Raymond Carver : Kathedrale

Kathedrale
Originalausgabe: Cathedral Alfred A. Knopf, New York 1983 Kathedrale Übersetzung: Klaus Hoffer Piper Verlag, München 1985 Neuübersetzung: Helmut Frielinghaus Berlin Verlag, Berlin 2001 Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt/M 2012 ISBN 978-3-596-90389-4, 258 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Geschichten über Männerfreundschaften, verkorkste Ehen und aus der Bahn geworfene Menschen sind wiederkehrende Themen dieser Erzählungen:
Federn – Chefs Haus – Konservierung – Das Abteil – Eine kleine, gute Sache – Vitamine – Vorsichtig – Von wo ich anrufe – Der Zug – Fieber – Das Zaumzeug – Kathedrale
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Kritik

Raymond Carver erzählt in "Kathedrale" mit schlichten Wörtern in knappen Sätzen. Er prägte damit einen minimalistischen Stil, den sich junge, auch deutsche Autoren als Vorbild nahmen (zum Beispiel Judith Hermann, die das Vorwort schrieb).
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Federn

Der Fabrikarbeiter Bud lädt seinen Kollegen Jack und dessen Frau Fran zu sich nach Hause ein. Fran kommt nur widerwillig mit, obwohl so ein Besuch für das gewollt kinderlose Ehepaar eine Abwechslung in ihrem sonst eintönigen Alltag bringt. Von Buds Frau Olla, die gehemmt und nicht gerade attraktiv ist, hält Fran nichts. Insbesondere Jack findet das Baby der beiden hässlich:

Es war, ohne Ausnahme, das hässlichste Baby, das ich je gesehen hatte. Es war so hässlich, dass ich nichts sagen konnte. […] Zu sagen, das Baby sei hässlich, war noch geschmeichelt. (Seite 39)

Die beklemmende Situation wird auch dadurch nicht besser, als ein ausgewachsener Pfau sozusagen als Haustier in der Wohnung herumspaziert. Olla hatte sich ihn gewünscht und Bud hat ihn ihr gekauft. Nach dem deprimierenden Besuch wird Fran und Jack allerdings klar, dass im Gegensatz zu ihnen in der Ehe von Bud und Olla Zufriedenheit, harmonisches Einvernehmen und Vertrauen in die Zukunft bestehen.

Als wir an diesem Abend von Bud und Olla nach Hause kamen und als wir unter der Decke lagen, sagte Fran: „Schatz, fülle mich mit deinem Samen!“ (Seite 44)

Das Baby, das sie bekommen, bringt nicht die erhoffte Wendung in ihrem unerfüllten, freudlosen Leben.

Die Wahrheit ist, das mein Junge etwas Hinterhältiges an sich hat. Aber ich spreche nicht darüber. Nicht einmal mit seiner Mutter. Mit ihr schon gar nicht. Sie und ich sprechen immer weniger, so wie die Dinge liegen.(Seite 46)

Der lakonische Stil, in dem Raymond Carver die Geschichte auf 28 Seiten erzählt, entspricht dem einfachen gesellschaftlichen Milieu und der tristen Situation.

 

Das Abteil

Myers beantragt bei seiner Ingenieursfirma in USA „sechs Wochen Urlaub angehäuft“, um nach Europa zu reisen. Angeregt durch einen unverhofften Brief seines in Straßburg studierenden Sohnes, den er seit der Scheidung von dessen Mutter nicht mehr gesehen hat, schlug er ihm vor, sich mit ihm am Bahnhof in Straßburg zu treffen. Viel Lust dazu hat er eigentlich nicht, denn er gibt seinem Sohn die Schuld am Scheitern seiner Ehe.

Der Junge hatte Myers Jugend aufgezehrt, er hatte das junge Mädchen, dem Myers den Hof gemacht und das er geheiratet hatte, in eine nervöse Alkoholikerin verwandelt, die er abwechselnd bemitleidete und quälte. Warum, um alles in der Welt, fragte sich Myers, war er den ganzen weiten Weg gekommen, um jemanden zu sehen, den er nicht mochte? […] Er wollte ihn nicht nach seiner Mutter fragen müssen. (Seite 76)

Aber insgeheim möchte Myers wohl doch gerne erfahren, was aus der „Mutter seines Sohnes“ geworden ist (er bezeichnet sie im übrigen fast nie als seine [Ex-]Frau.)

Zusätzlich zu den Verständnisschwierigkeiten mit den fremden Sprachen hat ihm der bisherige Verlauf seiner Europareise nicht gefallen: In Rom fühlte er sich einsam, „Venedig war eine Enttäuschung“ und in Mailand war er froh, sich abends um elf in ein leeres Zugabteil der ersten Klasse setzen zu können, wo er hoffte, schlafen zu können – was ihm aber nicht gelang.

Bei der nächsten Station steigt ein Mann zu, setzt sich zu ihm ins Abteil, zieht seinen Hut ins Gesicht und schläft sofort ein. Myers beneidet ihn. Er geht zur Toilette, und als er zurückkommt, bemerkt er, dass sein Mantel nicht mehr so daliegt wie vorher. Er sieht in der Manteltasche nach und stellt fest, dass die teure Armbanduhr, die er als Geschenk für sein Sohn gekauft hatte, fehlt. Er verdächtigt den Mann im Abteil. Auf Nachfragen, ob er jemand gesehen habe, gibt sich dieser unwissend und versteht wohl auch nicht, was Myers will. „Benommen vor Wut“ und gewaltsame Fantasien entwickelnd, läuft er die Gänge des Zuges entlang, um den Dieb ausfindig zu machen. Die Hoffnungslosigkeit seines Unternehmens gesteht er sich bald ein.

Je näher er dem Zielort kommt, umso klarer wird ihm, dass er den Jungen gar nicht sehen will. Als der Zug im Bahnhof in Straßburg einfährt, hofft Myers, sein Sohn wäre nicht gekommen. Er blickt durch das Fenster und sucht auf dem Bahnsteig nach ihm. Zu seiner Erleichterung kann er ihn nirgends entdecken. Der Zug fährt wieder an, bleibt aber bald auf freier Strecke stehen. Myers läuft bis zum Ende des Gangs, wo die Wagen aneinander gekoppelt sind, findet aber den Grund für den geräuschvollen Aufenthalt nicht heraus. Er will in sein Abteil zurückgehen – aber dieser Zugteil wurde abgekoppelt, und nun weiß er nicht einmal, wohin der Zug fährt. Er will auch nicht fragen. „‚Pari?‘, oder wie immer sie es aussprachen.“ Sein Koffer ist weg.

Das Abteil, vor dem er stand, war fast voll besetzt von kleinen, dunkelhäutigen Männern, die sehr schnell sprachen, in einer Sprache, die Myers noch nie gehört hatte. (Seite 80)

Sie deuten ihm an, er solle sich zu ihnen setzen.

Und falls es die falsche Richtung war – früher oder später würde er es herausfinden. (Seite 80)

Myers schließt die Augen und kann endlich einschlafen.

 

Fieber

Carlyle ist Lehrer. Seine Frau Eileen hat ihn verlassen. Die Kinder Sarah und Keith sind in seiner Obhut. Solange Ferien waren, konnte er die Alltagsaufgaben ganz gut bewältigen. Als die Schule wieder anfing, hatte er Kindermädchen engagiert, aber alle erwiesen sich als Fehlgriff. Eine Kollegin, der er privat etwas näher gekommen ist, kann ihm bei seinen Schwierigkeiten auch nicht wesentlich behilflich sein. Und die Telefonanrufe seiner Frau deprimieren ihn mehr als sie tröstlich wären. Eileen schwärmt ihm von ihrem Lebensgefährten Richard vor – einem früheren Kollegen Carlyles im übrigen – und wie sie sich nun endlich als Künstlerin verwirklichen kann. Seit langer Zeit sei ihr Kopf am rechten Platz und sie wolle mit ihm über „seinen Kopf und sein Karma“ sprechen. Die Telefongespräche mit ihr nerven ihn zunehmend. „Denk positive Gedanken. Du klingst deprimiert.“ Insbesondere ihre Art, dass sie angeblich immer schon weiß, was er gerade denkt und was ihn bedrückt, kann er nicht ausstehen. Eileen ruft ihn wieder mal an:

Der wichtige Grund, warum ich dich angerufen hab, ist der: Ich weiß, dass zur Zeit bei dir da drüben ein ziemliches Durcheinander herrscht. Frag mich nicht, wieso, aber ich weiß es. Tut mir Leid, Carlyle. Aber jetzt hör mal. Du brauchst doch immer noch eine gute Haushälterin, die sich zugleich um die Kinder kümmert, stimmt’s? […] Ich hab Richard gesagt, dass du da möglicherweise ein Problem hast, und er hat die Sache in die Hand genommen. Willst du wissen, was er getan hat? Hörst du zu? Er hat seine Mutter angerufen, die diese Frau lange als Haushälterin gehabt hat. Die Frau heißt Mrs Webster. […] Richard hat es geschafft, mithilfe seiner Mutter eine Telefonnummer zu bekommen. Er hat heute mit Mrs Webster gesprochen. Das hat Richard gemacht.(Seite 198ff)

Diese Mrs Webster meldet sich dann tatsächlich bei Carlyle. Die ältere, warmherzige Frau kann gut mit den Kindern umgehen und ist eine verlässliche Hilfe im Haushalt.

Carlyle wird krank, er hat hohes Fieber. Mrs Webster kümmert sich liebevoll, aber nie aufdringlich um ihn. Er fällt von einem Fiebertraum in den nächsten und bekommt kaum etwas um sich herum mit. Langsam geht es ihm besser, und Mrs Webster wagt ihm zu sagen, was sie wegen seiner Krankheit zurückgehalten hatte. Sie und ihr Mann wollen zu einem Sohn ziehen, bei dem sie wohnen können und im Alter versorgt sind. Carlyle hat Verständnis für das ältere Ehepaar, wenn er Mrs Websters Weggehen auch sehr bedauert. Es ist ihm ein Bedürfnis, der verständnisvollen, unparteilichen Haushälterin seine Situation und wie es dazu kam, zu erzählen. Er hat immer noch etwas Fieber; in diesem leichten Trancezustand fällt es ihm leichter, eine Lebensbeichte abzulegen. Das hilft ihm, sich seiner derzeitigen Lage bewusst zu werden, sich damit abzufinden und das Vergangene hinter sich zu lassen.

 

Eine kleine, gute Sache

Die vom Lektor Gordon Lish redigierte Version „Das Bad“ ist in dem Buch „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ enthalten. Dort ist die Geschichte nur 10 Seiten lang; das Ende bleibt offen. In dem Band „Kathedrale“ erstreckt sie sich über 35 Seiten, ist bis auf den Schluss im Wesentlichen aber inhaltlich gleich:

Eine Mutter bestellt beim Bäcker eine Geburtstagstorte für ihren Jungen, der acht Jahre alt wird. Scotty wird auf dem Nachhauseweg von der Schule von einem Auto angefahren. Er kann noch in die Wohnung gehen, muss aber dann doch ins Krankenhaus gebracht werden. Die Eltern sitzen an seinem Bett und beobachten beunruhigt seinen gleichbleibend schlechten Gesundheitszustand. Der Arzt muss zugeben, dass der Krankheitsverlauf nicht normal ist. Der Vater fährt nach Hause, um den Hund zu füttern und sich auszuruhen. Währenddessen läutet das Telefon; der Anrufer sagt: „Hier ist eine Torte, die nicht abgeholt wurde.“ Der Vater weiß davon nichts und fühlt sich nur belästigt. Er lässt sich ein Bad ein. Wieder läutet das Telefon. Er glaubt, es sei das Krankenhaus, aber es ist wieder die Stimme von vorher: „Sie ist fertig.“ Der Vater geht ins Krankenhaus zurück. Der Junge ist immer noch nicht zu sich gekommen. Der Ehemann schickt seine Frau zum Ausruhen nach Hause. Auch bei ihr meldet sich der Anrufer.

Die Verzweiflung der am Krankenbett wartenden Eltern ist in dieser Version einfühlsamer als in der gekürzten Fassung geschildert. Das Ende bleibt auch nicht offen, sondern man erfährt, dass der Junge stirbt.

Der Junge sah sie beide an, aber ohne ein Zeichen des Erkennens. Dann öffnete sich sein Mund, die Augen schlossen sich krampfhaft, und er brüllte, bis keine Luft mehr in seiner Lunge war. Dann schien sein Gesicht sich zu entspannen, und seine Züge wurden weich. Seine Lippen teilten sich, als sein letzter Atemzug durch seine Kehle fuhr und sanft durch die zusammengepressten Zähne entwich. (Seite 106)

Auch die angeblich ominösen Telefonanrufe, auf die die Eltern so panikartig reagierten, werden schlüssig erklärt.

Der Bäcker, der bei der Tortenbestellung schon unbeholfen und kurz angebunden wirkte, ruft nochmals an, nachdem sie vom Krankenhaus zurück sind:

„Ihr Scotty, ich hab ihn fertig für Sie“, sagte die Männerstimme. „Haben Sie ihn vergessen?“ „Sie böser Mensch!“, schrie sie in den Hörer. „Wie können Sie so etwas tun, Sie böser gemeiner Kerl?“ „Scotty“, sagte der Mann. „Haben Sie Scotty ganz vergessen?“ Dann legte der Mann auf, ehe sie noch etwas sagen konnte. (Seite 109)

In ihrer Aufregung und Trauer sind sie so wütend und unbeherrscht, dass sie noch nachts in die Bäckerei fahren und den Bäcker zur Rede stellen. Nach anfänglichem heftigem Wortwechsel – der Bäcker ist sich keiner Schuld bewusst – beruhigen sich die Gemüter. Als der Bäcker vom Tod des Jungen erfährt, setzen sich alle um seinen Backtisch, trinken Kaffee und essen Zimtbrötchen.

„Ich hoffe, dass Sie von meinen warmen Brötchen ein paar essen. Sie müssen essen und weitermachen. Essen ist ein kleine, gute Sache in so einer Zeit“, sagte [der Bäcker] (Seite 115)

Langsam löst sich die Spannung der Eltern, und sie können über ihre Gefühle sprechen. Sie hören trotz ihrer Müdigkeit und Verzweiflung auch dem Bäcker zu, der über seine Einsamkeit und die Eintönigkeit seines Lebens berichtet.

Er war Bäcker. Er war froh, dass er kein Blumenhändler war. Es war besser, dafür zu sorgen, dass andere Leute zu essen hatten. Und jedenfalls roch es besser als Blumen. (Seite 116)

Sie hörten ihm zu. Sie aßen, so viel sie essen konnten. […] Sie redeten weiter, bis in den frühen Morgen hinein, der hohe, fahle Lichtschimmer stand in den Fenstern, und sie dachten nicht daran zu gehen. (Seite 116)

Dieser versöhnliche Schluss und der warmherzige Umgang mit den Protagonisten steht in krassem Gegensatz zu der vom Lektor gekürzten Erzählung „Das Bad“, in der im übrigen der Vater und die Mutter keinen Namen haben; sie sind meistens „der Ehemann“ beziehungsweise „die Ehefrau“, wohingegen sie hier Howard und Ann genannt werden.

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Die Handlungsweise der Personen in den meisten der Erzählungen dieses Buches ist im Vergleich zu dem Sammelband „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ besser nachzuvollziehen. Bei aller Knappheit der Schilderung ist die psychologische Motivation für den Leser verständlicher. Man merkt, dass sich Raymond Carver dem Einfluss seines Lektors Gordon Lish entzogen hatte und die teils eklatanten Kürzungen nicht mehr zuließ.

Raymond Carver starb 1988 fünfzigjährig an Lungenkrebs. Er hatte lange Zeit Alkoholprobleme und so wundert es nicht, dass Trinken in fast allen Geschichten eine Rolle spielt. Angeln und die Beengtheit in kleinbürgerlichen Verhältnissen sind andere häufig vorkommende Themen. Sobald sich jemand aus seinem gewohnten Umfeld wagt, lauert meistens ein auf den ersten Blick nicht erkennbares Unheil, das auf das weitere Alltagsleben grundlegende Auswirkungen hat. Carvers Vorbilder waren unter anderem Tschechow und Hemingway. Darauf angesprochen, warum er so kurze Erzählungen schreibe, sagte er, dass er keine Zeit und Lust für lange Geschichten habe.

Einen Teil der Kurzgeschichten und Erzählungen Raymond Carvers verwendete Robert Altman als Vorlage für seinen Episodenfilm „Short Cuts“.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Irene Wunderlich 2004
Textauszüge: © Berlin Verlag

Raymond Carver (kurze Biografie / Bibliografie)

Raymond Carver: Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden

Robert Altmann: Short Cuts

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Obwohl es sich bei dem Buch von Irmela von der Lühe über Erika Mann um eine wissenschaftlich fundierte Biografie handelt, ist die Darstellung sehr lebendig und leicht zu lesen.
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