Hartmut Lange : Das Konzert
Inhaltsangabe
Kritik
Wer unter den Toten Berlins Rang und Namen hatte, wer es überdrüssig war, sich unter die Lebenden zu mischen, wer die Erinnerung an jene Jahre, in denen er sich in der Zeit befand, besonders hochhielt, der bemühte sich früher oder später darum, in den Salon der Frau Altenschul geladen zu werden […] (Seite 5)
Mit diesen Worten beginnt Hartmut Lange seine Novelle „Das Konzert“.
Bei Frau Altenschul handelt es sich um eine Jüdin Ende fünfzig, die dem Holocaust zum Opfer gefallen war. Für immer wird die Erinnerung an die entwürdigende Situation sie quälen: Sie hatte sich nackt ausziehen müssen und war dann zu den anderen Toten in eine Grube geworfen worden. Frau Altenschul, die mit Max Liebermann befreundet ist, empfängt in ihrer zweistöckigen Villa in der Voßstraße in Berlin jeweils in der Nacht von Donnerstag auf Freitag die Gäste ihres Salons, die sich bei Champagner und belegten Brötchen angeregt unterhalten möchten.
In einer dieser Nächte lange nach dem Zweiten Weltkrieg taucht unverhofft der hochbegabte Pianist Rudolf Lewanski bei ihr auf, der im Alter von achtundzwanzig Jahren von den Nationalsozialisten in Litzmannstadt (Lodz) erschossen worden war. Frau Altenschul überredet Lewanski, in Berlin zu bleiben und ein Konzert zu geben.
Das findet einige Zeit später im Westflügel des Charlottenburger Schlosses statt. Lewanski spielt die E-Dur-Sonate opus 109 von Ludwig van Beethoven, drei Balladen von Frédéric Chopin und die Variationen für Klavier von Anton Webern. Das begeisterte Publikum feiert ihn und trägt ihn auf Schultern herum.
Auch ein von dem zynischen Novellisten Schulze-Bethmann angekündigter Besucher möchte dem jüdischen Pianisten zu dem Konzert gratulieren, doch als Lewanski die SS-Uniform sieht, bewirft er den Bewunderer mit allem, was er in die Hände bekommt und vertreibt ihn. Der Uniformierte taucht jedoch immer wieder auf, und schließlich bemerkt Lewanski am Hals des SS-Offiziers die Male von dessen Hinrichtung.
Auf Drängen von Frau Altenschul erklärt Lewanski sich bereit, vor einem großen Publikum in der Alten Philharmonie zu spielen. Das Haus ist voll besetzt; viele Interessenten müssen draußen bleiben. Lewanski bleibt jedoch aus.
Er verirrte sich auf dem Weg zur Alten Philharmonie und fand sich unversehens vor einem Erdhügel nahe der Wilhelmstraße wieder. Der Uniformierte führt ihn durch die Neue Reichskanzlei in ihrer „imperialen Kälte und Weitläufigkeit“. Tausende sind dort versammelt. Eine Dame erhebt sich und heißt Lewanski willkommen:
„Mein Mann und ich“, sagte sie und wies dabei auf eine Stelle des Tisches, die im Dunkeln lag, „mein Mann und ich“, wiederholte sie, „sind voller Sorge, dass es Ihnen nicht gelingen könnte, uns zu verzeihen.“ (Seite 88)
Lewanski setzt sich ans Klavier und spielt die E-Dur-Sonate opus 109 von Ludwig van Beethoven, doch mitten im Trillersturm bricht er ab, klappt den Klavierdeckel zu und steht auf:
„Litzmannstadt … Litzmannstadt“, wiederholte er. „Ich bitte um Entschuldigung. Sie hören es selbst: Um dies spielen zu können, sollte ich erwachsen sein. Man hat mich zu früh aus dem Leben gerissen.“ (Seite 91)
Nach diesem Ereignis bleibt Rudolf Lewanski unauffindbar.
In der Alten Philharmonie hatte es wegen seines Fernbleibens einen Skandal gegeben. Frau Altenschul kann nicht verstehen, wieso Lewanski statt vor seinen Leidensgefährten vor seinen Mördern spielte, aber Schulze-Bethmann, der häufig mit Hauptsturmführer Lutz Klevenow zusammen ist, von dem er erdrosselt worden war, gibt ihr zu bedenken:
„Sehen Sie, es hat doch keinen Zweck, jene Unterscheidung, die wir im Leben treffen, nämlich die zwischen Gut und Böse, im Tode beizubehalten […]
Also, ich kann kein Unglück darin sehen, dass der Pianist Rudolf Lewanski den Mut, oder sagen wir, die Gelegenheit hatte, vor seinen Mördern auf dem Klavier zu spielen. Der Täter und sein Opfer – was bleibt uns im Tode anderes übrig, als in Betroffenheit beieinanderzusitzen und darüber zu staunen, welche Absurditäten im Leben allerdings und unwiderruflich geschehen sind. “ (Seite 98)
In der Novelle „Das Konzert“ denkt Hartmut Lange im Zusammenhang mit dem Holocaust über Schuld und Vergebung nach. Das Geschehene ist nicht wiedergutzumachen; die Rollen der Täter und Opfer werden sich niemals ändern. Die Mörder erhoffen sich von dem Juden Rudolf Lewanski ihre Erlösung, aber dem im Alter von achtundzwanzig Jahren erschossenen Pianisten fehlt die Lebenserfahrung, die erforderlich wäre, um die E-Dur-Sonate opus 109 von Ludwig van Beethoven interpretieren zu können: So wie er für ewig um diese Möglichkeit gebracht worden ist, bleiben die Mörder unerlöst.
„Das Konzert“ ist eine unglaubliche Geschichte, nicht weil sie im Fantastischen angesiedelt, sondern weil sie überhaupt gelungen ist. Hartmut Langes hohe Sprachkunst, sein philosophischer Geist und seine soziale Fantasie allein erklären das nicht. Es bedurfte auch Langes beharrlicher, und zwar rationaler Versuche, eine Brücke zu schlagen vom Rationalen zum Transzendenten. Der Blick auf das Leben aus der Gleichgültigkeit des Todes gibt dem Irrsinn plötzlich klare Konturen. Warum diese Novelle vor siebzehn Jahren, als sie erschien, wenn schon keine unüberhörbare Bewunderung, nicht einmal Empörung ausgelöst hat, lässt sich schwer verstehen, zumal sie trotz ihrer inhaltlichen und formalen Ungeheuerlichkeit sehr klar, selbstverständlich und schön erzählt ist. (Monika Maron in der Laudatio zur Verleihung des Italo-Svevo-Preises 2003 an Hartmut Lange)
Hartmut Lange erzählt die surreale Geschichte in einer unprätentiösen Weise. Durch die Konzentration auf einige wenige Grundzüge und den Verzicht auf jeden Schnörkel wirkt „Das Konzert“ besonders eindringlich und bestürzend.
Es heißt, Hartmut Lange habe bei der Figur Rudolf Lewanski an den deutsch-niederländischen Pianisten Karlrobert Kreiten (1916 – 1943) gedacht.
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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Diogenes Verlag
Holocaust
Hartmut Lange (Kurzbiografie)
Karlrobert Kreiten (Kurzbiografie)