Jorge Edwards : Der Ursprung der Welt
Inhaltsangabe
Kritik
Angefangen hat alles am Montag oder Dienstag vergangener Woche, vor dem Bild. Es begann mit einem plötzlichen Gedanken, einer Frage. Eigentlich war es nur ein Scherz gewesen, aber seit letzten Montagnacht, als wir die Leiche fanden, hatte dieser Scherz, den ich nicht vergessen hatte, eine beunruhigende, weniger leiche Färbung bekommen. Eine dunklere, wenn man so will. (Seite 7)
Dr. Patricio („Patito“) Illanes, ein Mediziner Anfang siebzig, stammt aus Iquique im Norden Chiles. Mit seiner sehr viel jüngeren Ehefrau Silvia, mit der er seit nahezu dreißig Jahren verheiratet ist, lebt er in Paris.
Als sie bei einem gemeinsamen Besuch im Musée d’Orsay vor Gustave Courbets Gemälde „L’origine du monde“ („Der Ursprung der Welt“) stehen – dem Akt einer Frau, von der zwar die Scham, nicht jedoch das Gesicht zu sehen ist, weil Kopf und Arme vom Bettlaken verdeckt sind –, meint Patricio spaßeshalber, das Bild sähe seiner Frau ähnlich. Dann erzählt er, dass ihr gemeinsamer Freund Felipe Díaz gern obszöne Fotografien mache, das wisse er von Alfredo Arias.
Felipe ist mehr als zehn Jahre jünger als Patricio. In seiner Jugend war er mit der Tochter eines chilenischen Großgrundbesitzers verheiratet gewesen und später mit einer streng katholischen Pariserin, aber seit er sich auch von seiner zweiten Ehefrau trennte, besteht sein Ehrgeiz darin, jeden Tag eine andere Geliebte zu haben. Außer der Promiskuität ist er dem Laster des Alkohols verfallen, und gelegentlich schnupft er Kokain. Kürzlich erzählte Felipe beim dritten Whisky in einem Straßencafé von seiner neuesten Affäre mit einer Mexikanerin japanischer Herkunft, die mit einem Schweizer Semiotik-Professor verheiratet ist, es jedoch vorzieht, bei einer brasilianischen Freundin in Paris zu wohnen. In den acht Tagen vor seinem Treffen mit Patricio besuchte Esmeralda Felipe jeden Abend, aber er war nicht in der Lage, sie zu penetrieren.
[…] bis zum siebten Tag hatte er versucht, die giftige Flasche Ballantine’s gegen die verführerische Philosophin einzutauschen, überzeugt, dass er die Philosophin vorzöge, aber am achten Tag […] war er nach all dem plötzlich, in einem intuitiven Geistesblitz, zu dem Schluss gekommen, dass er in seinem Innern, in seinem authentischen Wesenskern, die Flasche vorzog. (Seite 31f)
Kurz nach dem Besuch im Musée d’Orsay erhält Patricio einen Anruf von Alfredo Arias, der sich wundert, dass Felipe Díaz nicht zu einem Termin bei Radio France erschien. Trotz des Alkoholismus ist das nicht seine Art. Also fährt Patricio zu Felipes Wohnung, von der er Schlüssel hat – und findet dort die Leiche des Freundes, der sich offensichtlich mit Schlaftabletten das Leben nahm. Bedrückt sitzt Patricio neben dem Toten, als eine Stunde später Silvia kommt, um nachzusehen, wo er bleibt. Dass sie Felipe hysterisch und untröstlich beweint, kommt Patricio verdächtig vor. Hatten die beiden ihn etwa betrogen?
Am Tag nach der Beerdigung schleicht er sich heimlich in Felipes Apartment und durchsucht die Schublade, in der sein Freund Andenken an die Geliebten aufhob. Patricio findet etliche Fotografien bekleideter und nackter Frauen, darunter ein Bild, das Gustave Courbets Gemälde „Der Ursprung der Welt“ nachgestellt wurde – und ein Passbild Silvias, das er an sich nimmt.
Unverzüglich verabredet Patricio sich mit Alfredo und fragt ihn, ob Felipe und Silvia etwas miteinander hatten. Der gemeinsame Freund versichert ihm, dafür gebe es keinerlei Anhaltspunkt, aber Patricio befürchtet, Alfredo wolle ihn nur schonen.
Er geht noch einmal in Felipes Wohnung, um auch das Foto einzustecken, das Courbets Gemälde ähnelt. Im Musée d’Orsay vergleicht er es mit der Vorlage und kommt zu der Überzeugung, dass es sich bei der fotografierten Frau um Silvia handelt.
Patricio befragt alle möglichen Leute, die Felipe kannten, ob sie etwas über eine Affäre mit Silvia wissen: die Kupplerin Mélanie Sylvestre, einen Kellner, Abelardo Manzano, Madame Léotard, und bei Esmeraldas brasilianischer Freundin hinterlässt er seine Karte. Silvia beginnt, sich um ihren Mann zu sorgen, denn er hat sich seit dem Tod seines Freundes sehr verändert.
Schließlich ruft Patricio sogar den Poeten, Maler und Bühnenbildner Benedicto Morgado an, einen früheren Freund, mit dem er seit Jahren zerstritten ist. Gleich darauf besucht er Benedicto und dessen Frau Elvira („Elvireta“). Dabei lenkt er das Gespräch auf Felipes Tod und erzählt, Silvia sei heimlich in Felipe verliebt gewesen. Das können die Morgados sich gar nicht vorstellen, und Elvira ruft schließlich Silvia an, damit diese ihren inzwischen betrunkenen Mann abholt.
Es hat mich eine Menge Überredungskunst gekostet, Patricio aus dem Appartement in der Rue Victor Massé herauszubekommen. Dieser korrekte, ausgeglichene, bodenständige Mann, der tadellose Medizinprofessor, von dem ich mich während meiner Studienzeit erobern ließ, der athletische Vierzigjährige, die Mischung aus Intellektuellem und Sportler, der fitte Fünfzigjährige, einer der führenden Köpfe unter den Exilchilenen, hatte sich in einen Nihilisten mit wirrem Blick, halboffenem, sabberndem Mund, mit teigiger Aussprache und weichen Knien verwandelt, halb hinüber, das Opfer billigen Fusels. Benedicto Morgado schlug, schwankend, mit dem Gesicht eines verblödeten Satyrs, vor, wir sollten zu viert ins Bett gehen, er ist doch völlig krank im Hirn, und plötzlich kam es mir so vor, als würde Elvireta, die kräftige, stramme Frau mit der rauen Stimme, die so gerne derbe Ausdrücke gebraucht, mich mit lüsternem Blick ansehen. Was für ein Schreck! Ich schaffte es gerade noch, den völlig fertigen Patricio aus der Wohnung zu zerren, und auf der Straße atmete ich in der Stille und der kühlen Brise erleichtert auf. (Seite 152f)
Zu Hause äußert Patricio die Überzeugung, Silvia sei Felipes Geliebte gewesen und berichtet von seinen emsigen Nachforschungen. Da spricht sie ihn auf Nathalie Jarre, an, eine seiner früheren Krankenschwestern, mit der er eine Affäre hatte, und er gibt schuldbewusst zu, das habe er völlig vergessen. Silvia behauptet, vier oder fünf Mal mit Felipe Sex gehabt zu haben. Patricio holt das obszöne Foto heraus und fordert sie auf, dieselbe Position einzunehmen. Er spreizt ihre Beine und legt einen Teil des Lakens auf ihr Gesicht. Nachdem er sie eine Weile betrachtet hat, dringt er in sie ein und fragt sie, wie es mit Felipe gewesen sei. Während sie Einzelheiten erzählt, kommt er zu einem ausgedehnten und intensiven Orgasmus, wie in seinen besten Zeiten.
Ich war wahnsinnig verliebt in Felipe, sagte ich mir, fast mit Erstaunen, aber niemand hat es gewusst, Patito nicht, niemand, und natürlich auch Felipe selbst nicht, der mit solchen Dingen nichts am Hut hatte und es nicht einmal merkte, der Unglückliche! Und meinen Doktor, Patito, den liebe ich sehr, meine Gefühle für ihn werden mit jedem Tag stärker. Hoffentlich lebt er noch viele Jahre. Aber ich glaube, Felipes Tod und all die Geschichten waren ein schwerer Schlag für ihn, all diese seltsamen Obsessionen, die sich in seinem Kopf festgesetzt haben, und in Wahrheit habe ich Angst, große Angst! Ich weiß nicht, ob ich auf dem Holzweg bin und alles kaputtmache. Einerseits sage ich mir, Patitos Fantasien sind gefährlich, Gift für ihn, die Ausgeburt eines kranken Hirns, aber andererseits erfüllen sie ihn mit neuem Leben. Wo sollte er sonst soviel Energie hernehmen? (Seite 164f)
Jorge Edwards‘ Roman „Der Ursprung der Welt“ handelt von der Obsession eines älteren eifersüchigen Intellektuellen. Edwards erzählt die Geschichte mal in der ersten, mal in der dritten Person Singular aus der Sicht des Protagonisten Patricio. Für das letzte Kapitel wählt er die Perspektive Silvias und noch einmal die Ich-Form. Mit stilistischer Brillanz, Ironie, Witz und Komik sorgt er für ein besonderes Lesevergnügen.
Jorge Edwards wurde 1931 in Santiago de Chile geboren. Er studierte in Chile und Princeton Jura und Philosophie, bevor er sein Land als Diplomat in Brüssel, Havanna, Lima und Paris vertrat. Nach dem blutigen Militärputsch von General Augusto Pinochet (1915 – 2006) gegen Salvador Allende (1908 – 1973) am 11. September 1973 ging er für fünf Jahre ins Exil nach Spanien.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2005
Textauszüge: © Verlag Klaus Wagenbach
Jorge Edwards: Faustino