Hoimar von Ditfurth : Der Geist fiel nicht vom Himmel

Der Geist fiel nicht vom Himmel
Der Geist fiel nicht vom Himmel Die Evolution unseres Bewusstseins Hoffmann & Campe Verlag, Hamburg 1976 Taschenbuch: dtv 1980
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Hoimar von Ditfurth zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass der menschliche Intellekt ein Ergebnis der Evolution ist und der Wahrnehmungsapparat nicht die Aufgabe hat, philosophische Erkenntnisse über die Welt zu ermöglichen, sondern unser Überleben zu sichern.
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Kritik

Hoimar von Ditfurth verstand es wie kaum ein anderer populärwissenschaftlicher Autor, auch "schwierige" Sachverhalte anschaulich und leicht lesbar darzustellen.
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Die Evolution ist, das ist unbestreitbar, eine einzige Kette von unwahrscheinlichen Ereignissen.

In der Evolution entsteht Neues immer nur aus Altem, auf dem Fundament des Vorhandenen.

Auch unser Geist also, das ist die These dieses Buches, muss aus dieser Entwicklung hervorgegangen sein. Woher sonst sollte er stammen? Den Inhalt dieses Buches bildet der Versuch, den Weg, den die Entwicklung an der für diesen Übergang entscheidenden Stelle genommen haben muss, an Hand des bis heute vorliegenden wissenschaftlichen Materials nachzuzeichnen.

Hoimar von Ditfurth beginnt mit der Urzelle, die sich von der Außenwelt abgrenzte und verselbständigte.

Überleben konnte diese erste Zelle nur, wenn die in ihrem Inneren geordnet ablaufenden chemischen Prozesse, mit Hilfe derer sie ihre Struktur regenerierte und aus denen sie ihre Energie bezog, von den chaotischen, gänzlich ungeordneten physikalischen und chemischen Vorgängen ihrer nicht belebten Umwelt getrennt blieben. Nur eine solche saubere Scheidung zwischen „innen“ und „außen“ gab ihr eine Chance, die eben erst mühsam erworbene innere Ordnung bewahren zu können.

Lebende Systeme sind winzige Oasen der Ordnung, verstreut in einer weitgehend — wenn auch keineswegs total — ungeordneten Umwelt.

Da die Unordnung in Systemen, die von der Umwelt völlig abgekapselt sind, immer nur zunehmen kann (Entropie), sind sog. „geschlossene Systeme“ nicht lebensfähig. Für die lebende Zelle besteht also einerseits die Notwendigkeit, sich von der Umwelt abzugrenzen, damit die Schwankungen der Umwelt nicht auf das innere Milieu durchschlagen; andererseits muss die Zellenoberfläche für den erforderlichen Stoffwechsel durchlässig sein. Bei diesem selektiven Austausch mit der Umgebung kommt es auf die biologische Relevanz an: Schädliche Agenzien dürfen nicht eindringen; benötigte Stoffe werden dagegen aufgenommen.

Vom ersten Augenblick ihrer Existenz an mussten die lebenden Systeme in der Lage sein, zwischen verschiedenen Eigenschaften ihrer Umwelt zu unterscheiden.

Konrad Lorenz spricht an dieser Stelle bereits von einer Funktion eines Erkenntnisapparates („Die Rückseite des Spiegels“).

Die Selektion erfolgt zunächst nach chemischen Merkmalen.

Eine einzelne Zelle im Ozean verändert durch ihren Stoffwechsel nicht die Zusammensetzung des Meerwassers. Sobald Zellen sich gruppieren, ändert sich aber das Milieu im Zellverband aufgrund des Stoffwechsels der einzelnen Zellen, etwa durch giftige Ausscheidungen. Wie wird unter diesen Umständen ein dynamisches Gleichgewicht in einem Organismus aufrechterhalten? Durch negative Rückkopplungen, die auf chemische Merkmale ansprechen.

Erst sehr viel später wird diese ungerichtete Art der Kommunikation zwischen Zellen (z.B. durch Hormone) durch Nerven ergänzt. Die Nervenleitung (an der übrigens auch chemische Prozesse beteiligt sind) hat gegenüber der rein chemischen Übertragung zwei Vorteile: Sie ist schneller und gezielter.

Ein Reiz ist anfangs eine Qualität in der Umgebung, die entweder eine potenzielle Gefahr oder eine für das Überleben wichtige Eigenschaft darstellt. Würde ein Organismus jede von außen kommende Einwirkung als Reiz registrieren, ergäbe sich ein chaotisches Trommelfeuer.

Weitaus die meisten Reize müssen also ausgeblendet werden. Ein wirkungsvoller Mechanismus ist die Ermüdung der Rezeptoren: Dadurch werden gleichbleibende Informationen ausgeschaltet, das Neue, Besondere um so deutlicher hervorgehoben. Durch Ermüdung und Gewöhnung werden Eigenschaften der Umwelt im mittleren Bereich nicht mehr registriert. Weil davon auszugehen ist, dass der Organismus an seine Umwelt weitgehend angepasst ist (sonst gäbe es die entsprechende Art nicht mehr), werden dadurch genau die Qualitäten der Umwelt ausgeblendet, die keine Gefahr darstellen.

Was als Wirklichkeit erlebt wird, ist nur ein Ausschnitt, der von Art zu Art verschieden ist. Optimal für das Überleben der Zelle oder eines Organismus ist es, so wenig Reize aus der Umgebung wie möglich aufzunehmen und so viele wie nötig. Merkmale, die biologisch irrelevant sind, brauchen nicht wahrgenommen zu werden. Das erklärt auch die geringe Zahl unserer Sinne. (Inzwischen zeigen uns Instrumente einige wenige zusätzliche Eigenschaften der Welt.)

Im Stammhirn bewirken Reize (z.B. Blutdruck, Körpertemperatur, Flüssigkeitsbilanz) vegetative Reaktionen. Eine Stufe „höher“, im Zwischenhirn, lösen Signale aus der Umwelt komplette Verhaltensmuster (Instinkt-, Triebhandlungen) aus.

Diese im Zwischenhirn anatomisch gespeicherten Programme sind […] als Erfahrungen anzusehen, die die Art gemacht hat.

Hier, auf der Ebene des Zwischenhirns, ist die Beziehung zwischen Organismus und Umwelt erstmals nicht mehr rein physikalisch-chemischer Natur. Hier erhebt sich diese Beziehung erstmals über die Kategorien von Ursache und Wirkung empor zu einer Kommunikation, die durch „Zeichen“ vermittelt wird.

Instinkthandlungen sind ökonomisch, aber sie passen sich Umweltveränderungen nur über Generationen hinweg an. Relativ rasche Umweltänderungen können deshalb katastrophale Auswirkungen haben. Da beginnt beispielsweise ein sibirischer Stamm von Wildgänsen jeden Herbst den 3500 km weiten Zug in den Süden zwei Wochen, bevor die Mauser abgeschlossen ist und die Vögel wieder fliegen können. Zehntausende von Tieren brechen stolpernd und flatternd auf. Viele von ihnen gehen aus Erschöpfung zugrunde. Vermutlich wurden sie aus nördlicher gelegenen Sommerquartieren verdrängt und haben sich noch nicht darauf eingestellt, dass das Verhältnis von Tag und Nacht weiter südlich zu einem früheren Zeitpunkt im Jahr einen kritischen Wert unterschreitet.

Erst wenn sich über Hirnstamm und Zwischenhirn die Hirnrinde zu wölben beginnt, wird individuelles Lernen möglich. Dann kann unter Umständen eine einzige kurze Erfahrung das zukünftige Verhalten des einzelnen Lebewesens beeinflussen.

Die Informationen, die das Gehirn über die Außenwelt liefert, müssen bis zu einem gewissen Grad „richtig“ sein; andernfalls könnte eine Art in ihrer Umwelt nicht überleben. Wenn dort, wo der im Baum kletternde Affe einen Ast wahrnimmt, nichts ist, wird er bald tot sein.

Eindringlich warnt Hoimar von Ditfurth vor dem Trugschluss, unser „Geist“ sei etwas Besonderes, das Gehirn sei dazu da, die Welt möglichst objektiv abzubilden.

Nicht auf Wahrnehmung kommt es an, nicht auf die Erfassung einer objektiven Welt in ihrer Gegenständlichkeit, sondern allein auf die möglichst frühzeitige und fehlerlose Erfassung und Bewertung der Umweltfaktoren, die, sei es in positivem, sei es in negativem Sinne, für die physische Existenz bedeutsam sind.

Unser Gehirn ist von der Evolution nicht dazu entwickelt worden, uns die Welt erkennen zu lassen, sondern allein zu dem Zweck, uns in dieser Welt das Überleben zu ermöglichen. […] Für uns ist die Welt primär noch immer nicht Objekt der Erkenntnis, sondern der Ort, an dem wir überleben müssen.

Was uns so leibhaftig vor Augen liegt, das ist ganz sicher nicht „die Welt“. Es ist nur ihr Abbild.

Bezeichnend dafür ist es, dass die menschliche Wahrnehmung in den Bereichen versagt, die für das Überleben unwichtig sind: etwa bei Größenordnungen und Geschwindigkeiten, wie sie außerhalb der irdischen Erfahrung im Universum vorkommen (Relativitätstheorie) oder im subatomaren, mikrokosmischen Bereich (Quantentheorie).

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Hoimar von Ditfurth verstand es wie kaum ein anderer populärwissenschaftlicher Autor, auch „schwierige“ Sachverhalte anschaulich und leicht lesbar darzustellen.

In „Der Geist fiel nicht vom Himmel“ zeigt er auf eindrucksvolle Weise, dass der menschliche Intellekt ein Ergebnis der Evolution ist und unserer Wahrnehmungsapparat nicht die Aufgabe hat, philosophische Erkenntnisse über die Welt zu ermöglichen, sondern unser Überleben zu sichern.

Die Möglichkeit, dass unser Großhirn den Endpunkt der bisherigen Geschichte bilden könnte, ist von so astronomischer Unwahrscheinlichkeit, dass wir auch die von uns selbst erreichte Ebene getrost als nur vorläufig, als Übergangsstufe ansehen können.

Der Psychiater und Neurologe, der ab 1969 als freier Wissenschaftsjournalist durch die Vermittlung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse etwa über die Entstehung des Universums und des Lebens auf der Erde berühmt wurde, entwickelte sich in den Achtzigerjahren zu einem Kritiker naiver Fortschrittsgläubigkeit; er warnte vor der Umweltzerstörung und der Gefährdung der Conditio humana. („So lasst uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen. Es ist soweit.“ Hamburg 1985)

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2003
Textauszüge: © Hoffmann & Campe

Darwinismus
Evolutionstheorie

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