft einen Gefallen getan. Und es war kein schwarzer Kaschmirmantel, sondern eine rote Seidenbluse, obwohl ich eine lavendelfarbene hatte haben wollen. Und zu allem Unglück hatte Doll, so hieß er, sich auch noch um einen vollen Tag geirrt. (Seite 204)

Der Antrag

Als Stanislaus Doll, ein westdeutscher Korrespondent in Ostberlin, dem Schriftsteller Fritz Hetmann im September 1987 die Seidenbluse bringt, die dieser seiner Lebensgefährtin zum Geburtstag schenken will, sieht er Amanda Weniger zum ersten Mal – und es ist Liebe auf den ersten Blick. Er schreibt in sein Tagebuch:

Es könnte sein, dass ich mich heute verliebt habe, ich werde der Sache nachgehen. (Seite 259)

Um Amanda wiederzusehen, denkt er sich Vorwände aus.

Bei einem Empfang in der US-Botschaft am 7. Januar 1988 kommt Stanislaus mit Fritz Hetmann ins Gespräch und erfährt, dass der Schriftsteller in ein paar Tagen ohne seine Lebensgefährtin zu einer vierwöchigen Lesetour nach Skandinavien aufbrechen wird. Da lädt er Amanda zur Feier seines 34. Geburtstages am 16. Januar ein. Die knapp ein Jahr ältere Frau nimmt es dem schüchternen Journalisten nicht übel, dass er keine anderen Gäste erwartet und küsst ihn. Sie schläft mit ihm und bleibt über Nacht. Um ihren Sohn Sebastian kümmert sich ihre Freundin Lucie Capurso.

Von da an kommt und geht Amanda nach Belieben, auch als Fritz Hetmann wieder da ist.

Als Stanislaus erfährt, dass sein Korrespondenten-Vertrag nicht verlängert wird und er also Anfang 1989 nach Hamburg zurück muss, sieht er nur zwei Möglichkeiten, mit Amanda weiter zusammen sein zu können: Entweder er verhilft ihr zur Republikflucht, oder er heiratet sie und schafft damit die Begründung für einen Ausreiseantrag. Dass er DDR-Bürger werden könnte, kommt ihm nicht in den Sinn. Stanislaus fragt den westdeutschen Anwalt Kraushaar, der mit einer DDR-Bürgerin verheiratet war, was er tun müsse, um für Amanda eine Ausreiseerlaubnis zu bekommen. Kraushaar, der längst wieder geschieden ist, rät ihm aufgrund seiner eigenen schlechten Erfahrungen dringend davon ab, Amanda in den Westen zu holen:

Glauben Sie mir, sagt er, diese Leute sind für ein Leben in freier Wildbahn verdorben. Sie sind es gewohnt, in Gehegen zu existieren, alles Unerwartete versetzt sie in Panik. Sie haben etwas Kuhiges, sie malmen ihr Gras, glotzen den Horizont an und wollen pünktlich gemolken werden […] Ich habe vergessen zu erwähnen, dass diese Menschen kein Erbarmen kennen. In der Schule hat man ihnen eingebläut, dass Mitgefühl im Kapitalismus den sicheren Tod bedeutet, und diese Lehre ist ihnen als einzige im Gedächtnis geblieben. (Seite 299)

Nachdem Amanda einen Antrag auf Heirats- und einen weiteren auf Ausreiseerlaubnis gestellt hat, wird Stanislaus von einem Unbekannten angesprochen, der sich mit dem Namen „Klausner“ vorstellt, aber keinen Zweifel daran lässt, dass er nicht so heißt. Er erklärt dem westdeutschen Journalisten, dass es für die Bewilligung der Anträge von Amanda Weniger förderlich sei, wenn er sich bereit erkläre, mit dem Ministerium für Staatssicherheit zusammenzuarbeiten und gibt ihm ein paar Tage Bedenkzeit. Beim nächsten Treffen zeigt Stanislaus dem Stasi-Mitarbeiter ein Mini-Diktiergerät, das er sich am Vortag kaufte und behauptet, er habe das Anwerbungsgespräch aufgenommen. Wenn Amandas Anträge abgelehnt würden, droht er, werde er die Aufnahme mit einem entsprechenden Kommentar im NDR senden. Daraufhin lässt „Klausner“ ihn stehen und entfernt sich grußlos.

Aufgrund dieses Vorfalls fährt Stanislaus nun besonders vorsichtig Auto, immer darauf gefasst, dass jemand versuchen könnte, einen Unfall herbeizuführen.

Ludwig Weniger taucht auf und erklärt Amanda, er werde nicht zulassen, dass sein Kind im Kapitalismus aufwächst. Woher erfuhr er von dem Ausreiseantrag? Durch die Stasi?

Am 3. Oktober 1988 erhalten Amanda Weniger und Stanislaus Doll die Heiratserlaubnis. Indem sie eine Schwangerschaft Amandas vortäuschen, nennt man ihnen für die Eheschließung einen Termin bereits im November.

An der Hochzeitsfeier am 14. November im Hotel Metropol nehmen siebzig Gäste teil, darunter auch Ilona Siemens und Elfi Fromholz, zwei frühere Geliebte des Bräutigams.

Erst zwei Wochen später erfährt Stanislaus, dass seine Frau an einem Roman arbeitet, der halb fertig ist. Er ist enttäuscht, dass sie ihm das nicht früher anvertraute.

Die Behörden fordern am 29. Dezember eine Inventarliste an, und am 4. Januar 1989 kommen die Möbelpacker. Amanda und Sebastian werden fürs Erste zu Stanislaus‘ Eltern in die Lüneburger Heide ziehen und dort bleiben, bis er in Hamburg eine geeignete Wohnung gefunden hat.

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Das Besondere an dem Roman „Amanda herzlos“ ist neben dem kunstvollen Aufbau, dass wir die Titelfigur Amanda nur durch die Äußerungen ihrer drei Lebenspartner kennen lernen. Dementsprechend hat Jurek Becker „Amanda herzlos“ in drei Teile gegliedert. Beim ersten Teil – „Die Scheidung“– handelt es sich um einen Brief von Amandas erstem Ehemann (Ludwig Weniger) an seinen Scheidungsanwalt. „Der Antrag“ lautet die Überschrift des letzten Teils, der aus Tagebucheinträgen in der Zeit von September 1987 bis Januar 1989 besteht, die Amandas zweiter Ehemann (Stanislaus Doll) verfasst hat. Er ist der einzige der drei Männer, die über das Zusammenleben mit Amanda nicht im Nachhinein berichtet, sondern noch am Anfang der Beziehung steht. Im mittleren Teil – „Die verlorene Geschichte“ –, in dem Fritz Hetmann zu Wort kommt, der Mann, mit dem Amanda zwischen ihren beiden Ehen zusammenlebte, hat Jurek Becker eine zweite Ebene eingezogen: Zum einen versucht der Schriftsteller Fritz Hetmann die verloren gegangene autobiografische Novelle „Der Feminist“ stückweise zu rekonstruieren. Darin schilderte er seine sieben Jahre mit Amanda, nannte die beiden Hauptfiguren jedoch Rudolf und Louise, und aus Amandas Sohn Sebastian machte er die Tochter Henriette. Zwischendurch vergleicht Fritz Hetmann die Handlung der Novelle immer wieder mit den wahren Begebenheiten. Der Wechsel von Amanda und Fritz zu Louise und Rudolf erfolgt mitunter von einem Satz zum anderen. Hier ist ein Beispiel:

Bei Rudolf war Louise allein zu Haus, bei mir legte Amanda, kaum hatte sie die Tür geöffnet, einen Finger auf den Mund und flüsterte, ihr Sohn schlafe. Rudolf brachte ihr zwei Bücher von sich mit, ein verbotenes und ein erlaubtes, ich, wie gesagt, die Pralinen. Bei Rudolf trug sie eine schwarze Bluse, die neu gekauft war; er hätte geschworen, dass sie sie zum erstenmal trug, er sah am Kragen noch Fäden vom abgetrennten Firmenschild. Ich dagegen habe vergessen, was sie anhatte. Bei Rudolf kam sie nicht mehr auf das Manuskript zu sprechen, bei mir lag es groß und breit auf dem Tisch. Ich nahm mir vor, es so lange wie möglich zu ignorieren, um nicht Neugier vorzutäuschen. Das machte mich geschwätziger, als ich normalerweise bin. (Seite 136)

Die originelle Konstruktion nutzt Jurek Becker auch, um die eine oder andere Szene aus verschiedenen Perspektiven zu schildern. Obwohl er den drei Männern keine unterschiedlichen Sprachen gegeben hat, lassen sich aus ihren Äußerungen drei verschiedene Charaktere erkennen. Im Mittelpunkt steht allerdings Amanda.

Der ganze Roman ist eine Liebeserklärung an die angeblich herzlose Amanda. Sie ist nicht nur schön und unwiderstehlich, sie ist auch, was beim Autor genausoviel gilt, intelligent, kreativ, schlagfertig, spöttisch und den Männern, in deren Betten sie liegt, ohne sich auf- oder hinzugeben, haushoch überlegen. (Günter de Bruyn, „Der Spiegel“ 32/1992)

Nebenbei erfahren wir in „Amanda herzlos“ einiges über den Alltag in der DDR in den Achtzigerjahren, über die Spießigkeit und den Bürokratismus, die Stasi und die Angst, ins Blickfeld der Staatsorgane zu geraten. Sarkastisch ist, dass Amanda Anfang 1989 endlich in die Bundesrepublik ausreisen darf – zehn Monate vor der Öffnung der Grenzen.

Jurek Becker erzählt feinfühlig und nuanciert, mit einem ironischen Unterton, unspektakulär und ohne emotionale Ausbrüche. Einige Szenen in „Amanda herzlos“ sind komisch, so zum Beispiel die meisterhaft angelegte Diskrepanz zwischen der Selbstdarstellung Ludwig Wenigers und seinem wahren Charakter, den wir beim Lesen seines Brief an den Scheidungsanwalt erahnen.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

Jurek Becker (Kurzbiografie)

Jurek Becker: Jakob der Lügner
Jurek Becker: Bronsteins Kinder

Deborah Feldman - Unorthodox
"Unorthodox. Eine autobiografische Erzählung" ist kein großer literarischer Wurf. Dafür bleiben alle Personen bis auf die Ich-Erzählerin zu schemenhaft. Aber es handelt sich um ein wichtiges, aufschlussreiches Buch über ein brisantes Thema. Zu den Pluspunkten gehört außerdem, dass Deborah Feldman sachlich und unpolemisch, unaufgeregt und ohne Effekt­hascherei schreibt. Die Emanzipations­geschichte, die sie in "Unorthodox" erzählt, ist auf jeden Fall ermutigend.
Unorthodox

 

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Nobelpreis für Literatur

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.