Keigo Higashino : Verdächtige Geliebte

Verdächtige Geliebte
Originalausgabe: Yogisha X no kenshin Bungeishunju Ltd, Tokio 2005 Verdächtige Geliebte Übersetzung: Ursula Gräfe Klett-Cotta, Stuttgart 2012 ISBN: 978-3-608-93966-8, 320 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Yasuko Hanaoka lebt mit ihrer Tochter Misato allein in Tokio, seit sie sich von ihrem gewalttätigen Ehemann Shinji Togashi scheiden ließ. Er hört nicht auf, sie zu mobben – bis Misato ihn angreift, er auf sie einschlägt und Yasuko ihn erdrosselt. Der Nachbar Tetsuya Ishigami bietet seine Hilfe an. Obwohl das Gesicht einer kurz darauf gefundenen Leiche zertrümmert ist, ermittelt die Polizei, dass es sich um Togashi handelt und verdächtigt dessen Ex-Frau als Mörderin, kann ihr Alibi jedoch nicht knacken ...
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Kritik

Wir glauben, die Täter von Anfang an zu kennen. Dass Keigo Higashino uns Leser in "Verdächtige Geliebte" ebenso täuscht, wie der Protagonist die Polizei, verwundert nicht. Wie er die Puzzle-Teile zu verschiedenen Bildern zusammensetzt, ist intelligent und spannend.
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Totschlag

Yasuko Hanaoka arbeitet als Verkäuferin im „Benten-tei“, einem Geschäft in Tokio, das Menüs zum Mitnehmen (Bento) anbietet. Es gehört Herrn Yonazawa. Seine Frau Sayoko, die es mit ihm zusammen führt, leitete früher einen Nachtklub. Ein Jahr nach ihrer Eheschließung fragte Sayoko Yasuko, die sie aus dem Klub Marian kannte, ob sie nicht als Verkäuferin ins „Benten-tei“ wechseln wolle, und die junge Frau nahm das Angebot gern an. Vor acht Jahren hatte Yasuko Shinji Togashi geheiratet und sich zunächst wie Pretty Woman gefühlt. Als sich dann jedoch herausstellte, dass Shinji jahrelang Firmengelder unterschlagen hatte, verlor er seinen Arbeitsplatz und wurde immer gewalttätiger. Nach drei Jahren Ehe ließ Yasuko sich scheiden und bezog mit ihrer aus erster Ehe stammenden Tochter Misato ein Apartment in Morishita, Bezirk Koto. Das war vor einem Jahr.

Unerwartet taucht Shinji Togashi im „Benten-tei“ auf. Damit Sayoko und ihr Mann nichts davon mitbekommen, verabredet Yasuko sich rasch mit ihm in einer Gaststätte. Er drängt sie, es noch einmal mit ihm zu versuchen, aber darauf lässt sie sich nicht ein. Nachdem sie von ihrem Kakao genippt hat, steht sie auf, nimmt ein Taxi und fährt nach Hause. Er folgt ihr. Aus Sorge um ihren Ruf in der Nachbarschaft vermeidet sie einen Streit im Treppenhaus und erlaubt ihm, die Wohnung zu betreten. Misato weicht erschrocken vor ihm zurück. In der Hoffnung, ihn gleich wieder loszuwerden, steckt Yasuko ihm einen Geldschein zu. Als Togashi endlich gehen will und sich in der Diele bückt, um seine Schuhe anzuziehen, schlägt Misato ihn mit einer Kupfervase nieder. Nach kurzer Zeit kommt er wieder zu sich, schleudert seine Ex-Frau zur Seite und stürzt sich auf seine Stieftochter. Er prügelt auf das Mädchen ein, bis Yasuko ihm das Elektrokabel des Kotatsu (beheizter Tisch) über den Kopf wirft und ihn erdrosselt.

Der Zeuge

Einige Minuten später klopft es an der Tür. Der Nachbar Tetsuya Ishigami erkundigt sich nach dem Lärm. Yasuko öffnet die Wohnungstüre nur einen Spalt weit, entschuldigt sich und versichert ihm, es sei alles in Ordnung. Kurz darauf ruft er an und macht ihr klar, dass er von der Gewalttat etwas mitbekommen hat. Ishigami liegt nichts daran, Yasuko anzuzeigen, im Gegenteil: Er will ihr helfen, denn er ist in sie verliebt. Schließlich lässt sie sich dazu überreden, ihm die Türe zu öffnen, und er kommt in ihre Wohnung. Auf keinen Fall möchte Yasuko, dass ihre Tochter angeklagt wird. Doch falls sie sich bei der Polizei stellen und die Alleinschuld auf sich nehmen würde, erklärt Ishigami ihr, könnte sie Misato nicht vor einer Verurteilung bewahren, denn die Spuren an dem Toten lassen nur den Schluss zu, dass zwei Personen mit ihm kämpften. Er verspricht, sich etwas zu überlegen und trägt erst einmal die Leiche in sein Apartment hinüber. Außerdem vertauscht er den Kotatsu mit dem aus seiner Wohnung.

Tetsuya Ishigami studierte an der Kaiserlichen Universität Mathematik. Als seine Eltern jedoch krank wurden, wechselte er zu einer näher gelegenen Hochschule, um für sie sorgen zu können. Weil er die gegenseitigen Rivalitäten dort nicht ertrug, wurde er Lehrer. Er unterrichtet Mathematik an einer privaten Oberschule und leitet einen Judo-Kurs. Sein Weg zur Schule führt an einer Ecke vorbei, an der Obdachlose herumlungern. Seit seine Nachbarin hier einzog und im „Benten-tei“ zu arbeiten anfing, nimmt er sich dort fast jeden Tag jeweils ein Bento fürs Mittagessen mit. Er macht sich keine Hoffnung auf eine Liebesbeziehung, aber auf diese Weise kann er Yasuko wenigstens sehen.

Mordfall

Ein Jogger meldet den Fund einer Leiche am Ufer des Alten Edogawa. Mamiya, ein Abteilungsleiter der Kriminalpolizei im Tokioter Stadtteil Edogawa, beauftragt die Kriminalkommissare Kishitani und Kusanagi mit der Leitung der Ermittlungen.

Bei dem nackten Toten handelt es sich um einen Mann. Ein rotes Mal um den Hals lässt darauf schließen, dass er erdrosselt wurde. Offenbar wollte der Mörder die Identifizierung des Opfers erschweren, denn Gesicht und Gebiss sind zertrümmert, die Fingerkuppen verbrannt. In der Nähe stellt die Polizei ein Fahrrad sicher, von dem die Besitzerin angibt, es sei ihr am Bahnhof Shinozaki gestohlen worden, und zwar am 10. März zwischen 10 und 22 Uhr. Außerdem finden die Ermittler in einer 100 Meter vom Fundort der Leiche entfernten Öltonne die halb verbrannte Wäsche und Kleidung eines Mannes. Die Gerichtsmediziner gehen davon aus, dass das Opfer am 10. März bald nach 18 Uhr getötet wurde.

In der Pension Ogiya in Kamedo wird am 11. März das Verschwinden eines Gastes bemerkt. Fingerabdrücke in dem von ihm bewohnten Zimmer stimmen mit Spuren am sichergestellten Fahrrad überein. Und ein in der Pension gefundenes Haar – das ergibt ein DNA-Vergleich – stammt von dem Toten. Der Gast hatte sich unter dem Namen Shinji Togashi eingetragen und im Voraus bezahlt.

Kishitani und Kusanagi fahren nach Morishita und fragen Yasuko Hanaoka nach ihrem Ex-Mann. Sie behauptet, Shinji Togashi seit etwa einem Jahr nicht mehr gesehen zu haben. Nach ihrem Alibi für den Abend des 10. März befragt, gibt sie an, mit ihrer Tochter zuerst im Kino, dann in einem Nudel-Imbiss und später in einer Karaoke-Bar gewesen zu sein.

Verwicklungen

Als die Kommissare gehen, kommt ihnen im Treppenhaus Yasukos Nachbar entgegen. Kusanagi, der an der Kaiserlichen Universität Soziologie studierte, entgeht nicht das Wappen der Hochschule auf einem Brief, den Tetsuya Ishigami bekommen hat. Er spricht ihn darauf an und erfährt, dass Ishigami tatsächlich dieselbe Universität besuchte.

Davon erzählt Kusanagi dem mit ihm befreundeten Physikprofessor Manabu Yukawa ebenso wie von dem neuen Mordfall. Yukawa erinnert sich an den genialen Mathematik-Studenten Tetsuya Ishigami, erbittet sich dessen Adresse und fährt kurz darauf zu ihm. Ishigami freut sich über den unerwarteten Besuch, zumal sie 20 Jahre lang nichts voneinander hörten.

Am nächsten Morgen begleitet Yukawa den Mathematiker bis zum „Benten-tei“. Yasuko hat gerade Besuch von einem langjährigen Freund. Kuniaki Kudo wohnt in Osaki und leitet dort die Druckerei Hikari Graphics. Früher war er Stammgast in der Bar in Akasaka, in der Yasuko arbeitete, und dann auch im Klub Marian. Aus der Zeitung erfuhr er von der Ermordung ihres Ex-Mannes, und weil er sich deshalb Sorgen um sie macht, schaut er nach ihr. Seine Ehefrau starb im letzten Sommer an Bauchspeicheldrüsenkrebs, und um den Sohn kümmern sich seine Eltern. Yasuko lässt sich von Kudo zum Abendessen in ein Restaurant einladen. Sie fühlt sich zu ihm hingezogen, will jedoch vermeiden, dass Ishigami eifersüchtig wird, denn in diesem Fall würde er ihr möglicherweise nicht länger beistehen.

Das Alibi

Die Polizei findet heraus, dass Shinji Togashi sich am 5. März im Klub Marian nach seiner Ex-Frau erkundigte und erfuhr, wo sie arbeitet. Das bestätigt später auch die Geschäftsführerin Sonoko Sugimura. Aber Yasuko beteuert nach wie vor, ihn schon lange nicht mehr gesehen zu haben. Für ihren Aufenthalt im Nudelimbiss und in der Karaoke-Bar gibt es Zeugen, für den Kinobesuch nicht. Die Schülerin Mika Ueno bestätigt zwar, dass Misato ihr am 12. März von dem Film erzählte, aber das bedeutet, dass Yasuko und ihre Tochter auch erst am 11. März im Kino gewesen sein könnten. Um der Sache nachzugehen, fragen die Kommissare sie nach den Karten, und Yasuko gibt sie ihnen mit.

Als Kusanagi seinem Freund Yukawa erzählt, Yasuko habe die Karten im Programmheft gefunden, meint der Physikprofessor, das deute darauf hin, dass es die Polizei mit einer schwer zu überführenden Verdächtigen zu tun hat. Eine unbedarfte Person, die sich Kinokarten kaufte, um ein Alibi zu haben, hätte sie lose in einer Schublade aufgehoben und nicht daran gedacht, so zu tun, als habe sie die Karten zwischen den Seiten des Programmhefts liegen lassen.

Im Kino findet die Polizei die abgerissenen Ecken der von Yasuko vorgewiesenen Karten und darauf auch Fingerabdrücke von ihr. Das beweist, dass sie am 10. März abends im Kino war, allerdings nicht, ob sie auch den ganzen Film ansah. Sollte sie sich mit den Karten nur ein Alibi verschafft haben, spräche das für einen geplanten Mord.

Kusanagi hält Yasuko für die Mörderin. Er geht davon aus, dass sie den Imbiss am 10. März wie üblich um 18 Uhr verließ, zum Bahnhof Hamamatsu ging, von der mit der U-Bahn nach Shinozaki fuhr, einen Bus oder ein Taxi nahm und gegen 19 Uhr am Alten Edogawa eintraf, wo sie mit ihrem Ex-Mann verabredet war. Der kam mit dem am Bahnhof Shinozaki gestohlenen Fahrrad. Allerdings ist Yasuko zehn Zentimeter kleiner als Togashi; er müsste schon vor ihr gesessen oder gelegen haben, damit sie ihn schräg von oben hätte erdrosseln können, so wie es die Würgemale zeigen.

Der Verdacht

Bei einer erneuten Befragung des Nachbarn Tetsuya Ishigami schaut Kusanagi sich das Elektrokabel des Kotatsu an. Es ist mit Stoff umwickelt. Mit einem solchen Kabel wurde Shinji Togashi erdrosselt. Beim Kotatsu in Yasukos Wohnung ist das Kabel dagegen mit Plastik ummantelt.

Ishigami, der Yasuko jeden Abend von einer Telefonzelle aus anruft, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen und ihr Ratschläge zu erteilen, hält es nun für an der Zeit, dass Misato der Polizei sagt, sie habe ganz vergessen, dass sie am 10. März mit ihrer Mitschülerin Haruka Tamaoka darüber sprach, dass sie sich am Abend mit ihrer Mutter einen Film anschauen wolle.

An einem der nächsten Tage stößt Ishigami auf Kudo. Er folgt ihm mit dem Wagen zur Parkgarage eines Hotels und fotografiert ihn dort heimlich. Als er wegfährt, sieht er, wie Yasuko das Hotel betritt.

Bei einer Befragung der Betreiber des „Benten-tei“ erfährt Kusanagi, dass Tetsuya Ishigami augenscheinlich in Yasuko verliebt sei, weil er immer dann vorbeikomme und sein Mittagessen kaufe, wenn sie Dienst habe. Und bevor Yasuko hier arbeitete, hatte er nicht zu den Kunden gehört.

In der Schule, in der Tetsuya Ishigami unterrichtet, findet Kusanagi heraus, dass sich der Lehrer am Vormittag des 10. März frei nahm und nächsten Vormittag krank meldete. Das verstärkt den Verdacht des Kommissars, dass Yasukos Nachbar an dem Mord beteiligt war. Bei einer erneuten Vernehmung sagt Ishigami, er sei am 10. März gleich nach dem Judo-Kurs nach Hause gegangen, gegen 19 Uhr eingetroffen und habe die Wohnung an diesem Abend nicht mehr verlassen. Zeugen gibt es dafür keine. Er hat also für die Tatzeit kein Alibi.

Als Kudo mit Yasuko und Misato essen geht, erzählt er von wiederholten Anrufen, bei denen sich niemand meldet. Außerdem fand er in seinem Briefkasten anonyme Zettel mit dem Hinweis, er solle die Finger von Yasuko lassen. Einmal lag auch ein Foto von ihm dabei, das in der Parkgarage des Hotels aufgenommen worden war, in dem er sich mit ihr getroffen hatte. Yasuko ahnt, dass es sich beim Absender um Ishigami handelt. Er scheint doch eifersüchtig geworden zu sein.

Yukawa fragt Ishigami bei einer weiteren Begegnung:

„Was ist schwieriger: Ein unlösbares Programm zu schaffen oder es zu lösen?“

Später beantwortet er die Frage selbst:

„Die Aufgabe zu erstellen, ist schwieriger. Der, der sie lösen muss, braucht nur ihren Urheber zu berücksichtigen.“

Darauf sagt Ishigami:

„Verstehe. Und was ist mit dem P-NP-Problem? Was ist leichter zu bestimmen, ob die Lösung einer anderen Person richtig ist, oder das Problem selbst zu lösen?“

Als Ishigami ihm erzählt, er lasse im Unterricht hin und wieder eine Aufgabe wie ein geometrisches Problem aussehen, obwohl die Lösung nur durch Algebra zu finden ist, ahnt Yukawa, dass es dem Lehrer auch gelungen ist, die Polizei durch ein Ablenkungsmanöver in die Irre zu führen: Die Ermittler gehen davon aus, dass sie Yasukos Alibi knacken müssen. Dabei liegt der Schlüssel zur Aufklärung des Mordfalls anderswo.

Ishigami, der ahnt, dass Yukawa ihn durchschaut hat, weist Yasuko bei seinem nächsten Telefongespräch auf drei Briefe hin, die er zusammen mit einer Anleitung in ihren Briefkasten warf und erklärt ihr, dass er sich nicht mehr bei ihr melden werde und sie auch keinen Kontakt zu ihm aufnehmen dürfe.


Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.


Das Geständnis (Spoiler)

Dann legt er bei der Polizei ein Geständnis ab.

„Ich habe den Mann am 10. März zum ersten Mal gesehen“, begann Ishigami in gleichmütigem Ton. „Als ich aus der Schule kam, lungerte er vor der Tür meiner Nachbarin herum. Er hatte die Hand durch den Briefschlitz in ihrer Tür gesteckt und tastete nach etwas.“
„Entschudligen Sie, aber wer war der Mann?“
„Herr Togashi. Natürlich wusste ich damals noch nicht, dass er so hieß.“ Ishigami schmunzelte.

Er sei Yasuko Hanaokas Leibwächter gewesen, behauptet Ishigami, aber das hätten sie sogar Misato verheimlicht. Er will Shinji Togashi gesagt haben, Yasuko sei kürzlich weggezogen, sie wohne jetzt am Alten Edogawa. Angeblich nannte er ihm eine Adresse in der Nähe des Bahnhofs Shinozaki und wies ihn darauf hin, dass Yasuko nicht vor 23 Uhr von der Arbeit nach Hause komme. Als Togashi weg war, nahm er das Kabel seines Kotatsu mit, fuhr mit der U-Bahn nach Mizue und nahm von dort ein Taxi zum Alten Edogawa. Wie erwartet, rief Togashi auf seinem Handy an, denn die Adresse war die eines Klärwerks. Unter dem Vorwand, Straße und Hausnummer zu überprüfen, hielt Ishigami ihn hin, bis er ihn sehen konnte. Er schlich sich an, erdrosselte ihn, zog ihn aus, verbrannte mit einem Feuerzeug die Fingerkuppen und zertrümmerte das Gesicht in der Hoffnung, eine Identifizierung unmöglich zu machen, denn sonst wäre die Ex-Frau des Toten unter Mordverdacht geraten. Als er die Kleider in einer Öltonne verbrennen wollte, flackerte das Feuer so hell, dass er vorzeitig weglief. Dass Shinji Togashi vom Bahnhof Shinozaki aus mit einem gestohlenen Fahrrad zum Alten Edogawa gefahren war, erklärt Ishigami, habe er nicht gemerkt. Sonst hätte er es wegen der Fingerabdrücke abgewischt. Yasuko habe er nichts davon erzählt.

Für die Polizei klingt das Geständnis überzeugend, zumal es auch Einzelheiten enthält, die nur der Täter und die Polizei wissen können.

Ishigami berichtet auch noch, dass er Yasuko jeden Abend anrief. Wenn sie etwas mit ihm besprechen wollte, nahm sie das Gespräch an, meistens ließ sie es jedoch klingeln. Dass Yasuko seit kurzem mit einem anderen Mann ausgeht, kränke ihn, sagt Ishigami. Sie ahne zwar weder, dass er sie liebe noch was er für sie getan habe, aber ihre Beziehung mit dem anderen sei für ihn schwer zu ertragen.

Bei ihrer Befragung sagt Yasuko, sie habe nicht gewusst, wer sie jeden Abend anrief, und sie übergibt der Polizei drei anonyme Briefe, in denen sie aufgefordert wird, sich weniger zu schminken, von der Arbeit gleich nach Hause zu gehen und ähnliches. Ein Bekannter namens Kuniaki Kudo bekomme ebenfalls anonyme Botschaften, gibt sie zu Protokoll, in denen er aufgefordert wird, nicht mit ihr auszugehen.

Auf der Festplatte von Tetsuya Ishigamis PC findet die Polizei den Entwurf eines weiteren Briefes an Yasuko:

[…] Sollte er Dein Liebhaber sein, würde ich das als schrecklichen Verrat betrachten. […] Diesem Mann das gleiche Schicksal zu bereiten wie Togashi wäre nun mehr als leicht für mich. […] Ich wiederhole: Sollte dieser Mann Dein Liebhaber sein, werde ich diesen Verrat nicht dulden und Rache nehmen.

Die Forensiker stellen fest, dass Shinji Togashi mit dem Elektrokabel des Kotatsu in Ishigamis Wohnung erdrosselt wurde. Offenbar handelt es sich bei Yasukos Nachbarn um einen eifersüchtigen Stalker und Mörder.

Als Kommissar Kusanagi erfährt, dass Yukawa in der Bibliothek in den Ausgaben einiger Zeitungen vom März blätterte, fragt er sich, was der Physiker suchte. Er nimmt an, dass es mit dem Mordfall zusammenhängt.

Nachdem Yukawa seinem Freund von der Kriminalpolizei erzählt hat, was er herausfand, holt er Yasuko am Ende der Öffnungszeit im Imbiss ab und setzt sich mit ihr auf eine Parkbank. Kusanagi bleibt in der Nähe. Yukawa sagt Yasuko, er wisse, dass Ishigami ihr geholfen habe.

Als Yukawa zum ersten Mal mit seinem früheren Kommilitonen zum „Benten-tei“ ging und sie sich beide in der Scheibe der Eingangstüre spiegelten, verglich Ishigami ihr Aussehen und meinte, Yukawa sehe besser aus als er. Aus dieser Äußerung unmittelbar vor der Begegnung mit einer Frau schloss der Physiker, dass sein Freund in sie verliebt sein könnte und deshalb über sein Aussehen nachdachte. Als er dann auch noch erfuhr, dass Ishigami sowohl am 10. als auch am 11. März vormittags nicht zum Dienst erschienen war, argwöhnte er, dass der Lehrer seiner Nachbarin half, indem er die Polizei täuschte.

Die Aufklärung (Spoiler)

Die Ermittler ahnten nicht, dass es sich bei dem Toten am Alten Edogawa gar nicht um Shinji Togashi handelte, sondern um einen anderen Mann, wahrscheinlich um einen Obdachlosen, denn Yukawa fand in älteren Zeitungen nichts über einen Vermissten, der zu den Umständen passte. Den Obachlosen hatte Ishigami am 10. März zum Alten Edogawa gelockt und ihn ein Stück auf einem gestohlenen Rad fahren lassen, bevor er ihn mit dem Elektrokabel eines Kotatsu erdrosselte, das er eigens mitgebracht hatte. Das Gesicht zertrümmerte er ihm, damit die Polizei aufgrund der von ihm gelegten Spuren annahm, es handele sich um Shinji Togashi. Die Fingerkuppen des Toten verbrannte er, weil jeder, der die Identifizierung eines Opfers erschweren möchte, nicht nur das Gesicht zerstört, sondern auch die Finger. Das sah überzeugender aus. Mit dem Fahrrad sorgte er dafür, dass dennoch Fingerabdrücke des Toten gefunden wurden.

Togashi war jedoch bereits am Abend zuvor, am 9. März, von Yasuko und ihrer Tochter getötet worden. Auf Anraten des hilfsbereiten Nachbarn gingen sie am Tag darauf ins Kino, in den Nudelimbiss und in die Karaoke-Bar. Auf diese Weise verschafften sie sich ein Alibi für die vermeintliche Tatzeit. Darüber brauchten sie also bei den Vernehmungen nur die Wahrheit zu sagen. Bei einer Lügengeschichte hätten sie sich in Widersprüche verwickelt.

Dass Ishigami unter anderem einen Kinobesuch gewählt hatte, sei kein Zufall gewesen, fährt Yukawa fort. Er wusste, dass es schwierig war, diesen Teil des Alibis zu beweisen oder zu widerlegen. Die Polizei war also eine Weile beschäftigt und von den wahren Zusammenhängen abgelenkt.

Erst jetzt begreift Yasuko, warum die Polizei sie nicht nach Alibis für den 9. März, sondern für den nächsten Tag fragte. Sie wunderte sich schon darüber, verhielt sich aber genauso, wie Ishigami es ihr geraten hatte. Was er mit der Leiche ihres Ex-Mannes gemacht hatte, verriet er ihr nicht.

Wir Leser erfahren, dass Ishigami bei Shinji Togashi eine Quittung der Pension Ogiya fand und deshalb wusste, wo er die Nacht verbringen wollte. Daraufhin überredete er einen Obdachlosen am Morgen des 10. März, den Tag in dem Pensionszimmer zu verbringen, das er noch in der Nacht von Togashis Spuren gereinigt hatte. Für den Abend verabredete er sich mit dem Opfer am Alten Edogawa und sorgte dann dafür, dass der Mann das gestohlene Fahrrad anfasste, sodass die Fingerabdrücke mit denen in der Pension übereinstimmten. Togashis Leiche zerstückelte er in seiner Badewanne, dann verpackte er die Teile in Tüten, beschwerte sie mit Steinen und versenkte sie an verschiedenen Stellen im Sumida. Warum er sogar einen Mord für Yasuko verübte? Vor einem Jahr hatte er vorgehabt, sich zu erhängen. Als er gerade auf einen Stuhl steigen wollte, klingelte es, und er öffnete. Draußen stand die gerade eingezogene neue Nachbarin mit ihrer Tochter und stellte sich vor. Ishigami verliebte sich auf den ersten Blick in Yasuko. Dieses Gefühl brachte ihn vom Selbstmord ab. Weil er jedoch wusste, dass er bei der schönen und sehr viel jüngeren Frau keine Chance haben würde, gab er sich zunächst damit zufrieden, sie im „Benten-tei“ zu sehen. Als er mitbekam, was am 9. März abends in ihrer Wohnung geschah, ergriff er die Gelegenheit, ihr zu helfen.

Yukawa klärt Yasuko über die Wahrheit auf, weil er hofft, dass sie sich selbst bei der Polizei stellt. Er weiß allerdings, dass er damit Ishigamis Absichten durchkreuzt. Sein früherer Kommilitone will auf keinen Fall, dass Yasuko erfährt, was er für sie getan hat. Tatsächlich empfahl Ishigami ihr in seiner letzten schriftlichen Anweisung, Kuniaki Kudo zu heiraten. Sie müsse glücklich werden, meinte er, sonst sei alles umsonst gewesen.

Yasuko neigt dazu, seinem Rat zu folgen, zumal sie ihm mit ihrem Geständnis nicht helfen könnte, denn er beging ja tatsächlich einen Mord.

Während sie noch überlegt, was zu tun ist, erfährt sie durch einen Anruf aus der Schule, dass Misato sich in der Turnhalle die Pulsadern aufschnitt. Das Mädchen liegt im Krankenhaus.

Bald darauf kreuzen sich die Wege von Yasuko und Ishigami auf einem Korridor im Polizeirevier. Als er begreift, dass sie sich gestellt hat, schreit er vor Verzweiflung und seelischem Schmerz.

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„Verdächtige Geliebte“ ist kein Whodunit-Thriller. Den Totschlag, um den sich dieser Kriminalroman dreht, schildert der japanische Schriftsteller Keigo Higashino (* 1958) gleich zu Beginn. Wir kennen also von Anfang an die Täterinnen und Tetsuya Ishigami, den Mann, der ihnen dabei helfen will, die polizeilichen Ermittlungen unbeschadet zu überstehen, indem er die Kriminalkommissare in die Irre führt – und zwar so, wie er es als Lehrer mit seinen Schülern macht, wenn er sie glauben lässt, eine geometrische Aufgabe lösen zu müssen, während es sich in Wirklichkeit um ein algebraisches Problem handelt. Dass Keigo Higashino uns Leser ebenso täuscht, verwundert nicht.

Nach der Gewalttat am Anfang scheint in „Verdächtige Geliebte“ nicht mehr viel zu geschehen. (Auch mit dieser Annahme fallen wir auf den Autor herein.) Die Handlung spielt sich nun vor allem in den Dialogen und Überlegungen der Figuren ab. Und das hat Keigo Higashino außerordentlich raffiniert angelegt: Als Leser machen wir uns ein Bild, das den Hypothesen der Polizei widerspricht, dann entwirft Tetsuya Ishigami in einer Aussage ein völlig anderes Szenario, und erst am Ende erfahren wir die Wahrheit. Jede der vier verschiedenen Vorstellungen verknüpft die bekannten Eckdaten auf schlüssige Weise. Es ist so, als könnte man aus den Teilen ein und desselben Puzzles vier unterschiedliche Bilder zusammensetzen. Dieses höchst intelligente Spiel ist ebenso spannend wie anregend.

Ins Deutsche übertragen wurde „Verdächtige Geliebte“ von Ursula Gräfe, die auch Haruki Murakami („Kafka am Strand“) übersetzt. Eine kleine Anmerkung: Offenbar kennt Ursula Gräfe nicht den Unterschied zwischen dasselbe und das gleiche, denn sonst hätte sie die beiden folgenden Sätze anders formuliert:

Ishigami benutzte stets das gleiche Telefonhäuschen.

Ich habe früher in Akasaka in der gleichen Bar gearbeitet wie Yasuko.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.