Andreas Maier : Das Haus

Das Haus
Das Haus Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Berlin 2011 ISBN: 978-3-518-4222663, 165 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Andreas wird 1967 geboren und verbringt viel Zeit mit seiner Großmutter, weil sein Vater in der Großstadt tätig ist und seine Mutter den Familienbetrieb leitet. Im Alter von drei Jahren wird er durch den Umzug der Familie in ein neu gebautes Haus aus dem Paradies vertrieben. Fast gleichzeitig wird er von der Mutter im Kindergarten abgeliefert und erlebt schockartig, dass er inmitten der anderen Kinder allein ist. Die nächste Zäsur erfolgt mit der Einschulung des soziophoben Sonderlings ...
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Kritik

Andreas Maier lässt seinen feinfühligen Protagonisten aus der Erinnerung erzählen. Das geschieht mit viel Liebe zum Detail, leise, unsentimental und nüchtern.
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Andreas wird 1967 in Bad Nauheim geboren. Als die Wehen einsetzen, fährt der Milchmann die Hochschwangere in die Klinik, weil der Vater, ein Jurist und ehemaliger Steuerbeamter, in leitender Stellung bei der Henninger Bräu AG in Frankfurt am Main beschäftigt ist. Die Familie, zu der außer den Eltern und dem Säugling dessen fünf Jahre älterer Bruder und eine drei Jahre ältere Schwester gehören, wohnt in Nieder-Mörlen, einem Stadtteil von Bad Nauheim.

Einige Wochen vor Andreas‘ Geburt starben kurz nach einander sein Urgroßvater Karl Boll und sein Großvater Wilhelm Boll. Dadurch wurde das Familienunternehmen, die Steinwerke Karl Boll in Friedberg, führungslos. Sobald Andreas‘ Mutter sich von der Niederkunft erholt, übernimmt sie die Direktion. Deshalb verbringt Andreas als kleines Kind viel Zeit mit seiner Großmutter Auguste („Gusti“) und seiner Urgroßmutter Else Boll in Bad Nauheim. Die in Frankfurt lebenden anderen Großeltern, der Bruder und die zwei Schwestern des Vaters kommen sonntags nach dem Kirchgang zu Besuch.

Andreas ist drei Jahre alt, als die Eltern in Friedberg bauen und mit den drei Kindern ins neue Haus ziehen.

1970 baute die Familie dann also das Haus in Friedberg im Mühlweg. Arbeiter sägten die Apfelbäume des ehemaligen Obstgartens ab und gruben die Wurzeln aus dem Grund, legten die Stallungen nieder, man holte die Hühner vom Hof und schlachtete sie, auch der Hund war schon lange verschwunden, der alles zu bewachen hatte (ein Schäferhund namens Zeus, den ich nie kennengelernt habe), dann zogen sie den Zaun, um die Familie vor der Umwelt und der Nachbarschaft zu schützen. Anschließend hoben sie das Erdreich aus, verlegten ihre Leitungen, ihre Abwasserrohre unter die Erde, gossen Beton, wo vorher nur Erde und Bäume und Farn und Laub waren, und nun war da bereits eine riesige Betonwanne mit unterirdischen Kanalanschlüssen für Wasser und Fäkalien, das hatte keine zwei Monate gedauert, und meine Mutter steht mit ihrem leichten, hellen Übergangsmantel im Frühling, im Herbst auf dem Baugelände und überwacht den Bau, ein Kopftuch über dem Haar gegen den Staub und den Wind, während mein Vater in Frankfurt am Main ist und erst am Abend in die Wetterau zurückkehrt in seinem Dienstwagen der Henninger Bräu AG. Für den Dienstwagen ist auch mitgegossen worden, das Betonfundament der Garage. Auch das Automobil soll eine Heimat haben, auch es gehört mit zum Haus und soll darin wohnen und gegen Wind und Regen und Frost geschützt werden wie die Familie, und sogar eine Garagenheizung bekommt das Automobil und bald auch schon ein Geschwister, das Auto meiner Mutter.

Die Mutter bringt Andreas nun in den Kindergarten.

Dort sind sie, die Kinder. Und dann passiert, was in meinem ganzen Leben noch nie geschehen und für mich ganz unvorstellbar war und mein Leben und alles, was mich betrifft, auf einen Schlag änderte und mehr oder minder genau in den Zustand versetzte, in dem es bis heute ist. Es passiert in dem Augenblick, da ich an der Hand meiner Mutter im Vorbau des Kindergartens stehe und gerade übergeben werde. Ich halte die Hand meiner Mutter fest, weil ich von diesem Ort wieder weg möchte, und meine Mutter macht meine Hand von der ihren los, um mich dort allein zurückzulassen. Es setzt sofort eine Betäubung ein. Und dann sehe ich sie, wie sie von mir weggeht, den Gang zurückläuft und schließlich hinter der Mauer verschwindet. Ich war zum ersten Mal allein. Oder anders gesagt: Ich war zum ersten Mal unter Menschen. Unter Menschen und allein.
[…] Diese Kinder waren eine Gruppe, die erste meines Lebens. Diese Gruppe funktionierte nach Regeln, die ich nicht kannte und eigentlich bis heute nicht kenne.

Einige Stunden muss der unglückliche Dreijährige im Kindergarten bleiben. Dann wird er abgeholt, und die Eltern versuchen nicht noch einmal ihn hinzubringen, zumal er damit droht, sich in diesem Fall vor ein Auto zu werfen.

Für Andreas ist das Foyer des neuen Hauses gewissermaßen „ein manichäischer Apparat“, denn wer die Treppe nach oben benutzt, geht ins Licht, während die Personen, die in den Keller wollen, im Dunkeln verschwinden. Die Schwester lockt ihn einmal in den Keller und überlässt ihn der Dunkelheit, während sie rasch wieder nach oben läuft. Mitunter zertrümmert sie Sachen, die dem älteren Bruder gehören.

Wenn damals irgendjemand unserer Schwester einen Gegenstand wegzunehmen versuchte, dann wälzte sie sich wie von Sinnen auf dem Boden, schlug mit ihren Fäusten gegen die Wand, riss den Umstehenden an den Haaren und so weiter. Mein Bruder dagegen, dem sie alles zerstört hatte, stand nur stumm da und stellte seine Schultasche ab. Irgendwann muss er sich daran gewöhnt haben, den Schmerz ohne Tränen zu bestehen. Er stand in der Tür, seine Augen wurden groß und nachdenklich. Er war in diesen Augenblicken immer vollkommen allein mit sich auf der Welt, glaube ich. Verlassen von allem. Nach einer Weile betrat er das Zimmer, musterte die verstreuten Bruchstücke, hob das eine oder andere auf, wie um zu überprüfen, ob noch etwas zu retten sei, was natürlich nicht der Fall war.

Auch beim Abendessen im Kreis der Familie, das Andreas vor allem wegen des grellen Kunstlichts jeden Tag aufs Neue unangenehm ist, benimmt die Schwester sich alles andere als verträglich:

Meine Schwester fiel beim Abendessen öfter dadurch auf, dass sie plötzlich laut aufschrie oder zu heulen begann oder ihr Käsebrot gegen die Wand warf. Hatte sie das Brot geworfen, schrie sie noch lauter, denn nun hatte sie ja kein Brot mehr, also musste ihr ein neues Brot geschmiert werden und eine neue Scheibe Käse darauf gelegt werden. Entweder aß die Schwester am Tisch anschließend das Brot mit dem üblichen Appetit, oder sie warf es wieder gegen die Wand oder einen der Umsitzenden.

Weil Andreas nicht spricht und sich absonderlich bewegt, befürchten die Eltern einen Nervenschaden und konsultieren mit ihm einen Arzt. Trotz der Symptome wird keine geistige Behinderung diagnostiziert.

Am liebsten hält er sich in den Kellerräumen auf, bei der Heizungsanlage oder in der Bastelstube des Bruders.

Aus diesem Paradies wird Andreas durch die Einschulung gerissen. Der introvertierte Sechsjährige mag nicht mit den anderen herumtollen. Es ist ihm ein Gräuel, wenn die Mitschüler sich vor der Pissrinne in der Schultoilette aufstellen, ihre Penisse vergleichen und um die Wette urinieren. Wenn die Klassenlehrerin für die Pausenaufsicht eingeteilt ist, hält der Sonderling sich in ihrer Nähe.

Jeden Tag war ich ein aus der Bahn geworfener Satellit auf dem Schulhof, und alle anderen schienen ihre festen Umlaufbahnen zu haben.

Häufig bleibt Andreas wegen einer Erkrankung zu Hause.

Als er ein Fahrrad bekommt, erweitert er seinen „Weltkreis“. Und er freundet sich mit einem Mädchen an. Wenn er mit Manuela in einem nur aus Leiter und Plattform bestehenden „Baumhaus“ am Ufer der Usa sitzt, ist er aufgeregt und glücklich.

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„Das Haus“ ist der zweite Band einer unter dem Obertitel „Ortsumgehung“ geplanten Reihe von in der Wetterau spielenden Heimat- bzw. Provinzromanen. Elf Bände plane Andreas Maier, heißt es. Es geht um den Konflikt zwischen Paradies und Kultur, Natur und Zivilisation, Land und Stadt.

Auch wenn der Ich-Erzähler Andreas wie der Schriftsteller Andreas Maier 1967 in Bad Nauheim geboren wurde und der Roman „Das Haus“ gewiss autobiografische Züge aufweist, können wir nicht davon ausgehen, dass Autor und Protagonist zusammenfallen.

Mit Andreas‘ ersten sechs Lebensjahren beschäftigt sich Andreas Maier im ersten der beiden Kapitel des Romans „Das Haus“. Es trägt den Titel „Drinnen“. Das Kind wird durch den mit der Trennung von Großmutter und Urgroßmutter verbundenen Umzug der Familie in ein neu gebautes Haus aus dem Paradies vertrieben. Fast gleichzeitig wird der soziophobe, beinahe autistische Dreijährige von der Mutter im Kindergarten abgeliefert und erlebt schockartig, dass er inmitten der anderen Kinder allein ist.

Mit „Draußen“ ist das zweite Kapitel von „Das Haus“ überschrieben. Andreas geht nun zur Schule und gilt auch dort als Sonderling. Das Kapitel beginnt damit, dass er um 7 Uhr morgens wach im Bett liegt, auf das Klingeln des Weckers wartet und sich in allen Einzelheiten ausmalt, was auf ihn zukommt: Aufstehen, Frühstück, Schule. Erst am Ende freundet Andreas sich mit einem Mädchen an.

Andreas Maier lässt seinen feinfühligen Protagonisten aus der Erinnerung erzählen. Das geschieht mit viel Liebe zum Detail, leise, unsentimental und nüchtern. Auf Ursachenforschung und psychologische Erläuterungen, Analysen und Diagnosen, Botschaften und Gesellschaftskritik verzichtet er in „Das Haus“ ebenso wie auf eine stringente Handlung, die auf eine Klimax zusteuert und den Leser mitreißt.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2012
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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