Amity Gaige : Schroders Schweigen

Schroders Schweigen
Originalausgabe: Schroder Twelve, New York 2013 Schroders Schweigen Übersetzung: Monika Schmalz Hanser Berlin 2013 ISBN: 978-3-446-24366-8, 314 Seiten Taschenbuch: dtv, München 2015 ISBN: 978-3-423-14394-3, 314 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Erik Schroder sitzt in Untersuchungshaft und schreibt an einem ausführlichen Geständnis. Er berichtet, wie seine Ehe scheiterte und aus einem Ausflug mit seiner fünfjährigen Tochter Meadow eine mehrtägige Entführung geworden ist. Schroder schildert außerdem, wie sein Vater mit ihm die DDR verließ und die Mutter mit dem neuen Lebensgefährten zurückblieb. Im Alter von 14 Jahren legte Erik sich eine neue Identität zurecht und nannte sich Eric Kennedy. Unter diesem Namen heiratete er dann auch ...
mehr erfahren

Kritik

Amity Gaige entwickelt die Handlung des vielschichtigen, facettenreichen Romans "Schroders Schweigen" feinfühlig und differenziert. Ihre Sprache funkelt vor originellen Formulierungen und Vergleichen.
mehr erfahren

Erik ist fünf Jahre alt, als er seine Mutter 1975 zum letzten Mal sieht, mit seinem Vater Otto Schröder die DDR verlässt und nach Westberlin zieht. Die Mutter bleibt mit ihrem neuen Lebensgefährten zurück, einem hochrangigen Parteifunktionär, der Otto und Erik Ausreisevisa verschaffte. Eine in Westberlin lebende Schwester Ottos, die drei Söhne hat, nimmt den Bruder und den Neffen bei sich auf. Vier Jahre lang verbringen die beiden Flüchtlinge dort, dann fliegen sie von Tegel aus nach Boston, wo Elektriker gesucht werden. In den USA entfernt Otto Schröder den Umlaut aus dem Namen.

Vater und Sohn wohnen acht Jahre lang zusammen im obersten Stockwerk eines Mietshauses in Dorchester, einem Stadtteil von Boston.

Mein Vater war Sammler, Bastler, ein richtiger Streber. Mein Vater war Augenzusammenkneifer, Skeptiker, ein Sich-über-Unterlagen-Beuger, ein Geräte-Auseinandernehmer.

In der Schule wird Erik Schroder gemobbt. Als ihn ein Mitschüler zum Kampf herausfordert, rennt er davon. Am Abend erzählt er es seinem Vater, und der meint:

„Natürlich hast du nicht gekämpft ? Es ist widernatürlich zu kämpfen. Das eigentlich Natürliche ist es wegzulaufen.“

1984 bewirbt sich Erik Schroder für ein Ferienlager am Ossipee Lake in New Hampshire, aber nicht als 14-jähriger Deutscher, sondern als US-Amerikaner namens Eric Kennedy, geboren in Twelve Hills/Massachusetts, unweit von Hyannis Port. Deshalb kann er den Brief mit der Bestätigung seiner Teilnahme nicht seinem Vater zeigen. Er habe das telefonisch geregelt, lügt er.

Mit der falschen Identität immatrikuliert er sich dann auch am Mune College in Troy/New York und studiert Kommunikationswissenschaften. Nach dem Abschluss im Jahr 1990 arbeitet er sechs Jahre lang als Übersetzer am medizinischen Zentrum in Albany/New York. Parallel dazu arbeitet Eric an einem Forschungsprojekt: Er sammelt Pausen.

Damals, 1990, direkt nach meinem Abschluss in Mune, nach dem Studium einer Vielzahl der bedeutendsten Momente in der Geschichte der Menschheit, kam mir der Gedanke, ob es nicht vielleicht cool wäre, all jene literarischen, kulturellen, politischen Momente zu sammeln, in denen etwas nicht gesagt oder nicht getan worden war. Zögern, Stillstand, Flauten, Ellipsen. Nichtaktivitäten aller Art. Ich nannte mein Projekt „Pausologie: Eine experimentelle Enzyklopädie“.

Seinen Vater besucht er nur noch zweimal in Boston, einmal um seine Sachen zu holen und dann nochmals im Alter von 26 Jahren, als Otto Schroder sich wegen grauen Stars operieren lässt.

Im Washington Park in Albany begegnet Eric 1998 der vier Jahre jüngeren Lehrerin Laura, die sich um ein vom Baum gestürztes Kind kümmert. Bei ihren Eltern handelt es sich um zwei etwas engstirnige, aber gutherzige Katholiken aus Delmar/New York. Eric und Laura werden ein Paar. Als Laura vorschlägt, nach Twelve Hills zu fahren und sich gemeinsam anzuschauen, wo er aufwuchs, stimmt Eric sofort zu. Einen Augenblick glaubt er, dass das möglich sei, dass er seiner Braut den beschriebenen Leuchtturm auf Cape Cod zeigen könne und es tatsächlich einen Ort namens Twelve Hills gebe.

Und ich, der Bräutigam, aus einer (völlig fiktionalen) Stadt auf Cape Cod, die er Twelve Hills nannte, „ein Katzensprung von Hyannis Port“, behütetes Einzelkind und Träger eines Nachnamens, der allenthalben Entzücken hervorrief.

Noch mal fürs Protokoll: Der Bräutigam hat der Braut niemals weismachen wollen, dass er mit den ruhmreichen Präsidentschafts-Kennedys verwandt sei. So stand es in der Presse, und der Bräutigam weist es kategorisch zurück. Nein, es war einfach der Name „Kennedy“, dazu das „unweit von Hyannis Port“, und sofort wurden voreilige Schlüsse gezogen. Der Bräutigam räumt ein, ein oder zwei Mal spätnachts gegenüber seinen Kommilitoninnen am Mune College das Gerücht, ein Cousin zweiten Grades der Hyannis-Port-Kennedys zu sein, nicht ausreichend entkräftet zu haben.

Als Eric und Laura standesamtlich heiraten, liegt der Schwiegervater dem Bräutigam mit Fragen nach seinen Zukunftsplänen in den Ohren. Hank glaubt nicht, dass Eric als medizinischer Übersetzer ausreichend Geld verdienen kann, und von dem Forschungsprojekt hält er gar nichts. Schließlich lässt Eric sich von Hank dazu überreden, seine Stelle zu kündigen und ein Maklerzertifikat zu erwerben.

Bald nach seiner Eheschließung wurde der Bräutigam Immobilienmakler, wenn auch nicht aus freien Stücken.

Die neue, vom Schwiegervater vermittelte Tätigkeit bei Clebus & Co. bringt Eric üppige Provisionen ein. Das Einkommen ermöglicht es dem Ehepaar, eine Familie zu gründen: Die Tochter wird auf den Namen Meadow getauft.

Und so hielt ich mich in Sachen Vaterschaft in diesen frühen Jahren eher zurück. Ich war der Versorger. Es erfüllte mich mit Stolz, dir die Zeit zu Hause mit dem Baby ermöglichen zu können. Meine Arbeitszeiten waren erfreulich unregelmäßig, und so startete ich als Freizeitkicker richtig durch. Ich freundete mich mit Kunden an, ging im Winter mit ihnen drei Stunden lang zu Mittag essen, unternahm im Sommer spontane Ausflüge nach Saratoga.

Als die Immobilienblase 2008 platzt, bleibt Eric ein Jahr lang als Hausmann daheim und umsorgt die dreijährige Tochter, während Laura als Lehrerin arbeitet.

Unsere Tage waren randvoll. Ich fand mich allmählich hinein in die Kindererziehung. Ich war nicht mehr verbittert wegen des kaputten Immobilienmarkts oder weil ich nichts mehr verdiente. Ich ertrug die einzigartige Schmach, meine Frau um Taschengeld zu bitten.

Eric bringt Meadow in diesen Monaten das Lesen bei und freut sich über die Wissbegierigkeit seiner Tochter. Aber in dem Jahr, in dem Eric den Haushalt führt und sich um Meadow kümmert, stellen er und Laura fest, dass sie sich auseinander entwickelt haben.

[…] deine zunehmende Hinwendung zum katholischen Glauben, meine Faulheit, dein Bedürfnis nach Ordnung und Struktur, meinen Mangel an Disziplin, deine gequälte Schweigsamkeit, meine Neigung, zu viel zu reden […]

Laura regt sich auf, als sie erfährt, dass er das dreijährige Mädchen zu einer Sitzung der Anonymen Alkoholiker mitnahm, bei der er einen Freund unterstützen wollte. Noch entsetzter ist sie, als sie herausfindet, dass er Meadow am Beispiel einer verdorbenen Mandarine die Vergänglichkeit des Lebens erklärte und dann dem Kind über Tage hinweg immer wieder den verwesenden Kadaver eines Fuchses zeigte.

„Alles, was stirbt, wird irgendwann matschig.“

Nach einem Jahr arbeitet Eric trotz des zusammengebrochenen Immobilienmarktes erneut als Makler, und Laura verbringt nun wieder mehr Zeit als er mit der Tochter. Meadow ist fünf Jahre alt, als die Eltern sich trennen. Eric zieht in eine Maisonettewohnung in einem himmelblauen Mietshaus. Das Kind bleibt bei der Mutter, darf ihren Vater jedoch regelmäßig besuchen und mit ihm zusammen einige Stunden verbringen.

Selbst in unserem Trennungsjahr, dem Jahr, in dem du dich von mir löstest, hätte ich mir niemals träumen lassen, dass meine Beziehung zu Meadow in Gefahr wäre. Wir hatten ein inniges Verhältnis; wir hatten gerade ein ganzes Jahr miteinander verbracht. Selbst als es vorbei war und ich wie geplant wieder arbeiten ging und als sie gegen meine Einwände an der katholischen Vorschule angemeldet wurde, waren wir, wie ich fand, einander eng verbunden.

Weil Eric die wenigen Stunden mit Meadow zu wenig sind und er befürchtet, dass Laura seinen Umgang mit der Tochter weiter einschränken könnte, schaltet er den Rechtsanwalt Rick Thron ein. Der fragt als erstes nach den Scheidungspapieren, und als er erfährt, dass Eric und Laura noch gar keinen Scheidungsantrag eingereicht haben, meint er: „Dann stellen wir ihn heute. Ohne Scheidung kann man nicht prozessieren.“ Thron schlägt seinem Mandanten vor, einen Sorgerechtsgutachter zu engagieren, aber die andere Seite kommt ihnen zuvor: Die Gutachterin Sonja Vang verabredet sich mit Eric in einem Park. Sie will ihn und das Kind eine Weile beobachten. Eric redet sogleich auf sie ein und legt ihr eifrig seine differenzierten Ansichten über Ehe und Familie dar, bis sie ihm den Wind aus den Segeln nimmt:

„Und was ich bei diesen Sorgerechtsgeschichten sehe, sind meist Leute, die sich viel zu viele Gedanken machen. Leute, die ganz leicht ihre Differenzen auf die Reihe kriegen könnten, wenn sie den Kopf nicht voller Ideen hätten. Leute, die lieber recht haben, als dass sie glücklich sind.“

„Und an irgendwelchen Elternschaftstheorien hab ich überhaupt kein Interesse.“

Dann fragt sie nach Meadow. Die ist nirgendwo zu sehen. „Sie sollten besser aufpassen“, meint die Gutachterin, während sie Eric bei der Suche nach dem Kind hilft, das sie schließlich in der Krone einer Birke entdecken, in deren Ästen sich der abgestürzte Drachen verfangen hat.

Dem Gutachten zufolge stellt Eric Kennedy eine Gefahr für seine Tochter dar. Dementsprechend wird es ihm verboten, unbeaufsichtigt mit Meadow zusammen zu sein.

Während eines Besuchs seiner Tochter schlägt Eric vor, mit dem Auto einen Ausflug zum Lake George im Norden des Staates New York zu unternehmen. Unterwegs bemerkt er, dass ihnen der Schwiegervater folgt. Dieses Misstrauen hält er für ungerechtfertigt, und weil er sich die Beschattung nicht gefallen lassen will, gibt er Gas. Nachdem er Hank durch gefährliche Fahrmanöver abgehängt hat, stiehlt Eric in Loudonville den geparkten Mini eines Bekannten und wechselt den Wagen.

Hat der Angeklagte die Entführung vorsätzlich geplant?
Die Antwort lautet nein. Oder sagen wir: nicht direkt.

Während er sich am Badestrand des Sees mit einer Frau unterhält, weist ihn deren Ehemann darauf hin, dass seine Tochter voll angezogen im kalten Wasser sei. Eric schwimmt Meadow nach und holt sie zurück ans Ufer. Später fahren sie weiter über Ticonderoga nach Plattsburgh.

Ich beschloss, nach Kanada zu fahren. Nur kurz. Ich hatte meinen Reisepass dabei, und mir war klar, selbst wenn der Opi die Polizei in Sachen Eric Kennedy benachrichtigt hatte, suchte zurzeit noch niemand nach einem Eric Schroder. Und da ich Meadows Pass nicht dabeihatte und da sie schlief, dachte ich mir, ich nehme sie einfach und lege sie in den Kofferraum und fahre mit ihr über die Grenze.

Als er das schlafende Kind kurz vor Champlain behutsam in den Kofferraum gelegt hat, wacht es auf und fragt: „Warum bin ich im Kofferraum?“ Weil Meadow nach Luft ringt und Eric einen Asthma-Anfall befürchtet, reicht er ihr den Albuterol-Inhalator, den sie immer bei sich haben muss.

Sobald Meadow wieder ruhig atmet, hebt Eric sie aus dem Kofferraum, und statt die kanadische Grenze zu überqueren, nimmt er mit ihr die Fähre von Plattsburgh zur Grand Isle. Auf der bereits zum Bundesstaat Vermont gehörenden Insel stoßen sie durch Zufall auf eine Frau, die zwei Ferienhütten zu vermieten hat.

„Bei mir gibt’s kein Frühstück und auch sonst keinen Service“, fuhr die Frau fort. „Ich hab kein Internetz. Ich hab ja nicht mal ein verdammtes Telefon.“

Da werde man ihn und Meadow nicht so leicht finden, denkt Eric. Unvorsichtigerweise nimmt er sie mit in eine Kneipe. Weil es dort ein Telefon gibt, meint sie, sie müssten endlich ihrer Mutter Bescheid sagen. Während Eric so tut, als telefoniere er, sieht er sich im Fernsehen: Es heißt, Meadow sei von ihrem Vater entführt worden. Die Polizei fahndet nach ihnen. Eric hofft, dass weder der Barkeeper noch die Gäste darauf achten. Er kehrt zum Tresen zurück und belügt Meadow, indem er behauptet, Laura habe erlaubt, dass sie ein paar Tage zusammen Ferien machen.

Nach dem Kneipenbesuch schlägt er seiner Tochter ein Spiel vor und erklärt, dass man dabei andere Namen benutze. Meadow wählt „Chrissy“, Eric nennt sich „John Toronto“.

Mit diesem Namen stellt er sich am nächsten Morgen der Frau vor, die in der benachbarten Ferienhütte übernachtet hat. Daraufhin behauptet sie, April Los Angeles zu heißen. Ihr wirklicher Name lautet April Almond. Nach ihr wurde ein Song benannt, der 1981 drei Wochen lang in den amerikanischen Top Forty war. Damals war sie 19. Am Abend bringt er Meadow zu Bett und bleibt dann über Nacht bei April, obwohl er seiner Tochter vor dem Einschlafen versprochen hat, sie nicht allein zu lassen. Am nächsten Morgen, als Eric alias John und April noch im Bett liegen, steht Meadow aufgebracht in der Tür. Der Vater erklärt ihr:

„April und ich sind – zwei Kleidungsstücke, die sich aus Versehen im Trockner verknäult haben. April und ich haben uns gegenseitig ein wenig Trost gespendet.“

Meadow vermisst ihre Mutter und die Großeltern. Mit ihrer Freude an den angeblichen Ferien ist es vorbei.

Eric und Meadow sind ein gutes Stück von den Ferienhütten entfernt, als April mit dem Wagen neben ihnen hält und Eric zuflüstert:

„Pass auf. Wenn ihr jetzt zurückgeht, lauft ihr drei Polizisten des Staats Vermont in die Arme. Drei Polizeiautos. Erst kam das eine, dann die anderen beiden, ohne Sirene. Sie waren schon in eurer Hütte.“

Ohne Fragen zu stellen, fährt April mit den beiden Gesuchten nach New Hampshire und setzt sie dort vor einer Hütte in der Nähe von Ragged Mountain ab, die ihrem Cousin gehört, der gerade eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Nach ein paar Tagen kommt Eric auf die Idee, Meadow seinem Vater vorzustellen. Ein Handwerker nimmt sie im Auto mit nach Conway, und dort steigen sie in einen Bus nach Boston. Während der Fahrt beichtet Eric seiner Tochter, dass ihr Großvater in Boston Otto Schroder heiße und Deutscher sei.

„Ich bin eigentlich nicht in Twelve Hills aufgewachsen. Ich wünschte, ich wäre in einer Stadt wie Twelve Hills aufgewachsen. Aber stattdessen bin ich ganz in der Nähe aufgewachsen, in einer Stadt namens Dorchester, die du bald kennenlernen wirst. Und davor, lange davor“ – ich räusperte mich – „wurde ich in Deutschland geboren.“

Eigentlich wollte Eric gleich nach der Ankunft in Boston mit Meadow zu seinem Vater, aber dann zeigt er ihr erst einmal die Stadt, und darüber vergisst er die Zeit. Schließlich ist es zu spät für einen Besuch, und Eric verschiebt ihn auf den nächsten Tag.

Im Hotelzimmer bekommt Meadow einen Asthma-Anfall. Den Inhalator ließen sie mit allen anderen Sachen in der Ferienhütte in Vermont zurück. Als Meadow das Bewusstsein verliert, hebt Eric sie auf, eilt zum Nachtportier und fragt nach dem nächsten Krankenhaus. Das sei nicht weit, erklärt der Mann und zeigt Eric den Weg. Während der Vater mit dem Kind auf den Armen die Straße entlang rennt, hält ein Streifenwagen neben ihm, und der Polizist fordert ihn zum Einsteigen auf. Der Beamte bringt sie zum Massachusetts General Hospital.

Nachdem Meadow starke Medikamente bekommen hat und schläft, erklärt Eric der behandelnden Ärztin, der Inhalator sei seiner Tochter aus dem Rucksack gefallen.

Der Polizist benötigt noch ein paar Angaben für seinen Bericht und begleitet Eric auf dem Weg zur Krankenhaus-Verwaltung, wo das Anmeldeformular ausgefüllten werden muss. Eric gibt sich als „John Torrain“ aus und behauptet, seine Tochter heiße Jessica bzw. Jessie. Die Mutter sei mit der jüngeren Tochter zu Hause in Conway, lügt Eric. Er habe sie bereits telefonisch über Jessies Asthma-Anfall unterrichtet, und sie warte nun ungeduldig auf die Nachricht, dass er mit Jessie unterwegs nach Hause sei.

Als Eric zurückkommt, ist seine Tochter aufgewacht, und eine anwesende Krankenschwester nennt sie Meadow. Das Kind hat also seinen richtigen Namen verraten!

Noch bleibt Zeit für eine Flucht. Eric überlegt, ob er Meadow mitnehmen oder allein losrennen soll, tut jedoch weder das eine noch das andere. Er bleibt bei Meadow im Zimmer.

Der hilfsbereite Polizist schaut erneut herein. Eric soll ihn nach draußen begleiten. Meadow gefällt es nicht, dass der Vater sie allein lässt.

„Du bist sofort zurück?“
„Ja“, sagte ich.
Sie legte ihre Hand auf meine. „Versprochen?“
„Versprochen.“

Draußen warten zwei weitere Polizisten auf Erik Schroder, um ihn festzunehmen.

„Wir haben Sie aus dem Zimmer geholt, damit sich die Kleine nicht aufregt.“
„Aber sie wird sich aufregen, wenn sie feststellt, dass ihr Vater weg ist!“

„Sie wird denken, ich hätte sie verlassen“, weinte ich meinem Häscher ins Ohr. „Sie wird denken, ich hätte sie im Stich gelassen. Ich habe gesagt, ich bin gleich wieder da! Ich hab’s ihr versprochen!“

Die Polizisten haben kein Mitleid mit dem Kindesentführer. Während der Vernehmung sagt Lieutenant Stavros, dass Otto Schroder vor drei Jahren in Boston im Alter von 72 Jahren an einer Lungenentzündung gestorben sei. Erik hält das für eine Lüge, einen Verfahrenstrick. Stavros weist ihn auf die Schwere seiner Straftat hin:

„Wissen Sie eigentlich, dass in drei Staaten Haftbefehl gegen Sie erlassen wurde? New York, Vermont, New Hampshire. Je nach Gesetzeslage könnte man Sie wegen Kindesentführung anklagen. Die Höchststrafe dafür sind fünfundzwanzig Jahre.“

„Versetzen Sie sich mal in die Lage Ihrer Frau“, fährt er fort. „Sie hat gerade festgestellt, dass Sie jemand ganz anderes sind, als Sie immer behauptet haben. Ihre gesamte Identität – Ihre Vergangenheit, alles – nichts ist so, wie Sie behauptet haben. Sogar ihr Nachname, der Ehename Ihrer Frau, ist eine Erfindung.“

Daraufhin sagt der Delinquent kein Wort mehr. Erik Schroder schweigt.

„Sie haben keine Lust zu reden“, sagt er [Stavros]. „Auch gut.“
Er nimmt einen gelben Schreibblock und einen Stift zur Hand. Er schiebt mir beides über den Tisch.
„Dann schreiben Sie’s auf“, sagt er. „Schreiben Sie’s auf. Von Anfang bis Ende.“

Erik Schroder fängt zu schreiben an.

Was folgt, ist ein Bericht darüber, wo Meadow und ich seit unserem Verschwinden gewesen sind.
Mein Anwalt sagt, ich soll die ganze Geschichte erzählen.

Und als er in die Albany County Correctional Institution gebracht wird, macht er dort weiter, drei Wochen lang.

Ich habe dir, Laura, geschrieben Ich habe für dich geschrieben und wegen dir und mit dir vor Augen, wie du mir in deiner alten grauen Strickjacke am Küchentisch gegenübersitzt. Hätte ich gedacht, du hörst mir nicht zu, wäre es mir unmöglich gewesen, alles aufzuschreiben. Aber jetzt, wo ich zum Schluss komme, wo ich in der Gegenwart angekommen bin, erkenne ich auf einmal, dass ich nicht von dir verlangen kann, es zu lesen. Oder vielleicht begreife ich, dass du es niemals lesen wirst.

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Der Protagonist Erik Schroder ist keine sympathische Identifikationsfigur. Immerhin handelt es sich um einen Kindesentführer und Betrüger mit falscher Identität und erfundener Vergangenheit. Aber Amity Gaige ist es gelungen, Erik Schroder alias Eric Kennedy mit seinen Emotionen und seiner Liebe zur Tochter, mit seinen Schwächen und in seiner Unbeholfenheit so zu charakterisieren, dass wir sein Handeln verstehen und mit ihm fühlen.

Amity Gaige entwickelt die Geschichte nicht linear, sondern in Rückblenden, und auch das nicht chronologisch. Sie gibt den Text als schriftliches Geständnis des Häftlings Erik Schroder aus und lässt ihn als Ich-Erzähler zu Wort kommen, zu einem Zeitpunkt, als er bereits vor den Scherben nicht nur seines Familienlebens, sondern auch seiner erfundenen Vergangenheit sitzt. Der Roman „Schroders Schweigen“ weist viele Facetten auf. Feinfühlig und differenziert beschäftigt sich Amity Gaige mit der Liebe und ihrem Scheitern, der Rolle eines Vaters, der Beziehung von Vater und Tochter, zugleich aber auch mit notorischer Lüge und Flucht. Die Sprache funkelt vor originellen Formulierungen und Vergleichen.

Ein Deutscher, der sich als Amerikaner ausgibt und in den USA ein Kind entführt: Amity Gaige ließ sich möglicherweise von dem Fall des Deutschen Christian Karl Gerhartsreiter inspirieren, der sich in den USA als Amerikaner ausgab, unter anderem Clark Rockefeller nannte und seine Tochter entführte. Die Handlung des Romans nimmt jedoch einen völlig anderen Verlauf; „Schroders Schweigen“ ist keine literarische Aufarbeitung des realen Geschehens.

Amity Gaige wurde 1972 in Charlotte/North Carolina als Tochter eines Akademiker-Ehepaares geboren. Sie studierte Englisch und Theater an der Brown University in Providence/Rhode Island und besuchte 1997 bis 1999 eine Schreibwerkstatt. 2005 veröffentlichte Amity Gaige ihren ersten Roman: „O My Darling“. Zwei Jahre später folgte „The Folded World“. Übersetzungs-Rechte für „Schroder“ / „Schroders Schweigen“, ihren dritten Roman, wurden bereits vor dem Erscheinen der Originalausgabe in mehr als ein Dutzend Länder verkauft.

Den Roman „Schroders Schweigen“ von Amity Gaige gibt es in einer gekürzten Fassung auch als Hörbuch, gelesen von Hans-Werner Meyer (Regie: Karin Weingart, ISBN 978-3-8371-2271-8).

 

nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)

Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2015
Textauszüge: © Carl Hanser Verlag

Christian Karl Gerhartsreiter alias Clark Rockefeller

Frank McCourt - Die Asche meiner Mutter
In seiner romanhaften Autobiografie beschreibt Frank McCourt, was er zwischen 1935 und 1948 erlebte. Er tut es in einfacher Umgangssprache und aus der Sicht des Kindes bzw. Jugendlichen, weder larmoyant noch bitter, sondern ironisch und humorvoll.
Die Asche meiner Mutter

 

(Startseite)

 

Nobelpreis für Literatur

 

Literaturagenturen

 

Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.