Andreas Maier : Sanssouci

Sanssouci
Sanssouci Originalausgabe: Sanssouci Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2009 ISBN: 978-3-518-42030-0, 301 Seiten Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt/M 2010 ISBN: 978-3-518-46165-5, 301 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Zur Beerdigung des Filmregisseurs Max Hornung in Frankfurt/M reisen Freunde und Bekannte aus Potsdam an, wo er in den letzten drei Jahren die Vorabendserie "Oststadt" drehte. Unter den Trauergästen ist auch der russisch-orthodoxe Mönch Alexej. Statt in sein Kloster in München zurückzukehren, fährt er mit dem Zug nach Potsdam und versucht, das Geheimnis der 16- oder 17-jährigen Zwillinge Heike und Arnold Meurer zu lüften ...
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Kritik

"Sanssouci" ist ein grotesker Roman. Im ersten, vorwiegend aus indirekter Rede bestehenden Teil ist Andreas Maier ein fantastischer Figurenreigen gelungen.
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Der Fernsehregisseur Maximilian Alexander Hornung, der vor drei Jahren von Frankfurt am Main nach Potsdam gezogen war und dort die Vorabendserie „Oststadt“ drehte, kam durch einen Unfall ums Leben. Nach der Beerdigung auf dem Frankfurter Hauptfriedhof treffen sich die Trauergäste in der Gaststätte „Nibelungenhof“ zum Leichenschmaus.

Die Trauergesellschaft versammelte sich um neun Uhr morgens, zu einer Zeit, zu der, wie einige dem Verstorbenen Nahestehende anmerkten, der Verblichene sicherlich noch geschlafen hätte. (Seite 10)

Eine Reihe von Freunden und Bekannten des Toten reiste aus Babelsberg an. Eine von ihnen ist Hornungs Nachbarin Anni Schmidt. Als sie dem dreijährigen Jesus eine Platte mit Wurstbroten hinschiebt, schreit dessen Mutter Merle Johansson entsetzt auf: „Sind Sie wahnsinnig!“ Die sieben- oder achtundzwanzigjährige Schönheit, die im vierten Monat schwanger ist, achtet darauf, dass ihr Sohn kein totes Tier isst.

Neben Merle sitzt ihr Freund Lars Berlow, der jedoch nicht bei ihr in Potsdam, sondern in Braunschweig wohnt. Er ist der Vater des ungeborenen Kindes. In Amsterdam, wo er in Kürze eine neue Stelle antreten wird, hat er bereits eine Wohnung und einen Kindergarten für Jesus ausgesucht – ohne zu ahnen, dass Merle vorhat, die Kinder allein aufzuziehen.

Zu ihrer Verwunderung erfährt Anni Schmidt, dass Max Hornung verheiratet war.

[Merle Johansson:] Mit mir war er verheiratet. Wir haben vor drei Jahren geheiratet. Wir haben aber nicht zusammengelebt. Frau Schmidt: Und wann haben Sie sich scheiden lassen? Sie: Gar nicht, habe ich doch gesagt. Jetzt bin ich verwitwet. Sehen Sie, bis vor einer Woche war ich offiziell seine Frau, jetzt bin ich offiziell seine Witwe. (Seite 15)

Als die Trauergesellschaft schon eine Weile im „Nibelungenhof“ zusammensitzt, tauchen die sechzehn oder siebzehn Jahre alten Zwillinge Heike und Arnold Meurer auf. Sie gelten als unzertrennlich, küssen sich leidenschaftlich auf den Mund, und man sagt ihnen eine inzestuöse Beziehung nach. Sie sind schlampig angezogen, und dem einen oder anderen fällt auf, dass Heike unter ihrem Minirock nichts anhat.

Auch ein russisch-orthodoxer Mönch gehört zu den Gästen: Der Rußlanddeutsche Alexej Lipskij ist Mitglied der Bruderschaft des heiligen Hiob von Potschajew und Novize eines Klosters in München. Er will die Gelegenheit nutzen, seine Mutter Irina zu besuchen, die seit einem halben Jahr in Wölfersheim in der Wetterau wohnt und im städtischen Krankenhaus in Friedberg putzt. Auch sein Bruder Roman wird kommen. Der Vater starb vor sieben Monaten in Bad Nauheim im Alter von vierundfünfzig Jahren an Kehlkopfkrebs.

Doch statt, wie geplant, am nächsten Tag nach München zurückzukehren, nimmt Alexej einen Zug nach Berlin. Als er dort nach Potsdam umsteigt, spricht ihn ein Mann an, der in Hildesheim einstieg und sich zu ihm ins Abteil setzte. Ob er Alexej Lipskij sei, fragt er. Der Mönch kann sich nicht an ihn erinnern, aber Christoph Mai – so heißt der andere – sah ihn einmal mit seinem Freund Max Hornung in Bad Nauheim. Jetzt fährt der Journalist nach Potsdam, weil der Verstorbene ihn als Nachlassverwalter einsetzte.

In Potsdam besucht Alexej den aus Sofia stammenden Bulgaren Grigorij Natchev, den er vor drei Jahren im Übergangslager in Winsen an der Luhe kennen lernte und bei dem es sich ebenfalls um einen orthodoxen Christen handelt. Eigentlich wollte Alexej bei ihm übernachten, aber als er sieht, dass Grigorij in einer Ein-Zimmer-Wohnung in einem Plattenbau haust, geht er zur Alexander-Newski-Kapelle hinauf. Den Erzpriester Klein kennt er seit einer Begegnung in Wiesbaden vor einem Jahr. Klein und seine Ehefrau nehmen ihn gern auf, und Alexej macht sich als Gegenleistung in der Gemeindeverwaltung nützlich, hilft in der Buchhaltung und arbeitet liegen gebliebene Schriftsachen auf.

Christoph Mai verbringt die Nacht in Hornungs Haus.

Am nächsten Morgen steigt er auf ein Fahrrad, das er im Schuppen findet und fährt los. Erst im Park von Sanssouci wird ihm bewusst, dass er unterwegs in den Stadtteil Eiche ist. Dabei wollte er nie wieder in den Unglückspark und schon gar nicht nach Eiche, wo Merle in einer der nach der Wiedervereinigung auf dem Gelände einer ehemaligen Ziegelfabrik errichteten Miet- und Eigentumswohnungen lebte, die ihr die Eltern bezahlten. Ob sie noch immer dort wohnt, weiß er nicht. Mai sieht eine Frau mit einem etwa dreijährigen Sohn und einem Kinderwagen herauskommen, ist aber nach der langen Zeit nicht sicher, ob es sich um Merle handelt.

Auf dem Rückweg trifft er Maja Pospischil, die bald achtzehn wird. Ob er auf der Beerdigung in Frankfurt gewesen sei, fragt sie. Nein, antwortet Mai, er habe Merle Johansson nicht begegnen wollen. Maja kennt das Fahrrad, auf dem er sitzt; es gehöre Nils Ebert, behauptet sie. Aber sie hat nicht viel Zeit, denn sie will zu einer Veranstaltung im Buddhisten-Zentrum im alten Wasserwerk.

Am Abend arbeitet Mai in Hornungs Haus am Nachlass. Dann geht er schlafen.

Gegen zwei Uhr dringt ein Mann ein und schaut sich in den Zimmern um. Als er den Schlafenden bemerkt, geht er gleich wieder.

Bei dem Eindringling handelt es sich um Ludwig Hofmann, einen Russlanddeutschen Mitte vierzig. In Omsk war er Dozent für Maschinenbauwesen an der Technischen Hochschule, aber hier in Deutschland arbeitet er als Gartenhilfe für Heiko Malkowski in Potsdam. Hofmann wohnt mit seiner Mutter, seiner Frau Wanda, seiner siebzehnjährigen Tochter Anastasia und dem sechs Monate alten Säugling Sascha in einer 65 Quadratmeter großen Wohnung. Sein Vater starb zwei Monate nach der Ankunft in Deutschland. In der letzten Zeit schickte Malkowski ihn mehrmals nachts in die Villa des verstorbenen Fernsehregisseurs Hornung. Zuerst sollte er dort eine Kamera suchen, heute waren es Filme, doch als er sah, dass jemand im Haus schlief, nahm er nur einen Laptop und eine externe Festplatte mit, zwei Gegenstände, für die Malkowski bestimmt je 50 Euro zahlen wird. In Hornungs Garten saß ein Obdachloser Mitte siebzig, der „alte Baron“. Der sieht später auch, wie Heike und Arnold Meurer ins Haus gehen. Sie schlafen in der Küche und werden am nächsten Morgen von Christoph Mai geweckt.

Tagsüber sitzt Mai in der Laube in Hornungs Garten und sichtet Papiere. An die sporadische Anwesenheit der Zwillinge gewöhnt er sich. Mitunter kommt er auch mit der Nachbarin Anni Schmidt ins Gespräch.

In der Kneipe „Hafthorn“ treffen Heike und Arnold ihre frühere Schulfreundin Maja Pospischil. Auch Nils Ebert ist da, und er hat zwei Bücher aus Hornungs Bibliothek bei sich: „Stopfkuchen“ von Wilhelm Raabe und die „Angelologia S. Thomae Aquinati“. Es entgeht den Zwillingen nicht, dass Nils in Maja verliebt ist. Angeblich verbrachten die beiden bereits eine Nacht zusammen in einem leer stehenden Haus. Maja hat zwar wohlhabende Eltern, aber sie ist gegen sie, gegen den Staat, gegen Leistung, gegen die Schule. Gute Noten will sie allerdings schon haben.

Als Merle Johansson den kleinen Jesus in den Waldorf-Kindergarten bringt, kontrolliert sie so unauffällig wie möglich, was in der Küche vorbereitet wird.

Vielleicht aß eine der Aufseherinnen doch insgeheim im Kindergarten hin und wieder ein Wurstbrot. Womit sie den ganzen Kindergarten beschmutzte und verunreinigte. Das war das Schlimmste und Perverseste, was sich Merle vorstellen konnte. (Seite 185)

Später fährt sie mit ihren Freundinnen zum Jungfernsee und badet dort nackt. Weil sie an diesem Abend mit Lars verabredet ist, geht sie bei einem Sexshop vorbei und kauft neue Handschellen. Nach dem Essen im Restaurant nimmt sie Lars mit in die Wohnung und befiehlt ihm, in einem Zimmer auf ihn zu warten. Dann geht sie ins Badezimmer – „sich Zeit zu lassen gehört[e] dazu“ – putzt sich sorgfältig die Zähne, zieht sich aus, betastet zuerst ihre rechte Brust, dann ihre linke, zieht ein Oberteil an, dann wieder aus und entscheidet sich endlich für zwei lange Strümpfe, bevor sie zu Lars zurückkehrt.

Ein paar Tage später schließt Anastasia sich Nils und Maja an, die das Tunnelsystem unter dem Park von Sanssouci erkunden wollen. In einigen Gängen gibt es elektrisches Licht, aber streckenweise kommen sie nur mit Taschenlampen weiter. Nach einer halben Stunde bedeuten Nils und Maja ihrer Begleiterin, dass sie ein paar Minuten allein sein wollen. Anastasia wartet in einem Gang mit Gartengeräten unweit einer Eisentür, auf die mit roter und weißer Farbe ein Andreaskreuz gemalt wurde. Ein Unbekannter läuft vorbei; dann ist Arnold zu sehen und verschwindet mit dem Mann. In der Tür mit dem Andreaskreuz taucht der Bulgare Grigorij Natchev auf. Als er fort ist, geht Anastasia neugierig durch die Tür und stößt zu ihrer Verblüffung auf eine Art Kapelle mit einer Altarnische, in der eine farbige Kopie der Madonna von Smolensk und ein Foto der halbnackten Heike Meurer hängt. Schließlich kehrt Anastasia zu der Stelle zurück, an der sie auf Nils und Maja warten wollte. „Derangiert und glücklich“ tauchen die beiden wieder auf.

Grigorij besitzt das Foto seit drei Wochen, überhäuft es seither mit Küssen und brachte es letzte Woche in seine unterirdische Kapelle. Er läuft Heike wie ein Hündchen nach und verehrt sie wie einen Engel, insbesondere seit sie ihn einmal in die Gänge unter Sanssouci begleitete.

Bald darauf erzählt Anastasia, die zu den fleißigsten Gottesdienstbesucherinnen in der Alexander-Newski-Kapelle zählt, dem Mönch Alexej, was sie in dem Tunnelsystem unter dem Park von Sanssouci entdeckte. Was Grigorij dort treibt, hält sie für eine Art Privatkult der Sexualität. Alexej rät ihr, nicht zu viel darüber nachzudenken – aber er nimmt sich vor, die Zwillinge zu befragen.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Der Mönch ist nicht der einzige, der mehr über die Vorgänge unter dem Park von Sanssouci erfahren möchte. Auch Ludwig Hofmann ist dem Geheimnis auf der Spur.

Er hatte ein ganzes Laboratorium der Lust entdeckt. Dunkel und staubig wie ein Rattenloch, so macht es ihnen Spaß. Als Fleischbündel an einen Haken gehängt mit den diversen Instrumenten und Maschinen erwünschte Behandlungen erfahren oder den anderen als Fleischbündel an den Haken hängen und ihm ebenjene Behandlungen angedeihen lassen, das hatte etwas von Doktorspielen der sehr fortgeschrittenen Art. (Seite 273)

Malkowski scheint dort sein Unwesen zu treiben. Dabei ist er mehr an Arnold als an dessen Schwester interessiert. Das erklärt die vielen Narben auf der Innenseite von Arnolds Armen. Auch seine Brustwarzen sind weg.

Es musste einen Grund haben, wenn der Junge seine Unversehrtheit auf dem Altar von Malkowskis privater, unterirdischer Lebensgestaltung geopfert hatte. (Seite 274)

Wusste Max Hornung, was sich unter dem Park von Sanssouci abspielt? Hatte er vielleicht sogar vor, es in seiner Vorabendserie „Oststadt“ einzubauen, in der übrigens Heike und Arnold mitspielten; sie stellten Kai und Christine Richter dar. Inzwischen beabsichtigt ein Theater in Potsdam, eine Bühnenfassung von „Oststadt“ zu inszenieren. Und die Stadt bietet Christoph Mai einen Kuratorenvertrag an.

Die zur SPD gehörende Kulturdezernentin Dr. Dorothee Kupski findet allerdings heraus, dass Hornung die Fernsehserie nur machte, um der Mutter eines von Mai gezeugten Kindes Unterhalt zahlen zu können. Er heiratete sie sogar, damit sie einen Anspruch darauf hatte, lebte aber nie mit ihr zusammen. Dorothee Kupski versucht, Oberbürgermeister Friedrichsen die verwirrende Zusammenhänge zu erklären:

Frau Kupski: Potsdamer Künstler lässt Kind durch Stadt finanzieren.
Der OB: Wie denn das?
Kupski: … indem er sich über die Stadt lustig macht.
Der OB: Oje. Oje, ich beginne zu verstehen.
Kupski: Ich vermute sogar, dass er damals nur deshalb nach Potsdam gekommen ist. Und dass die Serie von Anfang an dafür erfunden war, das Geld für die Frau zusammenzubekommen.
Der OB: Um diesen Mai zu entlasten?
Sie: Könnte man sagen.
Der OB: Das macht doch kein vernünftiger Mensch! Da ist doch keine Oststadtfolge hier!
Die Kupski: Tja. Wer weiß das? […] Vielleicht ist Mai aber damals auch nur über alle Berge, und Hornung sprang deshalb ein […]
Der Magistratsvorsitzende: Da kann man sich ja vorstellen, wie dieses Einspringen ausgesehen hat. Und die Nöte, wie die ausgesehen haben, kann man sich auch vorstellen. Frau Dr. Kupski, es ist eine erwiesene Tatsache, dass Vermögen heute über den Nachwuchs verteilt wird. Das heißt, kurzum, bei den Frauen landet.
Die Kupski: Ich nenne das Sozialgesetzgebung.
Der OB: Wir erleiden also Oststadt wegen dieses Kindes.
Kupski: Das heißt, wegen Dr. Mai.
Der Magistratsvorsitzende: Also wegen dieser Frau.
Die Kupski: Das sind alles Theorien.
Meckel (der längere Zeit nichts mehr gesagt hatte): Das habe ich jetzt nicht verstanden. (Seite 266ff)

An dem Tag, an dem Grigorij den Engel – bei dem es sich um Heike handelt – zum zweiten Mal erwartet, bringen ihn Alexej und Frau Klein mit dem Auto des Erzpriesters nach Werder zu einer Freundin von Frau Klein. Die beiden Frauen raten dem verstörten Bulgaren, nach Sofia zurückzukehren. Er hört ihnen freundlich zu, verschwindet jedoch in einem unbeobachteten Augenblick durch die Terrassentür.

Nachdem Maja Pospischil und Nils Ebert nackt im Jungfernsee badeten und sich am Ufer liebten, nehmen sie an einer Demonstration gegen die Wiedererrichtung der Garnisonskirche teil. Auch Heike und Arnold Meurer, Alexej Lipskij, Grigorij Natchev, Merle Johansson mit Jesus, Christoph Mai und Ludwig Hofmann sind da. Nils fragt Arnold, was dieser Alexej erzählt habe. „Alles“, antwortet Arnold. Ob Alexej gewusst habe, dass Merle Johansson in den geheimen Räumen unter dem Park von Sanssouci verkehre, will Nils wissen, und Arnold meint: „Nein“. Als Maja die beiden Männer fragt, über was sie redeten, behaupten sie, sich über einen Mord unterhalten zu haben. Man könnte Merle und Grigorij so dirigieren, dass der ahnungslose Bulgare eine der schweren Eisentüren in dem Tunnelsystem unter Sanssouci zusperren würde und Merle ersticken, verdursten, verhungern müsste. Weil Grigorij es nicht merken würde und es zwischen ihm und dem Opfer keine Beziehung gibt, wäre es ein perfekter Mord.

Maja achtet nicht weiter darauf, dass Nils sich von ihr entfernt. Sie fühlt sich high.

In Majas Hochgefühl wurden die Begriffe immer einfacher, größer und wahrer. Ja, vielleicht war heute wirklich der bisher schönste Tag in ihrem Leben […] Loredanas Bruder nahm sie auf seine Schultern, denn Nils war nicht da. Nun war sie dem Himmel ein Stück näher […] und sie hörte das Skandieren all dieser wundervollen Menschen: Nie wieder Faschismus, nie wieder Faschismus, und sie richtete ihre Augen […] zum Himmel und jauchzte, wobei Loredanas Bruder von einem anderen, der ein anderes Mädchen auf seinen Schultern trug, leicht angerempelt wurde, worauf Loredanas Bruder ein wenig das Gleichgewicht verlor, wodurch sich ein lustiges Traumeln für Maja ergab, über das sie seltsam gickelnd lachen musste, und als sie die Blüten aus ihrer Hand fallen ließ, sah sie, wie sie dem Bordstein näher kam, der Bruder glitt aus, und sie sah irgendwie sehr deutlich die Farbe der Straße und des Trottoirs und sah auch, wie zwei oder drei Polizisten versuchten, sie aufzuhalten oder irgendwie mit den Händen aufzufangen, und dann sah sie die Bordsteinkante sehr deutlich und unerwartet nah vor sich, und dann wurde es schwarz. Und damit endete Majas Perspektive auf die Dinge. (Seite 299f)

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Dort schrien die einen dies, die anderen das; denn in der Versammlung herrschte ein großes Durcheinander, und die meisten wussten gar nicht, weshalb man überhaupt zusammengekommen war.

Diesen Satz aus der Apostelgeschichte 19.32 stellt Andreas Maier seinem Roman „Sanssouci“ als Motto voran, in dem viel von (russisch-orthodoxer bzw. buddhistischer) Religion die Rede ist. Auch in „Sanssouci“ fängt er – wie in „Wäldchestag“ und „Kirillow“ – eine Kakophonie von Gesprächen ein. „Sanssouci“ ist ein grotesker Roman. Im ersten, vorwiegend aus indirekter Rede bestehenden Teil ist Andreas Maier ein fantastischer Figurenreigen gelungen. Meisterhaft sorgt er dafür, dass eine Figur der nächsten den Stab übergibt und die Perspektive wechselt, ohne dass wir den Überblick verlieren. Eine Handlung, die auf einen Höhepunkt hindrängt, gibt es in „Sanssouci“ nicht; die Spannung ergibt sich stattdessen anfangs aus geheimnisvollen Andeutungen und gegen Ende zu aus düsteren Enthüllungen: Hinter den Kulissen des Alltags in Potsdam und speziell unter dem Park von Sanssouci tun sich Abgründe auf.

„Sanssouci“ […] kreuzt Maiers bisherige Hauptwerke „Wäldchestag“ samt seinem auf Thomas Bernhard getrimmten Gewäsch und „Kirillow“, den Versuch, dem Gewäsch der Gegenwart einen dämonischen Dostojewski-Hintergrund zu geben. Bedeutung aus Bedeutungslosigkeit und Eigentlichkeit aus Uneigentlichkeit zu destillieren, das bleibt auch jetzt noch Maiers Geschäft. (Gustav Seibt, Süddeutsche Zeitung, 13. Januar 2009)

Übrigens machte Andreas Maier keine guten Erfahrungen mit Potsdam. Nachdem er sich erfolgreich als erster Stadtschreiber von Potsdam beworben hatte, sollte ihm dort von November 2004 bis Februar 2005 eine Wohnung und ein Stipendium in Höhe von 6000 Euro zur Verfügung stehen. Am 1. November 2004 gab es allerdings weder eine Unterkunft noch einen unterschriftsreifen Vertrag. Die Medien griffen den Skandal auf: Die einen behaupteten, Andreas Maier habe ein Zimmer im Schloss verlangt, die anderen protestierten dagegen, dass ihn die Stadt angeblich in einem Plattenbau unterbringen wollte. Einige Geschäftsleute aus Potsdam – darunter Wolfgang Cornelius –, die sich um den Ruf von Potsdam sorgten, boten dem Schriftsteller daraufhin auf eigene Initiative eine Wohnung in der Fußgängerzone an, aber der Tumult veranlasste Andreas Maier, auf die Förderung zu verzichten.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Suhrkamp

Andreas Maier: Wäldchestag
Andreas Maier: Usingen
Andreas Maier: Kirillow
Andreas Maier: Das Zimmer
Andreas Maier: Das Haus

Arnon Grünberg - Phantomschmerz
Arnon Grünberg springt zwischen verschiedenen Orten und Zeiten hin und her und baut die Geschichte auch noch in eine Rahmenhandlung ein. Der tragikomische Roman "Phantomschmerz" ist kein besonders tiefschürfendes Buch, aber eine recht unterhaltsame Satire.
Phantomschmerz