Adolf Muschg : Das gefangene Lächeln

Das gefangene Lächeln
Das gefangene Lächeln Originalausgabe: Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 2002 ISBN 3-518-41351-1, 156 Seiten
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

Josef Kaspar Kummer, der vor drei Jahren seinem Sohn die Leitung seiner Hotelkette überließ, schreibt seinem sechsjährigen Enkel John einen Brief, den dieser in 20 Jahren erhalten soll. Es ist eine melancholische Lebensbeichte. Sie handelt u.a. von der Liebe des unerfahrenen Studenten zu einer Frau, die sich nicht von ihm berühren ließ. Als Josef erfuhr, dass sie es mit anderen Männern hemmungslos trieb, vergewaltigte er sie und schlug sie, bis sie sich nicht mehr bewegte ...
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Kritik

Mit einer abenteuerliche Handlung, tragikomische Szenen und ironische Formulierungen sorgt Adolf Muschg in "Das gefangene Lächeln" für eine trotz der melancholischen Grundstimmung vergnügliche Lektüre.
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Beim Aufbau der Weihnachtskrippe steckt der sechsjährige John der Figur Josef eine Rute in die Hand und stellt sie so auf, dass es aussieht, als erhebe Josef die Rute gegen Maria. Als sein Großvater Josef Kaspar Kummer das sieht, stößt er einen Schrei des Entsetzens aus. Dem Kind kann er noch nicht erklären, warum ihn die Szene so erschreckte, aber er setzt sich hin und schreibt John einen langen Brief, den dieser in zwanzig Jahren erhalten soll.

Josef wuchs in einer Schweizer Stadt auf. Sein Vater, ein Aufsteiger aus einer frommen protestantischen Bauernfamilie, wurde Nationalrat. Bald nach Josefs Abitur erlag er einem Schlaganfall, und zwar im Wahlkampf für die dritte Legislaturperiode – im Bett einer Wahlhelferin. Er hinterließ seiner Witwe und seinem Sohn zwar ein Haus, aber auch Schulden und eine reiche, pflegebedürftige Tante, die – wie sich herausstellte, als sie einige Zeit später starb – ihr Vermögen einem armenischen Hilfswerk vermacht hatte.

Zunächst studierte Josef zwar nicht Theologie, wie der Vater gewünscht hatte, aber doch immerhin Religionswissenschaften. Dann wechselte er zur Architektur.

Mit zweiundzwanzig war er noch unberührt. Eines Abends nahm ihn die schüchterne Jurastudentin Maria mit aufs Zimmer, entkleidete sich und legte sich aufs Bett. Er möge vorsichtig sein, flüsterte sie, denn es sei ihr erstes Mal. Josef ejakulierte, bevor er seine Unterhose ausgezogen hatte. Danach tat er so, als zwinge ihn sein Verantwortungsbewusstsein dazu, sich zu beherrschen und auf den Koitus zu verzichten. Ein paar Mal verabredeten sie sich noch, dann gingen sie getrennte Wege.

1963 lernte Josef auf einem Ball der Universität die spröde, ein Jahr ältere Silberschmiedin Magda kennen, die einzige Tochter eines Zahnarztes. Sie wurde seine Freundin, hielt ihn jedoch auf Distanz und ließ sich nicht von ihm anfassen. Da blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr jeden Tag einen Brief zu schreiben, obwohl sie darauf so gut wie gar nicht antwortete.

Zu Magdas Launen gehörte es – oder hatte sie schon eine Regel daraus gemacht? –, dass wir unser besonderes Verhältnis so behandelten, als existierte es gar nicht. (Seite 60)

Als sein Freund Oskar nach Berlin ging, um Schauspielunterricht zu nehmen, überließ dieser ihm sein „Atelier“, eine aufgelassene Schlosserwerkstatt, und Josef zog zu Hause aus. Als Diplomarbeit wollte er Herbergen für den Jakobsweg entwerfen, aber statt daran zu arbeiten, stand er nächtelang vor Magdas Fenstern, weil er argwöhnte, dass sie ihn mit dem zehn Jahre älteren Manuel betrog.

Seine Mutter kam von einem Italien-Urlaub mit einem sizilianischen Fischer namens Anteo zurück.

Oskar gab nach kurzer Zeit den Schauspielunterricht wieder auf. Er erzählte Josef, er habe eine Stelle als Bauzeichner in Ägypten in Aussicht, ziehe es jedoch vor, ein vom Bürgermeister der Heimatstadt vorgeschlagenes Kunstprojekt durchzuführen. Josef, der das Architekturstudium ohnehin abgebrochen hatte, unterschrieb einen Jahresvertrag bei der Moebius SA, die Hotelbauten plante und übernahm Oskars Flugticket nach Kairo. Als er schon fertig gepackt hatte und nur noch einen Brief an seine Mutter einwerfen wollte, standen überraschenderweise Magda und Manuel vor der Tür. Magda gestand Josef ihre Liebe und hatte zwei selbst gemachte Ringe für die Verlobung mitgebracht. Um Josef zu beweisen, dass seine Eifersucht unbegründet war, zeigte ihm Manuel sein schlaffes Skrotum: Durch eine Kriegsverletzung hatte er seine Hoden eingebüßt. Während Magda sich gegen Manuel abstützte, forderte sie Josef auf, sie von hinten zu nehmen, aber der Versuch misslang, und das Sperma tropfte von ihren Oberschenkeln auf den Boden.

Nachdem Josef einige Monate in Kairo gearbeitet hatte, schickte Oskar ihm ein Telegramm: Josefs inzwischen sechzigjährige Mutter war am zweiten Weihnachtstag vom obersten Stockwerk des Millennium-Hotels in den Tod gesprungen. Sie hatte eine Todesanzeige aufgegeben, ein Zimmer genommen und sich eigens einen Wecker auf 3.30 Uhr früh gestellt.

Josef nahm die nächste Maschine nach Paris und von dort den Zug in seine Geburtsstadt.

Vom Notar erfuhr er, dass seine Mutter bereits seit Oktober wieder allein gewesen war. Der sizilianische Fischer hatte sie ausgeplündert und vor seinem Verschwinden ihr Konto leergeräumt. Nur das Haus hatte er nicht mitnehmen können. Das fiel nun an Josef.

Auf der Straße traf er zufällig eine frühere Bekannte. Von ihr erfuhr er, dass Oskar ihn hereingelegt und mit einer Lüge nach Ägypten gelockt hatte, um es ungestört mit Magda treiben zu können. Inzwischen habe Magda wohl mit ungefähr einem Dutzend seiner früheren Freunde geschlafen. Josef ließ sich Magdas Adresse geben und suchte sie auf. Sie war unverkennbar schwanger. Außer sich vor Wut vergewaltige Josef die Frau, die er für prüde gehalten hatte. Während er noch nackt auf dem Bett lag, zog sie sich wieder an, denn sie erwartete einen ihrer Liebhaber, einen blinden Cellisten. Plötzlich warf Josef sie erneut aufs Bett und riss ihr Kleid auf.

Ihre Hand streicht über meinen Bauch und nestelt wie von ungefähr an meinem Glied. Ja, sie ist eine Hure. Da packe ich ihre Handgelenke, die noch in den engen Kleidärmeln stecken, und breite ihre Arme weit auseinander. Als ich loslasse, bleibt Magda liegen wie eine Puppe. Als ich gegen ihren Bauch schlage, will sie sich aufrichten. Ich schwinge mich über ihren Kopf hinweg und drücke ihr die Oberarme nieder, die ich mit beiden Knien kneble. Ich bücke mich über sie und hämmere meine Stirn gegen ihren Bauch. Sie windet sich, aber gegen mein Gewicht kommt sie nicht an, und ich schlage immer wieder zu. (Seite 166)

Als Magda sich nicht mehr rührte, schreckte er hoch. Ohne einen Arzt zu rufen, schlüpfte Josef in seine Sachen und verließ die Wohnung. Er war überzeugt, dass Magda tot war. Noch in der Nacht stieg er in einen Zug nach Wien. Als dieser vor der Ankunft auf freier Strecke hielt, sprang er aus dem Waggon und wanderte über die Felder. Später erfuhr er, dass die Maschine, mit der er nach Kairo zurückfliegen hatte wollen, abgeschossen worden war. In einem Kloster in Urfa, in dem nur noch drei greise Mönche lebten – ein Blinder, ein Tauber und ein Stummer –, fand er wieder zu sich selbst.

Ein Jahr nach dem Suizid seiner Mutter traf er wieder in Ägypten ein. Obwohl sein Vertrag längst nicht mehr galt, konnte er wieder bei Moebius als Bauzeichner anfangen.

Als der Firmenchef Levassor-Desalentours eine Abendgesellschaft gab, mussten die Bauzeichner als Partysklaven antreten.

An dieser Soiree war ich Personal, besaß also eine Form physischer Gegenwart, die nur zum Nachschenken da ist, danach wieder zum Übersehenwerden […] Das Geschäft, bei dem ich, als livriertes Stück Luft, Monsieur Levassor-Desalentours persönlich aufwarten durfte, betraf seine Tochter mit Namen Zoé […] Es war einfach ein Stück Mädchenhandel. Was geht’s dich an, dachte ich, während ich den Herren Veuve Cliquot nachschenkte, ich kannte diese Zoé nicht.
Ich sollte sie gleich kennen lernen, und wieviel sie mich anging, entdeckte ich erst, als ich, quasi anonym, mit ihr geschlafen hatte. (Seite 135f)

Während Levassor-Desalentours noch mit dem arabischen Brautwerber verhandelte, die Respektierung des christlichen Glaubens seiner einundzwanzigjährigen Tochter verlangte und auf Monogamie bestand, zumindest de jure, nahm Zoé Levassor-Desalentours den ihr unbekannten Bauzeichner mit in ein Zimmer und ließ sich von ihm deflorieren, damit der Handel platzte.

Fünf Wochen später tauchte sie bei Josef im Büro auf, teilte ihm mit, dass sie schwanger sei und fragte ihn, ob er bereit sei, sie zu heiraten. Josef war einverstanden, und weil der Firmenchef einen Skandal vermeiden wollte, stimmte er der Eheschließung zu.

1971 kam Zoé mit Pierre nieder.

Josef wurde von seinem Schwiegervater in die Firmenleitung aufgenommen.

Die Berufung zum Baulöwen wird keinem Flöchner [Feuerwehrmann] an der Wiege gesungen. Wenn ich, der Unberufene, dazu erwählt wurde, dann durch Zoé allein. Ohne sie hätte ich die Kisten, die ich in Fabiens Schwitzbude gezeichnet hatte, nicht einmal auf Sand, sondern gar nie gebaut. Mein Fundament für das Gedeihen unseres Geschäfts war die Liebe Zoés – und wenn ich ein Verdienst dabei habe, so nur dies: dass ich ihres Vertrauens würdig werden wollte, ohne zu schwitzen.
Aber wie du mich jetzt kennst, John: ganz ohne Buße habe ich es auch diesmal nicht getan. Was ich geschenkt bekam, musste ich mir noch verdienen, und zwar sauer: da lässt sich ein Flöchner nicht lumpen. Geld machen, und immer mehr davon, ist eine Strafe, und für jeden, der keinen Spaß daran findet, eine immerwährende Züchtigung. Doch ich hatte sie verdient. (Seite 132f)

Im Alter von vierzig Jahren lernte Josef bei einem Gastronomie-Kongress in Athen zufällig die große Liebe seiner Mutter kennen: Joseph. Die beiden hatten nur einen einzigen Sommer zusammen auf Zakynthos verbracht. Joseph war damals bereits verlobt und ist jetzt seit dreißig Jahren verheiratet.

Wenn Sie noch nicht erfahren möchten, wie es weitergeht,
überspringen Sie bitte vorerst den Rest der Inhaltsangabe.

Als Pierre für den Familienkonzern in Kobe ein Hotel eröffnete und es im ersten Jahr selbst leitete, verliebte er sich in die Amerikanerin Rachel Stimmings und schlief mit ihr. Nach Ablauf des Jahres flog er über die USA zurück, um Rachel in Sacramento zu besuchen und sich mit ihr zu verloben, doch sie befand sich gerade auf ihrer Hochzeitsreise in Hawaii. Drei Jahre später wurde sie von Pierre geschwängert und ließ sich von ihrem ersten Mann scheiden.

Mit zwei bekam ihr Sohn John eine Schwester – Heather –, doch sie lebte nur wenige Tage.

Zoé starb dreißig Jahre nach ihrer Eheschließung mit Josef Kaspar Kummer.

Als sein Enkel John drei Jahre alt war, zog Josef sich von der Spitze der Hotelkette Moebius zurück und überließ die Firmenleitung seinem Sohn Pierre.

Drei Jahre später entdeckte er in einer Zeitung eine Todesanzeige, der er entnahm, dass Magda seinen Angriff überlebt hatte und erst jetzt im Alter von 73 Jahren gestorben war.

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„Kannst du dir vorstellen, dass ich nie einen Menschen geliebt habe?“, fragt Josef Kaspar Kummer seinen Enkel in einem langen Brief (Seite 27). Melancholisch blickt er auf ein freudloses Leben zurück. Bis vor kurzem glaubte er, eine Frau ermordet zu haben und dafür büßen zu müssen.

Das Klima bigotter Moral und christlich verbrämter Neurosen, das in schweizerisch-pietistischer Variante die Jugend- und Studentenzeit des Erzählers prägt, wird kommenden Generationen so fremd sein, dass Nachrichten aus dieser ungeheizten Hölle ihnen wie exotische Gespenstergeschichten erscheinen dürfen. (Kristina Maidt-Zinke, Süddeutsche Zeitung, 9. Oktober 2002)

Adolf Muschg nennt „Das gefangene Lächeln“ eine Erzählung. Man könnte auch von einem Briefroman sprechen. Jedenfalls spielt Adolf Muschg auf die Weihnachtsgeschichte und andere biblische Motive an. Dabei unterhöhlt er den Mythos von der „Heiligen Familie“ und der „unbefleckten Empfängnis“, denn seine Darstellung legt den Verdacht nahe, dass Josef sich täuschen ließ, als er glaubte, seine Ehefrau Maria sei trotz der Geburt ihres Sohnes Jesus noch Jungfrau.

Mit biblischen Namen und Mustern ging Adolf Muschg in „Das gefangene Lächeln“ nicht sparsam um. In einigen Passagen schlägt er einen belehrenden Ton an; das mag passen, weil es sich um den melancholischen Brief eines Großvaters an seinen Enkel handelt, aber dem Lesevergnügen dient es nicht. Dass die Lektüre dennoch vergnüglich ist, lässt sich auf die abenteuerliche Handlung, tragikomische Szenen und ironische Formulierungen zurückführen.

Friedrich Adolf Muschg wurde am 13. Mai 1934 in Zollikon im Kanton Zürich geboren, und zwar als Sohn des Grundschullehrers Friedrich Adolf Muschg Senior (1872 – 1948) und dessen zweiter Ehefrau Frieda (geb. Ernst), einer Krankenschwester. Adolf Muschgs Halbbruder aus der ersten Ehe des Vaters war zu diesem Zeitpunkt bereits Mitte 30. Ab 1946 besuchte Adolf Muschg das Kantonale Literargymnasium in Zürich. Nach zwei Jahren im Internat der Evangelischen Lehranstalt Schiers schloss er die Schulbildung 1953 mit der Matura am Literargymnasium Rämibühl in Zürich ab. Adolf Muschg studierte von 1953 bis 1959 Germanistik, Anglistik und Psychologie in Zürich und zwischendurch in Cambridge. 1959 promovierte er mit einer Dissertation über Ernst Barlach bei Emil Staiger in Zürich.

Von 1959 bis 1962 unterrichtete Adolf Muschg Deutsch an der Kantonalen Oberrealschule in Zürich. Dann lehrte er an der International Christian University Tokyo (1962 – 1964), als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Göttingen (1964 – 1967), Assistant Professor an der Cornell University in Ithaca/New York (1967 – 1969) und Forscher an der Universität Genf (1969/70). 1970 wurde Adolf Muschg als Professor für Deutsche Sprache und Literatur an die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich berufen. Nachdem er 1997 noch ein Graduiertenkolleg an der Semper-Sternwarte Zürich gegründet hatte, emeritierte Adolf Muschg 1999. ➤ Fortsetzung

 

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Inhaltsangabe und Kommentar: © Dieter Wunderlich 2008
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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