Adolf Muschg : Sutters Glück

Sutters Glück
Sutters Glück Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2001 ISBN 3-518-41214-0, 335 Seiten Taschenbuch: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2003 ISBN 3-518-39942-X, 335 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Kurz nach dem Selbstmord seiner krebskranken Ehefrau Ruth wird der ehemalige Gerichtsreporter Sutter (eigentlich: Emil Gygas) erstmals durch einen anonymen Anruf gestört. Das Klingeln des Telefons wiederholt sich monatelang – bis jemand auf ihn schießt. Nach dem Krankenhausaufenthalt überlegt Sutter, wer es getan haben könnte. Statt auf den Täter zu stoßen, begreift er, dass vieles in seinem Leben auf Lüge und Selbsttäuschung basierte ...
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Kritik

Obwohl der Roman "Sutters Glück" wie ein Thriller beginnt, geht es Adolf Muschg nicht um die Aufklärung eines Verbrechens, sondern um eine schmerzliche Selbsterfahrung des Protagonisten, und er lässt sich viel Zeit für Randgeschichten.
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Auf den Tag genau fünf Wochen nach dem Suizid seiner Ehefrau Ruth Rohner klingelt bei Sutter das Telefon, doch bevor er abheben kann, wird aufgelegt. Das wiederholt sich fast jeden Abend zur gleichen Zeit, fünfeinhalb Monate lang, bis jemand auf Sutter schießt und der Sechsundsechzigjährige mit einem Lungendurchschuss ins Krankenhaus gebracht wird.

Eigentlich heißt er Gottlieb Emil Gygax; den Namen „Sutter“ – nach dem Künstler Louis Soutter – hatte Ruth für ihn erfunden. Ruth, die ihren Mädchennamen Rohner auch in der Ehe beibehielt, war nach dem Unfalltod ihrer Eltern bei einer Großtante aufgewachsen. Sie hatte Medizin studiert und später populärwissenschaftliche Fachliteratur vom Englischen ins Deutsche übersetzt. Im März 1996 diagnostizierten die Ärzte bei ihr Darmkrebs. Bevor sie daran gestorben wäre, setzte sie ihrem Leben selbst ein Ende: Während sie und Sutter wie jedes Jahr ein paar Wochen in der Pension von Seraina Bazzell in Sils verbrachten, ertränkte sie sich im nahen See. Ein Rechtsanwalt verwaltet das von ihr hinterlassene Vermögen und überweist Sutter jeden Monat eine Rente.

Ruth und Sutter hatten sich gern ausgefallene Rollenspiele ausgedacht, die sie beispielsweise im Café aufführten. Ohne sich durch Lachen zu verraten, amüsierten sie sich über die Gäste an den Nebentischen, die durch die abstrusen Dialoge sichtlich irritiert waren.

Zwei Jahre vor Ruths Tod schrieb Sutter – der seit seinem Jurastudium als freiberuflicher Gerichtsreporter arbeitete – seine letzten Zeitungsartikel. In dem Fall ging es um die 1959 geborene Kalmückin Yalukha („Yalou“), die 1980 den neun Jahre älteren Programmierer Hellmuth H. aus Frankfurt an der Oder geheiratet hatte und mit ihm nach Magdeburg gezogen war. 1985 kamen sie in den Westen. Zuerst wohnten sie in Nürtingen, später in Zürich, wo Yalou mit dem Maler Jörg von Ballmoos, der sie im Auftrag ihres Ehemanns porträtierte, ein Verhältnis anfing. Hellmuth H. reagierte darauf mit Selbstmordgedanken und Alkoholmissbrauch. Am 14. Oktober 1991 erschlug Yalou ihn mit einer Axt. Nicht zuletzt aufgrund von Sutters Ausführungen im „Tagblatt“ räumte das Gericht der Angeklagten mildernde Umstände ein und verurteilte sie 1994 nur zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe.

Ausgerechnet die Psychotherapeutin Leonore, die damalige Ehefrau des Künstlers, hatte Yalou einen guten Verteidiger besorgt, und sie kümmerte sich während Yalous Haft um deren 1986 geborene Tochter Sieglind („Siggi“).

Nach diesem Prozess trennte sich das „Tagblatt“ von Sutter:

Das BLATT war keine Voliere für Paradiesvögel; und in der Folge gab es Sutter, wenn auch nie ausdrücklich, zu verstehen, dass es für den freien Mitarbeiter Gygax alle mögliche Schuldigkeit getan habe und davon ausging, dass er die genugsam bewiesene Toleranz nicht ferner strapaziere. (Seite 101)

Die Polizei interessiert sich nicht weiter dafür, wer auf Sutter geschossen hat, denn wegen der begrenzten Ressourcen muss Kommissar Zollikofer Prioritäten setzen, und es gibt schlimmere Fälle.

Fritz und Monika, die einzigen Freunde, mit denen Sutter noch Kontakt hat, trennen sich: Monika geht mit ihrem Geliebten, einem Arzt mit Vornamen Volker, nach Pirmasens und lässt die beiden Kinder Alex und Bettina bei Fritz in Zürich zurück. Als Sutter ihn fragt, gibt Fritz zu, seine Frau mit Leonore betrogen zu haben. Mit der Psychotherapeutin, die mit Ruth befreundet war, hatte auch Sutter einmal geschlafen.

Sutter besucht das Ehepaar Kienast, um sich zu bedanken. Die einundsiebzigjährige Irene Kienast und ihr zwei Jahre älterer Mann Franz hatten den Schuss gehört, Sutter taumeln sehen und Hilfe herbeigerufen. Zu seiner Verblüffung erfährt Sutter, dass Irene Kienast seine Frau gekannt hatte, als diese noch Studentin gewesen war: Sie hatte Ruths Großtante gepflegt, als diese unheilbar an Krebs erkrankt war. Irene Kienast erzählt Sutter, sie habe ihn allabendlich angerufen:

„Ich habe es für Ihre Frau getan. Ein Gutenachtgruß, der Sie an Ruth erinnern und ein wenig trösten sollte.“ (Seite 200)

Dass sie dann auch gerade in der Nähe war, als auf Sutter geschossen wurde, sei keine Absicht, sondern wohl Vorhersehung gewesen.

Ein Jahr nach Ruths Tod fährt Sutter – nachdem er die Katze seiner verstorbenen Frau in ein Tierheim gebracht hat – mit der Urne nach Sils. Wegen einer Autopanne muss er unterwegs in Schiers übernachten. Bei der Weiterfahrt fällt ihm eine junge Frau am Straßenrand auf, die sich offenbar den Knöchel verstaucht hat. Er hält an und nimmt sie mit. Sie nennt ihm ihren Künstlernamen Viola Designori, doch nachdem sie in Sils ausgestiegen ist, erkennt Sutter die Frau, von der sie begrüßt wird: Leonore. Und bei einer zufälligen Begegnung mit Jörg von Ballmoos bestätigt sich sein Verdacht, dass Viola Designori der Künstlername von Yalous Tochter Siggi ist.

Erst in Sils erfährt Sutter, dass Seraina Bazzell vor einigen Monaten im Alter von neunundsiebzig Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Ihre Pension wurde inzwischen in ein Seminarzentrum umgebaut.

Jörg von Ballmoos erzählt Sutter, er sei als neunzehnjähriger Kunststudent mit der zwei Jahre jüngeren Ruth in Griechenland gewesen, und er gesteht, im Herbst 1995 – als er bereits mit Yalou verheiratet war – mit Ruth geschlafen zu haben.

Von Shaila, der hinduistischen Ehefrau des Fischers Cahannes, bei dem er für den nächsten Morgen einen Kahn mietet, erfährt Sutter ein weiteres Geheimnis seiner Frau: Während der alljährlichen Aufenthalte in Sils gingen Ruth und Shaila gern miteinander spazieren.

Im Morgengrauen rudert Sutter auf den Silser See hinaus und versenkt die Urne. Obwohl es noch sehr früh ist, befindet er sich nicht allein auf dem Wasser: Eine Surferin zieht bereits ihre Bahnen.

Cahannes entdeckt sein leeres Boot und das im Wasser liegende Segel eines Surfbretts. Er eilt zum Ufer einer kleinen Insel, wo Siggi verzweifelt versucht, Sutter wiederzubeleben. Es ist vergeblich: Sutter hat sich ein Jahr nach dem Suizid seiner Frau ebenfalls ertränkt.

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Der Roman mit dem zynischen Titel „Sutters Glück“ beginnt wie ein Thriller – mit anonymen Telefonanrufen und einem Mordanschlag –, aber es geht Adolf Muschg nicht um die Aufklärung eines Verbrechens (wir erfahren nicht, wer auf Sutter schoss), sondern um eine schmerzliche Selbsterfahrung des Protagonisten, der nach dem Suizid seiner todkranken Frau Ruth vereinsamt und in einem wochenlangen Prozess der Rückschau begreift, dass vieles in seinem Leben auf Lüge und Selbsttäuschung basierte. Überrascht stellt er fest, dass Ruth Geheimnisse vor ihm hatte. Nachdenklich erzählt Adolf Muschg von Sutters Irrungen und späten Einsichten. Dabei lässt er sich viel Zeit für Anspielungen, Randgeschichten und – kurz vor dem Ende – satirische Szenen.

Friedrich Adolf Muschg wurde am 13. Mai 1934 in Zollikon im Kanton Zürich geboren, und zwar als Sohn des Grundschullehrers Friedrich Adolf Muschg Senior (1872 – 1948) und dessen zweiter Ehefrau Frieda (geb. Ernst), einer Krankenschwester. Adolf Muschgs Halbbruder aus der ersten Ehe des Vaters war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte 30. Ab 1946 besuchte Adolf Muschg das Kantonale Literargymnasium in Zürich. Nach zwei Jahren im Internat der Evangelischen Lehranstalt Schiers schloss er die Schulbildung 1953 mit der Matura am Literargymnasium Rämibühl in Zürich ab. Adolf Muschg studierte von 1953 bis 1959 Germanistik, Anglistik und Psychologie in Zürich und zwischendurch in Cambridge. 1959 promovierte er mit einer Dissertation über Ernst Barlach bei Emil Staiger in Zürich.

Von 1959 bis 1962 unterrichtete Adolf Muschg Deutsch an der Kantonalen Oberrealschule in Zürich. Dann lehrte er an der International Christian University Tokyo (1962 – 1964), als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Göttingen (1964 – 1967), Assistant Professor an der Cornell University in Ithaca/New York (1967 – 1969) und Forscher an der Universität Genf (1969/70). 1970 wurde Adolf Muschg als Professor für Deutsche Sprache und Literatur an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich berufen. Nachdem er 1997 noch ein Graduiertenkolleg an der Semper-Sternwarte Zürich gegründet hatte, emeritierte Adolf Muschg 1999. ➤ Fortsetzung

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2007
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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