Cees Nooteboom : Rituale

Rituale
Originalausgabe: Rituelen, Amsterdam 1980 Rituale Übersetzung: Hans Herrfurth Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M 1985
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"An dem Tag, als Inni Wintrop Selbstmord beging, standen die Philips-Aktien auf 149,60. Der Schlusskurs der Amsterdamer Bank hielt sich auf 375, und Scheepvaart Unie war auf 141,50 gesunken."
Mit diesen Worten beginnt Cees Nooteboom seinen Roman "Rituale".
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Kritik

"Rituale" handelt von Eros und Tod, Toleranz, Zeit und Erinnerung, Überdruss und Weltverneinung. Im Mittelpunkt des Romans steht die Suche nach dem Sinn des Lebens.
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Inni Wintrops Vater hatte die Tochter eines französischen Geschäftsfreundes geheiratet. Als Kind erlebte Inni, wie der Vater die Mutter schlug. Eines Nachts, als er durch den Fliegeralarm aus dem Schlaf schreckte, ertappte er ihn mit dem Kindermädchen auf dem Sofa. Später verschwand die Mutter, der Vater heiratete das Kindermädchen, und Inni blieb bei ihm und seiner Stiefmutter. 1944 kam der Vater bei einem Bombenangriff ums Leben.

Inni wurde von vier Schulen relegiert. Nun ist er um die 25 und arbeitet als Schreibkraft für einen „Verrückten“ in Amsterdam, „der da glaubte, er sei Direktor von irgend etwas, und der ihn brauchte, damit er das Personal spielte“.

Sein Leben hatte aus Ereignissen bestanden, und diese Ereignisse hatten keinen Zusammenhalt durch diese oder jene Vorstellung von seinem Leben. Es gab keinen zentralen Gedanken, wie etwa eine Karriere, eine Ambition. Er war einfach da …
Hätte er je eine Ambition gehabt, er wäre bereit gewesen, sich als Versager zu betrachten.

1953 sucht ihn seine Tante Thérèse Donders auf. Sie trägt ein Kostüm von Coco Chanel und in ihrem Wagen wartet der Chauffeur auf sie. Sie nimmt Inni mit zu Arnold Taads.

Das Auto stürmte davon. Sie hatte – doch auch das war ihm erst später klar geworden – niemals etwas zu tun, und das tat sie mit größtmöglicher Geschwindigkeit. In seiner Unschuld glaubte er noch, diese Aufregung käme vielleicht durch geheimnisvolle chemische Vorgänge irgendwo in diesem weißen, ein wenig aufgedunsenen Leib zustande, als koche da ein Töpfchen mit ihrem Blut auf einem inwendigen Herd ständig vor sich hin. Flecken von unterschiedlichster Färbung erschienen und verschwanden auf ihrem Gesicht und ihrem Hals. Und hätte sie nicht regelmäßig einen ihrer tiefen Seufzer von sich gegeben, wäre sie ganz gewiss geplatzt.

Weil sie zehn Minuten zu früh vor der Tür stehen, müssen sie warten, bis Taads zur vereinbarten Zeit öffnet. Sein Tag ist genau eingeteilt, jeden Tag zur gleichen Zeit tut er das Gleiche: Lesen, den Hund ausführen, zwei Finger Whisky trinken. Auch die Ordnung in seinem Haus ist außergewöhnlich, und er verlässt es nur selten. Lieber ist er mit seinem Hund Athos allein. Aus Überdruss hatte er sein Notariat aufgegeben, sich von seiner Frau getrennt und war nach Kanada gegangen, wo er als Feuerwächter in den Rocky Mountains arbeitete.

Thérèse war seine Geliebte gewesen, aber ihr „stürmischer Besitztrieb“ hatte ihm Angst eingejagt. Danach heiratete sie einen „völlig Schwachsinnigen“, „einen mit Geld natürlich“, aber glücklich wurde sie dadurch nicht.

Arnold Taads versteht sich als Existenzialist. Er hasst die Menschen und sich selbst, glaubt nicht an ein höheres Wesen und ist überzeugt, dass er sein Sein selbst definieren müsse.

Im Haus seiner Tante begegnet Inni der Bediensteten Petra.

Sie war lang und schmal, hatte große Brüste und ein schiefes Komödiantengesicht, in dem die grünen Augen das Lachen nur mit Mühe unterdrückten. Inni war sofort verliebt in sie.

Ihr Verlobter kommt zwar in zwei Wochen aus dem Koreakrieg zurück, und dann will sie heiraten, aber sie gibt sich Inni willig hin und lehrt ihn, was Erotik und Sexualität bedeuten. Nachdem er in ihrem Mund gekommen ist, zeigt sie ihm den Samen wie eine Hostie auf der Zunge, bevor sie schluckt. Von da an ist der Geschlechtsverkehr ein wichtiges Ritual in Innis Leben.

1960 erhält Inni einen Brief von Arnold Taads. Wie in jedem Winter hat er sich allein mit seinem Hund auf einen Berghof in den Alpen zurückgezogen. Er schreibt, der Hund sei an einem Hirnturmor erkrankt und er habe ihn erschossen. Einen Monat später erhält Inni die Mitteilung von Taads Tod. Als der Einsiedler nicht wie gewohnt nach zwei Wochen zur Proviantbeschaffung im sechs Stunden entfernten Dorf erschienen war, hatte man ihn gesucht und mit dem leeren Rucksack auf dem Rücken in der Nähe des Hofs im Schnee gefunden. Er war erfroren.

Drei Jahre zuvor war Inni beim Besuch einer Fotoausstellung auf Zita aufmerksam geworden. Am Tag vor der Hochzeit hatte er sie defloriert.

Nach sechs Jahren Ehe fordert sie ihn eines Nachmittags zum Geschlechtsverkehr auf, verlangt aber Geld dafür. Inni glaubt, das gehöre zum erotischen Spiel, schreibt ihr einen Scheck aus und lässt sich davon erregen, sie wie eine Hure zu behandeln. Danach zieht sie sich rasch an, ermahnt ihn, er müsse bis zum Redaktionsschluss um 16 Uhr noch ein Horoskop für „Het Parool“ abliefern und verlässt die Wohnung. „Löwe, heute wird dir etwas Schreckliches passieren“, schreibt Inni (sein eigenes Tierkreiszeichen ist Löwe). „Deine Frau wird ausreißen, und du begehst Selbstmord.“ Auf dem Rückweg von der Redaktion betrinkt er sich. In der Wohnung findet er einen Zettel, auf dem ihm seine Frau mitteilt, sie werde nicht wiederkommen. Zita hat sich am Bahnhof mit einem italienischen Gastarbeiter aus der Küche des Hotels „Victoria“ getroffen und ist mit ihm abgereist. Inni geht ins WC und hängt sich an den Heizungs- und Wasserrohren auf.

In seinem über und über mit Erbrochenem beschmutzten Bett kommt er wieder zu sich. Die Schlinge war gerissen.

Danach hat er ein Verhältnis mit einer Schauspielerin, bis diese ihn „aus Gründen der Selbsterhaltung“ hinauswirft.

An einem Tag des Jahres 1973 – Inni ist jetzt 45 – sieht er, wie eine Taube in ein Auto fliegt, und als er zu dem verunglückten Tier läuft, begegnet er einem blonden Mädchen, das sich ebenfalls um die Taube kümmert. Er hebt den Vogel auf; der Kopf hängt nach unten: der Hals ist gebrochen. Inni hilft dem Mädchen, die Taube zu begraben. Dann nimmt sie ihn mit in ihre Wohnung. Ohne lange Vorbereitungen ziehen sie sich gegenseitig aus. Als er beim Abschied nach einem Wiedersehen fragt, schüttelt sie den Kopf: sie habe einen Freund. Auf der Straße fällt ihm auf, dass er nicht weiß, wie sie heißt und ihr auch seinen Namen nicht genannt hat.

Was würde sich an dem gerade Geschehenen ändern, wenn er ihren Namen wüsste? Nichts. Und doch kam es ihm so vor, als müsse mit einer Zeit, in der man namenlos miteinander ins Bett gehen konnte, nicht alles in Ordnung sein.

Er geht zu dem Kunsthändler Bernard Roozenboom, der sich in seinem Laden „wie ein Maulwurf verschanzt“. Roozenboom nimmt einen der beiden Stiche, die Inni dabei hat, in Kommission, aber wegen des anderen Bildes – es handelt sich um einen japanischen Druck –, verweist er ihn an seinen Kollegen Riezenkamp.

Vor Riezenkamps Schaufenster steht ein ebenfalls etwa 45-jähriger Mann, der eine schwarze Schale anblickt. Es handelt sich um ein seltenes Chawan, eine Schale aus Steinzeug, in der man bei der japanischen Teezeremonie den pulverisierten grünen Tee mit einem Bambusbesen schaumig schlägt.

Inni betritt den Laden. Der Besitzer kennt den Mann vor dem Schaufenster und bittet ihn herein. Als Inni den Namen des Fremden hört, fragt er ihn, ob er mit Arnold Taads verwandt sei. Er ist der Sohn des Toten.

Philip Taads war noch klein, als sein egozentrischer Vater die aus Indonesien stammende Mutter verließ. Riezenkamp meint begeistert, Philip Taads wisse mehr über japanische Teeschalen als er selbst, und dabei sei er nie selbst in Japan gewesen. Inni begleitet den neuen Bekannten in dessen Wohnung. Die ist weiß getüncht und so gut wie leer. Offenbar hat Philip Taads sich ebenso wie sein Vater von der Welt zurückgezogen, aber für ihn spielt die Zeit überhaupt keine Rolle.

Drei Tage in der Woche bearbeitet Philip Taads in einem Handelsunternehmen die spanische Auslandskorrespondenz, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen und etwas zu sparen. Er sagt von sich selbst:

Wenn man es auf die übliche abendländische Art betrachten will, bin ich einfach ein Krankheitsfall, nicht wahr? Einer, der aus allen möglichen Gründen – Herkunft, Verhältnisse und das ganze Sammelsurium – nicht mehr mitkommt und auch offen ausspricht, dass er nicht mehr mitwill.

Seinem Besucher verrät er, dass er sich auf seine Erlösung vorbereite:

Ich störe die Welt, und die Welt stört mich. … Ich habe keine Angst mehr. ich kann mich in aller Ruhe auflösen, so wie man eine Flasche Gift im Ozean auflöst. Dem Ozean kann das wenig anhaben.

Fünf Jahre nach Innis erster Begegnung mit Philip Taads in Riezenkamps Laden ruft der Kunsthändler ihn an. Bei einer Auktion habe er ein klassisches Chawan ersteigert, das er jetzt Philip Taads zeigen wolle. Inni wird Zeuge, wie Philip die Schale von allen Seiten betrachtet, sie befühlt, probeweise hebt und an die Lippen setzt, bevor er sie kauft. Offenbar hat er inzwischen genügend zusammengespart, um den hohen Preis zahlen zu können.

Einige Wochen später, an einem Novembertag, werden Inni und Riezenkamp von Philip eingeladen und wohnen einer japanischen Teezeremonie bei. Für diesen Zweck brauchte Philip das makellose Chawan, und um es kaufen zu können, hatte er ein Leben lang gespart.

Philips Zimmerwirtin meldet sich kurz darauf bei Riezenkamp. Der geht mit Inni gemeinsam zu Philips Wohnung. Sie lassen sich die Schlüssel geben und öffnen die Tür. In der Mitte des Raums liegt die mit großer Kraft zerschmetterte kostbare Schale. Sie verständigen die Polizei, und nach ein paar Tagen identifizieren sie Philips aus dem Wasser geholte Leiche.

Der Roman endet mit den Worten:

Es gab somit unverkennbar zwei Welten: eine, in der die beiden Taads sich aufhielten, und eine, in der sie abwesend waren, und zum Glück befand er [Inni] sich noch in der letzteren.

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„Ein großer europäischer Schriftsteller. Ein poetischer Roman, in dem die Erotik im Mittelpunkt steht“, urteilt Marcel Reich-Ranicki über Cees Nooteboom und „Rituale“. Der Literaturkritiker, der sein Faible für erotische Lektüre in „Das literarische Quartett“ selbst eingestanden hat, greift zu kurz, denn „Rituale“ handelt nicht nur vom Eros, sondern auch von Tod, Toleranz, Zeit und Erinnerung, Überdruss und Weltverneinung. Wenn etwas im Mittelpunkt des Romans steht, dann ist es die Suche nach dem Sinn des Lebens.

Nicht ohne ironische Untertöne erzählt Cees Nooteboom von zwei skurrilen Egozentrikern – Vater und Sohn –, die wie Eremiten leben und sich inmitten der chaotischen Welt klar geordnete Inseln der Bedeutsamkeit einrichten, weil sie hoffen, ihrem Dasein dadurch einen Sinn geben zu können. Der Existenzialist Arnold Taads klammert sich Tag für Tag an die gleiche Zeiteinteilung wie an ein streng reglementiertes Ritual. Philip Taads sehnt sich dagegen nach vollkommener Zeitlosigkeit und Selbstauflösung. Seinen Lebensinhalt sieht er darin, sich nach einer finalen Teezeremonie mit einem makellosen Chawan das Leben zu nehmen.

Cees Nooteboom erzählt die Geschichte nicht chronologisch, sondern gliedert sie in drei 1963, 1953 bzw. 1973 spielende Kapitel und streut Rückblenden und Vorgriffe ein. „Rituale“ ist ein poetischer, intelligenter Roman, aber ich persönlich finde „Die folgende Geschichte“ noch überzeugender.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
Textauszüge: © Suhrkamp Verlag

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