Brigitte Kronauer : Berittener Bogenschütze
Inhaltsangabe
Kritik
Der Literaturwissenschaftler Matthias Roth ist um die vierzig Jahre alt und lebt in einer provinziellen deutschen Universitätsstadt. Er bewohnt ein Balkonzimmer auf derselben Etage wie seine Vermieter, Herr und Frau Bartels, und eine Dachkammer, durch deren dünne Wand er das Bett des Ehepaares Thies knarzen hört. Früher war er mit Karin zusammen, „die bis auf die amtliche Unterschrift über mehrere Jahre seine Frau gewesen war“ (Seite 18). Jetzt übernachtet hin und wieder die Biologiestudentin Marianne bei ihm. Wenn sie am Morgen, bevor sie sich verabschiedet, das Bett gemacht hat, ärgert er sich:
Nach Tilgung der Spuren konnte alles ebensogut auch Einbildung sein […] Hätte er sie jetzt telefonisch erreichen können, würde sie womöglich behaupten, die Nacht bei sich verbracht und keineswegs seine zweite Frühstückstasse benutzt zu haben. (Seite 24f)
Obwohl Marianne sich nicht für Literatur interessiert, hält Matthias ihr Vorträge über Joseph Conrad, mit dem er sich intensiv beschäftigt.
„Vor einiger Zeit, Marianne, habe ich Conrad den Dichter der Umarmung oder auch: der einen Umarmung genannt. Mit gleichem Recht aber könnte ich ihn bezeichnen als den Meister des Aufglühens und Erlöschens. Nimm die Spitzen eines Gebirges oder Wellenkämme, die in ein äußerstes Licht ragen, mit einem fast überirdischen Glanz versehen, für ein paar Minuten aber nur, und die dann zurückbleiben ohne Schimmer, taub, tot, jetzt natürlich noch grauer als vorher: ergraut! Da hast du die Stimmung seiner meisten Geschichten. Ein ungeahntes Erglühen der Dinge, ein untröstliches Verlöschen […]
Conrad scheint es darauf anzulegen, das Leuchten eines Augenblicks, einer Landschaft, einer Gestalt allmächtig anzufachen, und wenn wir ihm trauen, es auszublasen, mit einem einzigen Luftstoß, einem einzigen Satz, einem Schlag in den Magen.“ (Seite 135f, 139)
Frau Bartels umsorgt ihren Untermieter, kocht für ihn und isst mit ihm rheinischen Sauerbraten. Ihr Mann ist seit einem Schlaganfall verwirrt. Es kommt vor, dass er zur Tür hereinkommt und schreit:
„Wiederkehr des Leistungswillens, Entbürokratisierung, Zurückdrängung des Staatseinflusses, nur so kann es zur Gesundung unserer Wirtschaft kommen. Raus aus dem Wohlfahrtsmorast!“ (Seite 43)
Von Frau Bartels erfährt Matthias Roth auch Neuigkeiten über seine Nachbarn. Frau Haak, die Mutter von Frau Thies, wohnt im selben Haus. Mit ihrem Schwiegersohn liegt sie im Streit, weil ihr der Maurer nicht gut genug ist. Ihre sechzehn oder siebzehn Jahre alte Enkelin wohnt bei ihr, statt bei den Eltern unter dem Dach. Vor einem Jahr sei Frau Haak zwei Monate bei ihrem Sohn in den USA gewesen, erzählt Frau Bartels, der dort angeblich eine Supermarkt-Filiale leitet – was Frau Bartels jedoch bezweifelt. Sie weiß, dass Frau Haak in den USA ihren neuen Freund kennen lernte: einen vor dreißig Jahren ausgewanderten Schlesier.
Einmal hört er aus der Nachbarwohnung ein Röcheln. Er geht hinüber und öffnet die Tür. Thies kauert nach Schnaps riechend am Boden, presst einen Arm auf die Brust und streckt ihm den anderen entgegen. Er will keinen Arzt, nur die Anwesenheit eines Menschen, bis die ärgsten Beklemmungen vorüber sind.
Fritz, ein Bekannter von Matthias, der mit seiner Ehefrau Helga, seinen beiden Söhnen und der kleinen Tochter in einer anderen Stadt lebt, bittet ein Ehepaar, Matthias bei Gelegenheit mit dem Auto mitzunehmen, damit dieser zu Besuch kommen kann. Er erzählt Matthias dann von von Detlef Rose; der sei nicht mehr Kneipenwirt und Zuhälter, sondern betreibe inzwischen ein Transportunternehmen und beteilige sich an Spekulationen in Saudi-Arabien.
Matthias Roth, so einzeln vor den zweien [Fritz und Helga], staunte wieder über das geheimnisvolle Zusammenleben in der Ehe. Es blieb ihm doch stets ein Rätsel. Wie intim waren diese Paare eigentlich ständig miteinander? Wie ertrugen sie das? (Seite 90)
Von seinen früheren Freunden ist nur einer in der Stadt geblieben: Hans arbeitet als Assistent im Kulturamt und ist mit Gisela verheiratet. Matthias besucht die beiden häufiger.
Während einer Urlaubsreise nach Italien lockert sich seine depressive Erstarrung. In Genua wohnt er bei einer gleichaltrigen Bekannten, der Kunsthistorikerin Irene, die aus ihrer geschiedenen Ehe eine neunjährige Tochter hat. Obwohl er mit ihr zu schlafen beabsichtigte, kommt es nicht dazu. Bei einer Wanderung in einem ligurischen Bergtal ist er von der „Verletzlichkeit“ eines einsamen Hauses tief beeindruckt:
Wer hier lebte, war, vor allem in den Nächten, einer totalen Finsternis ausgesetzt, eine hilflose Beute für klug beobachtende, geschickt zupackende Täter, die mit ein paar Werkzeugen blitzschnell die empfindlichen, dünnen Drähte zur Zivilisation kappen konnten. Auch tagsüber würde das kaum anders sein. (Seite 234f)
Und wenn ihn in dieser unmenschlichen Einsamkeit der Tod anfiele? Es war schon der Tod, nichts beengte, nichts begrenzte hier. Um so schlimmer aber auch: es kam darauf an, diese Anwesenheit ohne Grauen zu bestehen. Musste man nicht, wie bei der Vergegenwärtigung des Weltalls, ein ungeheuerliches Gefühl dagegen stemmen, wie die Entdecker der Meere und Urwälder die Raserei ihres Wissensdurstes und ihrer Raublust? Über eine Gefühlsbewegung solchen Ausmaßes verfüge er allerdings nicht, kehre nun aber endgültig und gehorsam um. (Seite 237)
Die nächsten Tage verbringt Matthias am Strand. Dort stürzt er einmal und schürft sich den Oberschenkel auf.
Als er von der Reise zurückkehrt, erfährt er von Frau Bartels, dass Herr Thies inzwischen einem Herzinfarkt erlag. Er war allein zu Hause, weil seine Frau und seine Tochter bei einer Butterfahrt in die Heide mitmachten. Seine Schwiegermutter konnte an der Beerdigung nicht teilnehmen, weil sie gerade in den USA war, und zwar mit einem Billigticket, das man nur bei einem Mindestaufenthalt von drei Monaten bekam. Erst in Amerika habe Frau Haak gemerkt, erzählt Frau Bartels, dass ihr neuer Freund mit einer anderen zusammenlebt; er soll sich deshalb nur zweimal in der Woche heimlich mit Frau Haak getroffen haben.
Marianne ist verschwunden. Zufällig trifft Matthias Anneliese wieder, von der er sich nach einer einzigen Nacht getrennt hatte. Sie ist ihm nicht böse und lässt sich auf eine Affäre mit ihm ein.
Eines Abends hilft er seiner angetrunkenen Nachbarin über die Treppen hinauf, sperrt ihr die Wohnung auf und trinkt eine Tasse Kaffee mit ihr – was Frau Bartels nicht entgeht.
Einmal ist Hans noch nicht zu Hause, als Matthias zu Besuch kommt. Er könnte die Gelegenheit nutzen, um Gisela zu küssen, tut es jedoch nicht.
Er hatte gar nicht das Bedürfnis, etwas zu tun, er steckte in einer Wunschlosigkeit. (Seite 368)
Erst als zu hören ist, wie Hans die Haustür aufsperrt, fallen Matthias und Gisela sich für Sekunden in die Arme:
Ihr Körper fiel weich gegen den seinen, er umfasste sie mit Armen und Beinen, er fing sie auf und spürte alles zugleich, Brüste, Rückgrat, Schenkel, er hielt sie ja nur einfach, er roch den Duft an ihrem Ohrläppchen, und es gab keine Lücke, überall war entweder er oder sie, sie füllten sich gegenseitig aus mit den Eigenheiten ihrer Körper so selbstverständlich und notwendig, als hätten sie es viele Jahre geübt […] Aber er wunderte sich zugleich, dass er den Körper der Frau spürte wie etwas ihn von allen Seiten Umspülendes, Einhüllendes und dabei doch selbst derjenige war, der sie fest, mit beiden Armen und einem Bein zwischen ihren Knien und einem an ihrer Kniekehle umfasst hielt. (Seite 371)
Im nächsten Augenblick streift Gisela ihren Rock zurecht und empfängt Hans, als ob nichts gewesen wäre. Matthias sitzt still da.
Er hatte sie noch eben umarmt, und er glaubte, sich nun erinnern zu dürfen, erkannte aber, dass er es gar nicht nötig hatte. Solange er nämlich nicht mit anschaute, wie Gisela Hans tröstlich zunickte, sein Handgelenk über das Tischchen zu sich zog, solange er das widersprüchliche, und, wie er wohl wusste, unbedingt notwendige Bild nicht beachtete, wurde er, und darein konnte er sich mit unauffällig geschlossenen Augen versenken, immer noch weiter umarmt, umfassten sich ihre Körper noch immer in wechselseitiger Umhüllung oder beinahe schon Durchdringung, es dauerte an, es fehlte ihm nicht, da es noch geschah […] Er roch sie ja auch, noch nie hatte er aus diesem Abstand so deutlich ihren Geruch bemerkt. (Seite 375)
Mitten in der Nacht verlässt Matthias sein Zimmer, schleicht sich aus dem Haus und geht krank vor Sehnsucht vor dem Haus von Hans und Gisela im Schnee auf und ab. Dabei erkältet er sich. Frau Bartels pflegt ihn mit Hausmitteln und erzählt ihm, Frau Thies‘ Tochter habe sich mit einem Computerfachmann Ende zwanzig verlobt. Eine gute Partie. Frau Bartels bedauert es, dass sich ihr Untermieter inzwischen auch von Anneliese wieder getrennt hat. Die habe so gut zu ihm gepasst, meint sie.
Sobald Matthias sich erholt hat, besucht er Hans und Gisela wieder.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Er liebte den Anblick dieses Paares, obwohl er ihm solche Schmerzen bereitete, ein Genuss, der ihn bekümmerte, und eine Wohltat. Sie bildeten ein Paar, dessen männlichen Teil Hans stellvertretend für ihn übernahm. Was Matthias Roth sah, war die Artikulation seines eigenen Gefühls. (Seite 428)
„Die Leere, Stille, Einöde im innersten“, wiederholte Matthias Roth mit vorgeschobenem Bein und breitete die Arme aus, „Zimmer der Leidenschaft“. (Seite 6)
Mit diesem Satz beginnt Brigitte Kronauer ihren Roman „Berittener Bogenschütze“. Der Protagonist, ein Literaturwissenschaftler, beschäftigt sich intensiv mit der These des Schriftstellers Joseph Conrad, derzufolge die Leere das Wesentliche sei. Einer seiner Studenten schreibt in einer Arbeit:
„Leere an Orten, an die sich die Erwartung fülliger Lebendigkeit knüpft, ist eine vielleicht wohlfeil konstruierte vanitas.“ (Seite 362)
In dem Roman „Berittener Bogenschütze“ gibt es allenfalls eine rudimentäre Handlung. Stattdessen geht es um die Wahrnehmungen und die Gedankenwelt des Literaturwissenschaftlers Matthias Roth, über den wir nur erfahren, was sich in seinen inneren Monologen und Fantasien spiegelt. So bekommen wir mit, dass ihn auch seine zumeist flüchtigen Liebesaffären nicht aus seiner Selbstbezogenheit erlösen.
Er spürte zunehmend, dass die ihn umgebenden Leute sich in seine Geschöpfe verwandelten. Das lag an ihm, eine Täuschung, gut, aber er zumindest konnte ihre trennende Haut nicht mehr erkennen, sie waren Schatten, Echos, leicht erklärbar, durchleuchtet von seinen Blicken, er musste nur auf sich selbst achten, um alles über sie zu wissen. (Seite 71)
Auch die Eingangshalle der Universität war jetzt still. Zu den entsprechenden Zeiten verschwanden die Studenten hinter den Türen, als gäbe es sie nicht mehr, lautlos hinter die Wände von Hörsälen und Seminarräumen gezaubert sie alle. (Seite 197)
Brigitte Kronauer nimmt sich viel Zeit und schildert seitenlang, wie der Protagonst triviale Dinge minutiös beobachtet. Der Roman besteht gewissermaßen aus einem Kaleidoskop von Wahrnehmungen fast ausschließlich aus dem Bereich der Alltagsbanalität. Das macht es dem Leser nicht leicht, zumal sich Matthias Roth auch nicht als Identifikationsfigur eignet. Geschrieben hat Brigitte Kronauer den Roman „Berittener Bogenschütze“ in einer sorgfältig gefeilten Literatursprache.
Die Illusion, die Literatur könne, wenn sie nur lakonisch genug ist, je das Papier vergessen machen, an das sie gebunden ist, teilt sie [Brigitte Kronauer] nicht. Ihre Sprachlust ist nicht zuletzt Lust am Periodenbau. Sorgfältige Pflege erfährt in ihrem Gehege ein papierenes Ungetüm: Der lange deutsche Satz, ein Echo der klassischen Periode, verwandelt sich dabei nicht selten zur Girlande. Das Ziel dieser Prosa ist paradox: Sie will musikalische Schriftsprache sein. (Lothar Müller, Süddeutsche Zeitung, 11. Juni 2005)
„Berittener Bogenschütze“ bildet zusammen mit „Rita Münster“ (1983) und „Die Frau in den Kissen“ (1990) eine Romantrilogie der Büchner-Preisträgerin Brigitte Kronauer.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger
Brigitte Kronauer (Kurzbiografie / Bibliografie)
Brigitte Kronauer: Errötende Mörder
Brigitte Kronauer: Der Scheik von Aachen