Adolf Muschg : Von einem, der auszog, leben zu lernen

Von einem, der auszog, leben zu lernen
Von einem, der auszog, leben zu lernen Goethes Reisen in die Schweiz Erstausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2004 ISBN 3-518-41657-X, 87 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Goethes erste Reise in die Schweiz diente zur Selbstfindung. Bei seiner zweiten Reise versuchte er sich über sein Verhältnis zum Herzog von Sachsen-Weimar und über seine Rolle in Weimar klar zu werden. Auf der dritten Reise in die Schweiz vergewisserte sich der inzwischen 48-Jährige seiner selbst.
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Kritik

Adolf Muschg beschäftigt sich mit den drei Reisen, die Johann Wolfgang von Goethe in die Schweiz unternahm, aber es geht ihm nicht um faktenreiche Reiseberichte, sondern er verknüpft damit erbauliche Betrachtungen über Goethes Versuche, Klarheit über sich selbst zu gewinnen und "leben zu lernen".

Im Mai 1775, im Alter von fünfundzwanzig Jahren, reiste Johann Wolfgang Goethe erstmals in die Schweiz. Von seinem Vater dazu ermutigt, schloss er sich Friedrich Leopold Graf zu Stolberg (1750 – 1819), dessen Bruder Christian (1748 – 1821) und Christian Heinrich Kurt Freiherr von Haugwitz (1752 – 1832) an, die zu Besuch nach Frankfurt am Main gekommen waren, um von dort aus gemeinsam aufzubrechen. Für Goethe war die Reise gewissermaßen eine Flucht, nämlich vor der im April eingegangenen Verlobung mit der achtzehnjährigen Frankfurter Bankierstochter Elisabeth („Lili“) Schönemann, die in keiner der beiden Familien gutgeheißen wurde. Fern von den Beschränkungen im Frankfurter Bürgertum wollte er sich – meint Adolf Muschg – mit der Frage nach seiner Identität auseinandersetzen.

Die zweimonatige Reise führte über Mannheim, Straßburg, Emmendingen und Basel. Äußerstes Ziel war der St. Gotthard, aber die Reisegruppe hatte nicht vor, den Pass zu überschreiten und weiter nach Italien zu reisen.

Die Schweiz bestand damals aus einem lockeren Bündnis zahlreicher Klein- und Kleinststaaten, das sich seit dem Spätmittelalter aus dem Kaiserreich faktisch emanzipiert hatte und im Westfälischen Frieden 1648 unabhängig geworden war. Erholungsreisen kannte man noch nicht; Goethe und seine Begleiter mussten große Strapazen und vorübergehende Entbehrungen auf sich nehmen.

Sowohl bei der Hin- als auch bei der Rückreise unterhielt Goethe sich in Zürich mit Johann Kaspar Lavater (1741 – 1801) und erkundigte sich vor allem nach dessen Theorien über den Zusammenhang zwischen Physiognomie und Charakter.

Unterwegs befreundete er sich auch mit Baron von Lindau, der sich in eine Eremitage auf dem Albis zurückgezogen hatte. Weil der idealistische Baron als hessischer Offizier in englische Dienste treten und in die Neue Welt aufbrechen wollte, vertraute er Goethe seinen Adoptivsohn Peter Imbaumgarten an, einen zehnjährigen Hirtenjunge aus dem Berner Oberland, den er in dem berühmten Philantropinum des Ulysses von Salis im graubündischen Marschlins erziehen ließ. Als er bei der Verteidigung Manhattans gegen die aufständischen Amerikaner fiel, nahm Goethe den Schweizer Knaben in seinem Gartenhaus in Weimar auf. Einige Zeit ertrug er sogar Peters Hund, doch als der Wildfang eine Büste Lavaters beschmierte, riss dem Dichter die Geduld und er übergab seinen Schutzbefohlenen einem anderen Vormund. (Peter Imbaumgarten gründete noch eine Familie in Weimar, verschwand dann aber spurlos.)

Seine zweite Reise in die Schweiz begann Johann Wolfgang von Goethe im Herbst 1779 zusammen mit dem acht Jahre jüngeren Herzog Carl August von Sachsen-Weimar (1757 – 1828), der mit achtzehn das Erbe seines früh verstorbenen Vaters übernommen und Goethe im Herbst 1775 in seine Residenzstadt eingeladen hatte. Sie fuhren zunächst von Weimar nach Frankfurt am Main zu Goethes Eltern. Am 25. September besuchten sie die Pfarrerstochter Friederike Brion (1752 – 1813) im elsässischen Sesenheim, mit der Goethe während seiner Studentenzeit in Straßburg 1770/71 eine vermutlich platonische Liebesaffäre gehabt hatte.

Am nächsten Tag schauten sie in Straßburg bei Goethes früherer Verlobten Lili Schönemann vorbei, die inzwischen verheiratet war und ein sieben Wochen altes Kind hatte. In Emmendingen machten sie Goethes verwitwetem Freund und Schwager Johann Georg Schlosser ihre Aufwartung. (Goethes ein Jahr jüngere Schwester Cornelia hatte 1773 geheiratet und war vier Wochen nach der Geburt ihrer zweiten Tochter am am 8. Juni 1777 gestorben.) Die Schweiz erreichten Goethe und der Herzog am 3. Oktober bei Basel. Der Mont Blanc bildete das südwestlichste Zwischenziel ihrer Reise. Nur begleitet von einem einheimischen Führer und ihrem Reitknecht Blochberg, der sich um den Maulesel mit dem Gepäck kümmerte, wanderten sie im November über den tief verschneiten Furka-Pass. Erschöpft übernachteten sie im Kapuzinerdomizil von Realp, bevor sie zwischen den Maultierkolonnen der Pilger vom Urserental zum Gotthard-Hospiz aufstiegen.

War 1775 die Frage gewesen: Wer bin ich?, so lautete sie 1779: Was gehört sich für mich? Bin ich überhaupt am rechten Platz, und wie mache ich einen Platz zum rechten? Noch massiver: Was soll ich in Weimar, was habe ich in der Welt verloren? (Seite 34)

Erst achtzehn Jahre später, 1797, brach Johann Wolfgang von Goethe zu seiner dritten und letzten Reise in die Schweiz auf. Diesmal wollte er weiter nach Italien, doch wegen der Kriegswirren in Oberitalien wagte er es nicht und kehrte wieder am St. Gotthard Pass um.

Die drei Reisen, die Johann Wolfgang von Goethe 1775, 1779 und 1797 in die Schweiz unternahm, charakterisiert Adolf Muschg als „Selbstversuch in drei Anläufen“ (Seite 17). Der Schweizer Schriftsteller beschäftigt sich mit diesen drei Reisen – zwischendurch auch mit Goethes Harz-Reise im Winter 1777/78 und seiner Italienreise 1786 bis 1788 –, aber es geht ihm dabei nicht um faktenreiche Reiseberichte (viele der von mir genannten Einzelheiten stammen aus anderen Quellen), sondern er verknüpft damit erbauliche Betrachtungen über Goethes Versuche, Klarheit über sich selbst zu gewinnen und „leben zu lernen“. Auf diese Weise regt Adolf Muschg zum Nachdenken an.

Friedrich Adolf Muschg wurde am 13. Mai 1934 in Zollikon im Kanton Zürich geboren, und zwar als Sohn des Grundschullehrers Friedrich Adolf Muschg Senior (1872 – 1948) und dessen zweiter Ehefrau Frieda (geb. Ernst), einer Krankenschwester. Adolf Muschgs Halbbruder aus der ersten Ehe des Vaters war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte 30. Ab 1946 besuchte Adolf Muschg das Kantonale Literargymnasium in Zürich. Nach zwei Jahren im Internat der Evangelischen Lehranstalt Schiers schloss er die Schulbildung 1953 mit der Matura am Literargymnasium Rämibühl in Zürich ab. Adolf Muschg studierte von 1953 bis 1959 Germanistik, Anglistik und Psychologie in Zürich und zwischendurch in Cambridge. 1959 promovierte er mit einer Dissertation über Ernst Barlach bei Emil Staiger in Zürich.

Von 1959 bis 1962 unterrichtete Adolf Muschg Deutsch an der Kantonalen Oberrealschule in Zürich. Dann lehrte er an der International Christian University Tokyo (1962 – 1964), als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Göttingen (1964 – 1967), Assistant Professor an der Cornell University in Ithaca/New York (1967 – 1969) und Forscher an der Universität Genf (1969/70). 1970 wurde Adolf Muschg als Professor für Deutsche Sprache und Literatur an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich berufen. Nachdem er 1997 noch ein Graduiertenkolleg an der Semper-Sternwarte Zürich gegründet hatte, emeritierte Adolf Muschg 1999. ➤ Fortsetzung

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2004
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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