Cees Nooteboom : Die folgende Geschichte
Inhaltsangabe
Kritik
Lissabon oder Amsterdam?
Meine eigene Person hat mich nie sonderlich interessiert, doch das hieß nicht, dass ich auf Wunsch einfach hätte aufhören können, über mich nachzudenken — leider nicht. Und an jenem Morgen hatte ich etwas zum Nachdenken, soviel ist sicher.
Mit diesen Sätzen beginnt „Die folgende Geschichte“.
Herman Mussert, ein etwa 50 Jahre alter Junggeselle, war früher Studienrat für alte Sprachen an einem niederländischen Gymnasium. Seit seiner Entlassung aus dem Schuldienst schreibt er unter dem Pseudonym „Strabo“ Reiseführer. Aber wenn er nächstes Jahr eine Pension bekommt, will er damit wieder aufhören und an seiner Ovid-Übersetzung weiter arbeiten.
Er wacht in einem Hotelzimmer in Lissabon auf, obwohl er am Abend zuvor in seiner Wohnung in Amsterdam zu Bett gegangen ist. In der Brieftasche, die auf dem Stuhl neben seinem Bett liegt, steckt portugiesisches Geld. Vom Zimmer darüber hört er die Geräusche menschlicher Lust. Wie kommt er hierher? Ist er überhaupt hier, oder liegt er in Amsterdam und träumt?
„Wir werden spüren, wie es durch die Ritzen des Kausalgebäudes zieht“, hat jemand gesagt. Nun, an jenem Morgen zog es bei mir ganz gehörig.
Ich befand mich … in einem Zimmer, in dem ich mich nach den Gesetzen der Logik, soweit ich sie kannte, nicht befinden konnte. Das Zimmer kannte ich, denn hier hatte ich vor gut zwanzig Jahren mit der Frau eines anderen geschlafen.
Ich weiß, jetzt muss ich mit der Arbeit des Erinnerns beginnen.
Erinnerungen
Als er zu Bett ging, hielt er einen Zeitungsausschnitt in der Hand. Darauf war ein von der Voyager-Sonde aus sechs Milliarden Kilometer Entfernung gefunktes Bild der Erde zu sehen. Angst überfiel ihn, die Erde, „die da so lose und schutzlos im Raum hing“ könnte herunterfallen.
Ich merkte, dass ich allmählich einschlummerte, und zugleich schien eine gewaltige Welle mich zu durchfluten, aufzunehmen, zu umschließen und mit einer Kraft mitzureißen, von der ich nicht wusste, dass es sie gab … Das gesamte Universum war darauf aus, mich zu betäuben, und es schien, als versuchte ich, mit dieser Betäubung mitzusingen, dazuzugehören, so wie ein Fisch, der von der Brandung mitgesogen wird, gleichzeitig zu dieser Brandung gehört.
Er treibt von einer Erinnerung zur anderen und reflektiert darüber.
Jeder Gedanke zieht bei mir nun einmal sofort den nächsten nach sich.
Mussert erinnert sich an die Schülerin Lisa d’India. „Ich war der einzige der gesamten Schule, Direktor, Lehrer, Lehrerinnen, Hilfskräfte inbegriffen, der nicht in Lisa d’India verliebt war.“ Die Tochter eines Metallarbeiters aus Catania glänzte in allen Schulfächern, und Hermann Mussert fühlte sich von ihr inspiriert, wenn er der Klasse Ovids Metamorphosen vortrug.
Das war vor zwanzig Jahren. Sein Kollege Arend Herfst, ein Lehrer für Niederländisch, hatte ein Verhältnis mit der Schülerin. Dafür rächte sich dessen Ehefrau Maria Zeinstra, die an derselben Schule Biologie unterrichtete, durch einen Seitensprung mit Herman Mussert: Als sie zu einem Biologenkongress nach Coimbra reiste, lud sie ihn ein, anschließend mit ihr ein paar Tage in Lissabon zu verbringen. Inzwischen macht sich Mussert keine Illusionen mehr:
Ich versuchte mir selbst weiszumachen, dass es sich hier um Leidenschaft handelte, doch wenn es bei ihr so war, dann galt diese Leidenschaft jedenfalls nicht mir, sondern ihrem blutleeren Ehemann …
Ohnehin hat er sich beim Geschlechtsverkehr ‒ ohne seine dicke Brille ‒ immer etwas unsicher gefühlt.
Das bedeutet, dass ich in der intimen Nähe eines Frauenkörpers das Wehrloseste aller Geschöpfe bin, und das wiederum bedeutet, dass ich mich meist von diesen Aktivitäten ferngehalten habe, die ständig in aller Munde sind und die meiner Meinung nach doch eher zum Tierreich gehören als zu den Menschen, die sich mit den weniger greifbaren Dingen des Daseins befassen.
Einige Zeit später kam Maria Zeinstra nach dem Unterricht zu Herman Mussert ins Klassenzimmer. Sie hob ein Buch von Lisa d’India von der Schulbank auf: Platon. Dabei fiel ein Umschlag heraus, adressiert an Herman Mussert.
„Du kannst wählen. Entweder, du bekommst ihn, und dann siehst mich nicht mehr, egal, was drinsteht. Oder ich zerreiße ihn hier und jetzt in tausend Stücke.“
Dann fand Arend Herfst heraus, dass seine Frau ein Verhältnis hatte und prügelte sich mit Mussert auf dem Schulhof, bevor er mit Lisa d’India wegfuhr ‒ und mit dem Auto gegen einen Lastwagen prallte. Arend Herfst kam mit gebrochenen Beinen davon. Das Mädchen war tot. Nach diesem Vorfall mussten beide Lehrer die Schule verlassen.
Von Belém nach Belém
Herman Mussert wundert sich, dass die Zeiger auf dem roten japanischen Wecker neben seinem Bett sich nicht bewegt haben, seit er in Amsterdam schlafen ging.
Zusammen mit sechs anderen Passagieren geht er in Belém bei Lissabon (dem Tor der alten Welt) an Bord eines Schiffes, das sie nach Belém in Brasilien bringt. Von dort fahren sie den Amazonas hinauf. Während der Reise erzählen sie sich Bruchstücke ihres Lebens. Mussert ist als letzter dran.
In dieser Nacht träumte ich zum letzten Mal von mir in meinem Bett in Amsterdam, aber ich begann mich, der Mann in diesem Bett begann mich zu langweilen.
Lisa d’India wartet auf ihn. Ihr erzählt er „Die folgende Geschichte“.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Eine „poetische Erzählung“ nennt der holländische Schriftsteller Cees Nooteboom sein Buch „Die folgende Geschichte“, das den Leser mit seiner kunstvollen Komposition und geheimnisvollen Verknüpfung scheinbar unzusammenhängender Szenen und Gedanken fasziniert.
Wir hören einem Ich-Erzähler zu, aber der Autor wechselt zwischendurch in die dritte Person Singular. Den Protagonisten erleben wir in der Gegenwart und in seinen Erinnerungen.
Von zentraler Bedeutung ist das Reisen in „Die folgende Geschichte“. Herman Mussert war Reiseschriftsteller, träumt von der Raumfahrt und befindet sich am Ende auf dem Weg von Belém in Portugal nach Belém in Brasilien, wobei diese Schiffsreise den Übergang vom Leben zum Tod, die Trennung von Bewusstsein und Körper symbolisiert.
Mit Hilfe der geistreich verspielten und verspiegelten Dichtung veranschaulicht Cees Nooteboom, wie das Bewusstsein durch einen unendlichen Strom von Gedanken und Erinnerungen die Schwelle des Todes verschleiert.
nach oben (zur Kritik bzw. Inhaltsangabe)Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2002
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