Anna Katharina Hahn : Kürzere Tage

Kürzere Tage
Kürzere Tage Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-518-42057-7, 223 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2010 ISBN: 978-3-518-46158-7, 223 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Eine Karrierefrau mit Kindern beneidet eine nicht berufstätige Mutter um deren vermeintliche Bilderbuch-Familie. Sie ahnt nicht, dass diese ihre Versagensängste nur mit heimlich genommenen Tabletten erträgt. Den Gegenpol zu den nur scheinbar intakten Beziehungen bilden zwei kinderlose Eheleute, die zusammen alt geworden sind. Ganz anders ist ein 12-Jähriger, dessen Mutter bei seiner Geburt erst 16 war ...
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Kritik

Anna Katharina Hahn überzeugt durch nuancierte, eindringlinge Milieuschilderungen. In der zweiten Hälfte von "Kürzere Tage" wühlt sie uns zunächst mit einer tieftraurigen Geschichte auf und reißt uns dann in einen dramatischen Strudel nicht ohne tragikomische Elemente hinein.
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Judith raucht hastig, mit dem Rücken gegen die Wohnungstür gelehnt. Sie lässt den Rauch tief in ihre Brust einströmen und atmet ihn durch die Nasenflügel wieder aus. Das Verlangen nach einer Zigarette, schlimmer als der Druck einer vollen Blase, beherrscht schon den ganzen Tag. Am Morgen waren die Kinder zu ihr ins Bett geschlüpft, bevor sie sich hinausschleichen konnte, um auf dem Küchenbalkon zu rauchen. (Seite 7)

Judith Rapp lebt mit ihrem Ehemann Klaus und ihren beiden fünf bzw. drei Jahre alten Söhnen Ulrich („Uli“) und Kilian im Lehenviertel in Stuttgart, einer guten Wohngegend, in der die Altbauten unter Denkmalschutz stehen. Eigentlich heißt sie Jutta, aber sie hat sich längst daran gewöhnt, dass man sie Judith nennt.

Ihre Eltern betreiben in Kirchheim unter Teck ein Küchenstudio. Sie studierte Kunstgeschichte, stellte jedoch ihre Magisterarbeit über Otto Dix nie fertig. Während des Studiums hatte sie ein Verhältnis mit dem Tübinger Medizinstudenten Sören Rönne. Judith Seysollf – so lautete ihr Mädchenname – wohnte damals im Osten von Stuttgart, und er besuchte sie an den Wochenenden. Sören verheimlichte ihr nicht, dass er auch noch andere Geliebte hatte, aber sie wollte davon nichts hören.

Als sie es nicht mehr aushielt, packte sie überstürzt ihre Sachen und fuhr – ohne sich von Sören auch nur zu verabschieden – zu Klaus Rapp, der ein Jahr lang in der Etage unter ihr gewohnt hatte und inzwischen ins Lehenviertel gezogen war. Sie stellte ihre Kisten vor der Haustüre ab und wollte im Freien warten, bis er von der Arbeit nach Hause kam. Luise Posselt, eine betagte Nachbarin, erkundigte sich, was sie vorhatte. Judith log ihr etwas von einer bevorstehenden Hochzeit mit Klaus vor. Daraufhin holte die Greisin den Wohnungsschlüssel, den er ihr anvertraut hatte und ließ Judith ein, damit sie es sich bequem machen konnte. Klaus reagierte nicht begeistert, als er sie in seiner Wohnung vorfand, denn er war mit der Musiktherapeutin Annett zusammen.

Am Ende wurden sie doch ein Ehepaar, und dann kamen die beiden Kinder. Klaus arbeitete einige Zeit als Maschinenbau-Ingenieur für einen Autozulieferer und kehrte dann als Dozent an die Universität zurück. Inzwischen hat er eine Professur.

Dass sie einen Entzug hinter sich hat, weiß Klaus nicht. Er merkte es auch nie, als sie während der Schwangerschaften nachts heimlich aufstand, um gierig eine Zigarette zu rauchen. Ebenso wenig ahnt er, dass sie ihre Versagensängste, Panikattacken und Schlafstörungen mit „Tavor“-Tabletten bekämpft.

Leonie Munk, die im Haus gegenüber wohnt, hält die Rapps für eine Bilderbuchfamilie. Durchs Fenster sieht sie, dass sie zum Tischtuch passende Stoffservietten benutzen. Während sie ihren Ehemann Simon während der Woche kaum sieht, weil er im Büro so viel zu tun hat, kommt Klaus Rapp in der Regel schon früh nach Hause und verbringt den Rest des Tages mit seiner Familie. Leonie staunt über die beiden wohlerzogenen Kinder, die viel ruhiger sind als ihre eigenen Töchter, die fünfjährige Lisa und die zwei Jahre alte Felicia („Feli“). Da merkt man, dass Judith Rapp sich den ganzen Tag um ihre Söhne kümmern kann, während Leonie berufstätig ist. Sie arbeitet in der Kommunikationsabteilung einer Privatbank.

Simon Munk hat es inzwischen zum Vertriebsleiter bei einem Autozulieferer gebracht. Er wuchs als unehelicher Sohn einer Parfümerieverkäuferin in Stuttgart-Heslach auf. Leonie, deren Vater Wirtschaftsprüfer ist, verachtet ihn deshalb insgeheim, und wenn sie in Streit geraten, wirft sie ihm vor, ein Prolet zu sein. Sie lernten sich vor zehn Jahren kennen, als er noch Maschinenbau studierte und bei seiner Mutter wohnte. Schon am zweiten Abend ließ sie sich von ihm auf der Rücksitzbank seines alten Fiat deflorieren. Seither sind sie zusammen – abgesehen von einem knappen Jahr, das Leonie in Montpellier verbrachte. Damals starb seine Mutter Ingrid. Er holte Leonie daraufhin aus Frankreich und zog mit ihr in eine WG am Ostendplatz in Stuttgart. Einige Jahre später kauften sie ein Reihenhaus in Stuttgart-Heumaden, und nun leben sie in einer Wohnung mit sechs Zimmern und Stuckdecken im Lehenviertel, die so viel kostet, wie in weniger vornehmen Gegenden ein ganzes Haus. Die Miete verschlingt Leonies komplettes Gehalt. Aber Simon ist stolz auf seinen Weg von Heslach ins Lehenviertel, und Leonie nimmt an, dass er noch einmal umziehen möchte, sobald sie sich noch mehr leisten können.

Wenn Uli und Kilian etwas von Frau Posselt geschenkt bekommen, wirft Judith es in den Müll, denn sie ekelt sich vor der alten Frau, die nach schmutziger Unterwäsche riecht.

Tatsächlich duschen Luise und Wenzel Posselt nicht mehr, und sie steigen auch nicht mehr in die Badewanne, weil ihnen das aufgrund ihrer Gebrechlichkeit zu gefährlich erscheint. Für die Morgentoilette benutzen sie einen Waschlappen, so wie es früher üblich war. Schon seit längerer Zeit waren sie nicht mehr in der Stadt; was sie benötigen, kaufen sie bei dem türkischen Lebensmittelhändler Nâzim im Viertel. Das Geschäft ist sehr gepflegt, aber den Preisen nach könnte es sich auch im Flughafen befinden.

Frühmorgens muss Luise Posselt zur Toilette. Vorsichtig steht sie auf, damit Wenzel nicht wach wird. Zum Glück braucht sie den Hund Schlamper nur zur Wohnzimmertür in den kleinen Hinterhofgarten hinauszulassen, denn er verscharrt seine Hinterlassenschaften wie eine Katze. (Luise Posselt ahnt nicht, dass Judith die Hundehaufen wegen der spielenden Kinder mit einem Spaten vergräbt.)

Während Luise Kaffee kocht, erinnert sie sich an früher.

Sie kommt aus Uhlbach, wo ihre Eltern einen Weinberg, Obstwiesen und Schweine besaßen. Mit vierzehn beendete sie die Schule und wurde Hilfskontoristin in einer Stuttgarter Schokoladenfabrik. Ihr Verlobter hieß Eugen und war bei der SS. Einmal schenkte er ihr einen Silberfuchs. Sie musste nur noch ein Schildchen mit der Aufschrift „Helene Seligmann, Stuttgart“ abtrennen. Er fiel in Stalingrad. Im August 1945 lernte sie Wenzel Posselt kennen, einen Flüchtling aus dem Sudetenland. Sie heirateten am 9. September 1946. Während ihre Ehe kinderlos blieb, brachte Wenzels Schwester Traudl, die als Lehrerin arbeitete und mit einem Ingenieur namens Erich Bruscha verheiratet war, eine Tochter zur Welt. Sie heißt Brunhilde („Bruni“) und besucht Onkel und Tante regelmäßig. Erich Bruscha starb früh an Bauchspeicheldrüsenkrebs; Traudl wurde einige Jahrzehnte später in ihrer Küche vom Schlag getroffen.

Plötzlich schreckt Luise hoch. Sie ärgert sich darüber, dass sie nach Greisenart im Sitzen eingenickt ist. Über die Kaffeekanne hat sie zwar eine Wärmehaube gezogen, doch wenn Wenzel nicht bald aufsteht, wird der Kaffee trotzdem kalt sein. Sie schlurft ins Schlafzimmer, um nach ihm zu schauen.

Im Zimmer ist es dunkel, aber sie sieht Schlamper vor dem Bett sitzen. Jetzt dreht er ihr den Kopf zu. Die braunen Augen glänzen. Er wedelt, blafft kurz. „Wir wecken jetzt dein Herrle. Komm, wir ziehn das Rouleau hoch.“ Luise fasst den altersgrauen Gurt und lässt den Laden hochschnurren. Der Gurt schnalzt zurück. Sie tritt ans Bett und schlägt behutsam die Decke zurück. Wenzel liegt auf der Seite. Sein Mund steht offen, die Augen sind geschlossen. Unter dem weißen, wirren Haar sieht sein Gesicht gelblich aus. Luise setzt sich auf die Matratze und greift nach seiner Hand. Die Hand ist kalt. (Seite 152)

Statt Bruni oder einen Arzt anzurufen, nimmt Luise eine Schüssel von ihrem besten zwölfteiligen Service und füllt sie mit warmem Wasser. Sie weiß, dass man eine Leiche auch mit Essig waschen kann, aber Wenzel hat Wein verdient. Weil sie zu schwach ist, um den Korken aus der Flasche Trollinger zu ziehen, die Wenzel unlängst kaufte, schlägt sie den Hals an der Spüle ab und gießt einiges von dem Wein ins Wasser. Dann tränkt sie einen Serviette aus Damast mit Cognac und reibt Wenzel damit das Gesicht ab. Sie zieht ihm den Schlafanzug aus, wäscht ihn, und während sie noch einmal seinen Penis in die Hand nimmt, denkt sie daran, dass sie sich auch noch im hohen Alter liebten. Aus dem Schrank holt sie Unterwäsche, dunkle Socken, einen guten schwarzen Anzug und Lederschuhe. Obwohl ihre Rückenschmerzen kaum zu ertragen sind, bekleidet sie den Toten. Nachdem sie ihm mit einer zweiten Damast-Serviette das Kinn hochgebunden hat, faltet sie ihm die Hände auf der Brust und zieht die Bettdecke bis zur Hüfte hoch.

Einige Stunden später packt Marco Knopp seine Sachen. Der Zwölfjährige wohnt mit seiner Mutter Anita und deren Lebensgefährten Achim („Pornostar“) in einem Hochhaus ganz in der Nähe.

Marcos Mutter war bei seiner Geburt erst sechzehn. Ihr ein Jahr älterer Freund Tobi hatte sie während der Schwangerschaft verlassen und war nach Marbach gezogen. Marco hat ihn nie gesehen; er kann sich nur an Anitas Lebensgefährten Eino Rännumees erinnern. Der Este hielt es schließlich in Stuttgart nicht mehr aus und kehrte in seine Heimat zurück. Marco war bis vor kurzer Zeit Bettnässer. Wenn ihn seine Mutter morgens im nassen Bett erwischte, riss sie das Laken herunter, drehte es zu einer Wurst und schlug damit nach ihm.

Vor drei Jahren tauchte Pornostar auf und verschaffte Anita einen Job bei der Reinigungsfirma, bei der er beschäftigt war. Gleich bei der ersten Begegnung verprügelte er Marco mit einem Staubsaugerrohr.

Dann wurde die Mattscheibe plötzlich schwarz […] Im Türrahmen stand der Mann mit der Fernbedienung in der Hand. Der Mann hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Er trug ein Muskelshirt, Shorts und Basketballstiefel […]
„So, Sportsfreund, Feierabend.“ […]
Er kam langsam näher und schleuderte die Fernbedienung über den Couchtisch […] Der Mann nahm die Mäusespecktüte in die Hand und drehte sie oben zusammen, als wollte er sie erwürgen. „He!“, sagte Mini-Marco, „das sind meine!“ „Du musst Marco sein. Ich bin der Achim. Ab heute werde ich bei euch wohnen. Ist alles besprochen mit deiner Mutter. Sie und ich, wir kennen uns schon ’ne Weile.“ […] Achim schleuderte ihm die Tüte ins Gesicht. „Schaff das Zeug raus, aber dalli. Hier gibt’s keine Sauerei im Zimmer. Hast du verstanden?“ […] „Was soll das, du hast mir gar nix zu sagen!“ […] Achim räusperte sich […] „Ich red nicht gern viel, deshalb sag ich es nur einmal, verstehst du? Ich arbeite viel und hart. Und wenn ich nach Hause komme, dann ist hier Ruhe. Keine Glotze, kein Dreck. Der Russe, der da vorher bei euch gewohnt hat, dem hat das vielleicht gefallen […] Die kennen das nicht anders, die Russen […] Aber damit ist jetzt Schluss, verstanden?“ Mini-Marco hatte nicht verstanden, warum er aus dem Zimmer ging, in die Küche, er wühlte da rum, es klirrte. Was kam jetzt? […] Dann kam Pornostar wieder, den Staubsauger in der Hand. Marco wusste noch genau, dass Mini-Marco damals dachte: „Aha, die Krümel, die Kokoskrümel vom Mäusespeck, die auf dem Sofa rumliegen wie kleine Würmchen, jetzt muss ich die wohl wegsaugen.“ […] Erst dann war bei Mini-Marco was eingerastet, als er checkte, dass Pornostar nicht den ganzen Staubsauer mitgebracht hatte, sondern nur das Rohr mit dem Saugding vorne daran. (115ff)

Marco lief fort und fuhr mit der S-Bahn zu seiner Oma Bine nach Marbach, aber an der Endhaltestelle wartete schon Pornostar mit dem Auto auf ihn, und weil er vor Angst in die Hose pinkelte, ließ Pornostar ihn nicht auf die Polster, sondern er musste in den Kofferraum klettern.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Diesmal will Marco es klüger anstellen. Sein Ziel ist auch nicht Marbach, sondern Estland. Zum Glück hatte er den von der Mutter zerknüllten Zettel aufgehoben, auf den Eino zum Abschied seine Adresse geschrieben hatte. Marco weiß auch schon, wie er sich das erforderliche Geld beschaffen kann: Zu seiner Clique gehören Murat, Hassan und Ufuk. Murat, der gerade bei seinem Großonkel Nâzim ein Praktikum machen muss, erzählte neulich, dass der Lebensmittelhändler seine Ersparnisse in einer Dose im Laden aufbewahrt, weil er den deutschen Banken misstraut. Dieses Geld benötigt Marco für die Reise.

Nachdem er Ravioli direkt aus der Büchse gegessen hat, holt er aus der Küche eine Flasche Spiritus und sucht bei Pornostars Sachen ein Feuerzeug, das wie eine Pistole aussieht.

Ungefähr zur gleichen Zeit kommt Leonie von einer Geburtstagsfeier ihrer Freundin Conny aus Tübingen zurück. Simon war auch eingeladen, aber er musste arbeiten. Bevor Leonie losfuhr, hatte sie ihre Putzhilfe Frau Kienzle gebeten, auf die Kinder aufzupassen, bis Simon nach Hause kam. Auf der Geburtstagsfeier lernte Leonie einen Mann kennen. Tobias und sie verabschiedeten sich schon früh und fuhren zu seinem Hotel. Sie begannen, sich auszuziehen, aber dann besann Leonie sich, und Tobias zeigte Verständnis. Er ließ sie im Bett schlafen und verbrachte die Nacht in einem Sesel. Zum Abschied schenkte er ihr „Die Nacht auf dem Rücken“, einen Band mit Erzählungen von Julio Cortázar.

Zurück in Stuttgart, will Leonie als Erstes Lisa und Feli vom Kindergarten abholen. Zu ihrer Verwunderung erfährt sie von der Kindergärtnerin, dass Simon bereits vor ihr da war, und als sie nach Hause kommt, sind die Mädchen mit ihm beim Pizza-Backen. Er erzählt ihr, er habe Lisa und Feli am Morgen nur mit dem Versprechen bändigen können, er werde sich den Nachmittag frei nehmen. Als er merkt, dass sich schlecht fühlt, erkundigt er sich besorgt, was los sei, aber Leonie fährt ihn an und sie geraten in Streit. Die Mädchen schauen zur Tür herein. Leonie scheucht sie wütend hinaus.

Plötzlich hält Simon inne: Wo sind die Kinder? Gemeinsam suchen sie nach ihnen, zuerst im Haus und dann auf der Straße.

Sie laufen zu Nâzim und fragen ihn, ob er Lisa und Feli gesehen habe. Doch er kann ihnen auch nicht helfen. Sie stehen noch im Laden, da stürmt Marco herein, und sie sehen, wie er mit einer Pistole auf Nâzim zielt. Der Lebensmittelhändler öffnet die Kasse und lässt den Jungen die Banknoten herausnehmen, aber Marco verlangt die Dose mit den Ersparnissen, und als Nâzim beteuert, kein weiteres Geld zu haben, gießt der Zwölfjährige Spiritus aus und setzt die Lache mit der Pseudo-Pistole in Brand.

Kurz zuvor begegnete Judith der allein erziehenden Mutter Hanna Bodenwerder und ihrem kränklichen Sohn Mattis. Plötzlich bekam Mattis einen Asthmaanfall.

Dann brach Mattis in die Knie, niedergestreckt wie von einem Schuss aus der Dunkelheit. Seine Hand glitt aus Hannas Griff. Er krümmte sich nach vorne und würgte, wälzte sich auf dem Boden, nur wenige Meter vor Judiths erdverschmierten Gummistiefeln. Das Zeug, das aus seinem Mund kam, war schaumig und gelb […] Hanna ließ ihre Einkäufe und Mattis‘ Kinderrucksack fallen. Spitze braune Obsttüten purzelten aus dem Baumwollbeutel. Unter ihrem Poncho riss sie einen Schlüsselbund hervor, mit dem sie an der Reihe der parkenden Autos entlang bis zu ihrem rostfleckigen, giftgrünen Renault rannte. Sie öffnete die Tür, klappte den Beifahrersitz nach vorne und war schon wieder bei dem würgenden Mattis, den sie hochhob, als wäre er ohne jedes Gewicht. (Seite 197)

Mit ihrem Sohn auf den Armen bat Hanna Judith, sie rasch ins Olgahospital zu fahren. Judith rannte in den Innenhof-Garten, wo ihre Söhne spielten.

Bei Posselts stand die Glastür zum Wohnzimmer offen, schwankte leicht hin und her. Im Flur hinten brannte Licht. Judith drückte die Tür ganz auf und rief hinein: „Frau Posselt, ich lass‘ die Buben kurz im Gärtle! Eine Freundin braucht Hilfe, ihr Kind muss ins Krankenhaus!“ Eine Antwort hatte sie nicht abgewartet. Die Alten würden schon dasein, sie waren ja immer da […] (Seite 198)

Die Krankenschwestern in der Notaufnahme kennen Hanna Bodenwerder und Mattis bereits. Sie sind oft hier. Während sich die Schwestern um den Jungen kümmern, versucht Judith, ihren Mann zu erreichen, den sie bei einer wöchentlichen Verwaltungsbesprechung vermutet, aber von seiner Sekretärin erfährt sie, dass er bereits fort ist und die Verwaltungsbesprechungen vormittags stattfinden.

Als der Arzt kommt, um nach Mattis zu schauen, traut sie ihren Augen nicht: Dr. Sören Rönne!

Während sie wartet, bis er Mattis versorgt hat, trifft Mattis‘ Großmutter ein. Sie vermutete bisher, dass die alternative Ernährung die Ursache für die Allergien sei, aber inzwischen haben die Ärzte bei Blutuntersuchungen festgestellt, dass Hanna ihren Sohn mit Giften, Brech- und Abführmitteln systematisch krank macht. Sie leidet unter einer psychopathischen Mutterliebe, dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom.

Judith sehnt sich danach, wieder einmal von Sören angefasst zu werden. Aber er ist müde und schlecht gelaunt, äußert sich verächtlich über Klaus, der schon als Student ein „Langweiler“ gewesen sei und lässt sie stehen.

Auf dem Nachhauseweg kommt sie an dem türkischen Lebensmittelgeschäft vorbei. Einsatzfahrzeuge der Polizei und Feuerwehr stehen davor, und im Blaulicht wabert Rauch. Die Scheibe der Auslage ist zerborsten. Unter den Gaffern ist von „Islamischten“ die Rede. Es heißt, Nâzim habe man schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Judith sieht Leonie und Simon Munk; sie sitzen verstört und in Decken gehüllt am Boden.

Klaus ist offenbar noch nicht zu Hause; die Fenster sind dunkel. Bei den Posselts brennt Licht, doch auf ihr Klingeln öffnet niemand. Judith geht deshalb zur Terrassentür, die noch immer einen Spalt offen steht. Sie ruft nach Frau Posselt und geht hinein. Im Schlafzimmer sitzen Uli und Kilian, Lisa und Feli um das Bett herum, in dem Herr Posselt aufgebahrt ist und essen Süßigkeiten. Frau Posselt habe sie gebeten, auf ihren Mann aufzupassen, der zum lieben Gott gegangen sei, erklären sie.

„Um Himmels willen, Frau Posselt!“ Judiths Stimme ist schrill, als sie sich zu der alten Frau umdreht. Sie sitzt in Hut und Persianer im Sessel neben der Frisierkommode. Der Hund liegt zu ihren Füßen. Das dicke, blasse Gesicht unter den verschwitzten weißen Haarsträhnen ist undurchdringlich und starr, die Augen sind geschlossen. Obwohl langsame Atemzüge die groben Nasenflügel blähen, ist sie nicht ansprechbar. (Seite 215)

Marco ist inzwischen am Hauptbahnhof. Ständig blickt er sich um, ob kein Polizist auf ihn zukommt. Es gibt keinen Zug nach Estland, und von den angegebenen Zielorten weiß er nicht, wo sie liegen. Schließlich entscheidet er sich für Berlin und löst am Automat eine ICE-Fahrkarte. Geld hat er genug.

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Samuel Goldwyn Mayer riet seinen Drehbuchautoren: „Mit einem Erdbeben anfangen und dann langsam steigern.“ Anna Katharina Hahn lässt die Leser ihres Roman „Kürzere Tage“ jedoch zunächst glauben, dass sie einfach nur kleine Episoden aus dem Alltag aneinandergereiht hat. Die Beobachtungen sind sehr konkret; sie wirken realistisch und geben ein Milieu wider, aber die Autorin scheint darauf verzichtet zu haben, eine Geschichte zu erzählen. – Erst wenn wir in der Mitte des Buches angelangt sind, merken wir, dass sie längst eine Handlung vorbereitet hat, die nun rasch Fahrt aufnimmt und sich dramatisch zuspitzt.

In „Kürzere Tage“ treffen mehrere Gegensätze aufeinander: Eine nicht berufstätige Mutter, die ihre Versagensängste nur mit heimlich genommenen Tabletten erträgt, und eine Karrierefrau mit Kindern, die sie um ihre vermeintliche Bilderbuch-Familie beneidet. Dazu eine allein erziehende Mutter, die ihren Sohn aus Liebe krank macht. Den Gegenpol zu den nur scheinbar intakten Beziehungen bilden zwei kinderlose Eheleute, die zusammen alt geworden sind. Sie alle leben in einem Nobelviertel von Stuttgart. Einige von ihnen werden mit einem Zwölfjährigen aus einem Hochhaus konfrontiert. Er hasst den neuen Lebensgefährten seiner Mutter, die bei seiner Geburt erst sechzehn war, und will fort. Doch dazu braucht er Geld.

Anna Katharina Hahn überzeugt von der ersten bis zur letzten Zeile durch nuancierte, eindringlinge Milieuschilderungen und eine dichte melancholische Atmosphäre. In der zweiten Hälfte von „Kürzere Tage“ wühlt sie uns zunächst mit einer tieftraurigen Geschichte auf und reißt uns dann in einen dramatischen Strudel nicht ohne tragikomische Elemente hinein.

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2009
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.