José Ortega y Gasset : Der Aufstand der Massen

Der Aufstand der Massen
Originalausgabe: La rebelión de las masas, Madrid 1930 Der Aufstand der Massen Übersetzung: Helene Weyl Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1931 Rowohlt Verlag, Reinbek 1956
Buchbesprechung

Inhaltsangabe

"Der Aufstand der Massen" ist Zeit­diag­no­se, Kultur- und Gesellschaftskritik. Der Spanier José Ortega y Gasset schrieb die Essays 1926 bis 1929, in einer Zeit des Umbruchs. Zwar begrüßt er die neuen Lebensmöglichkeiten, die auch einfachen Menschen zur Verfügung stehen, aber er beklagt zugleich einen sittlichen Nieder­gang durch das Vordringen der Massen. Deren Bestimmung wäre es eigentlich, so Ortega, sich von der Elite führen zu lassen ...
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Kritik

José Ortega y Gasset gibt in "Der Aufstand der Massen" Denk­anstöße, bietet jedoch keine Lösungen an. Seine Aus­führungen sind un­syste­ma­tisch. Aber das Buch – Pflicht­lek­türe in den 60er-Jah­ren – enthält auch ver­blüffend aktuell wirkende Beobachtungen.
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José Ortega y Gasset beginnt seinen Essay „Der Aufstand der Massen“ mit dem Hinweis auf die Zusammenballung der Bevölkerung in den Städten und deren in Straßen und Mietshäusern, Reisezügen und Gastronomie-Betrieben, Kinos und Wartezimmern zu beobachtende Überfüllung.

Wir sehen die Menge als solche im Besitz der von der Zivilisation geschaffenen Einrichtungen und Geräte.

[…] gerade an den vornehmsten Stellen, die, als verhältnismäßig verfeinerte Schöpfungen der menschlichen Kultur, vorher ausgewählten Gruppen, mit einem Wort den Eliten vorbehalten waren. Die Menge ist auf einmal sichtbar geworden und nimmt die besten Plätze der Gesellschaft ein.

[…] die Lebensmöglichkeiten, die heute den Massen offenstehen, decken sich zum großen Teil mit denen, die früher ausschließlich den wenigen vorbehalten schienen.

José Ortega y Gasset versteht die in seinem Buch zentralen Begriffe Elite und Masse weniger soziologisch als psychologisch:

Der Massenmensch ist der Mensch, der ohne Ziel lebt und im Winde treibt. Darum baut er nichts auf, obgleich seine Möglichkeiten und Kräfte ungeheuer sind.

Man kann von einer einzigen Person wissen, ob sie Masse ist oder nicht. Masse ist jeder, der sich nicht selbst aus besonderen Gründen – im Guten oder im Bösen – einen besonderen Wert beimisst, sondern sich schlechtweg für Durchschnitt hält, und dem doch nicht schaudert, der sich in seiner Haut wohlfühlt, wenn er merkt, dass er ist wie alle.

Im Gegensatz zum Massenmensch fühlt sich der Angehörige einer Elite für die Gesellschaft verantwortlich und strebt nach Idealen.

Sein Leben ist ihm schal, wenn er es nicht im Dienst für etwas Höheres verbraucht.

Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ließ sich die Masse von der Elite führen. Sie war unmündig.

In einer guten Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten ist die Masse der Teil des Gemeinwesens, der nicht aus sich handelt. […]
Erhebt die Masse Anspruch auf selbstständiges Handeln, so steht sie gegen ihr eigenes Schicksal auf; da es eben dies ist, was sie jetzt tut, spreche ich von dem Aufstand der Masse.

Der Massenmensch verfügte auch gar nicht über die Qualifikation für bestimmte Ämter, wissenschaftliche oder künstlerische Tätigkeiten.

Früher wurden solche Spezialberufe von berufenen – wenigstens dem Anspruch nach dazu berufenen – Minderheiten ausgeübt. Die Masse verlangte keinen Anteil daran […].

Damals war die Masse überzeugt, dass schließlich und endlich trotz all ihrer Fehler und Mängel die Politiker etwas mehr von den öffentlichen Fragen verstünden als sie.

In früheren Zeiten kämpften die meisten Menschen ums Überleben; zumindest mussten sie sich plagen.

Für das „Volk“ aller Zeiten bedeutete „Leben“ vor allem Begrenzung, Verpflichtung, Abhängigkeit, mit einem Wort, Druck. Wenn man will, sage man Bedrückung, unter der Bedingung, dass darunter Bedrückung nicht nur durch Recht und Gesellschaft, sondern auch durch die Natur verstanden sei. Denn an dieser gebrach es niemals, bis vor hundert Jahren der Aufschwung der wissenschaftlichen Technik, der physikalischen und der organisatorischen, begann, die praktisch unbegrenzt ist. Vorher war auch für den Reichen und Mächtigen die Welt ein Name für Armut, Kampf, Gefahr.

Das hat sich grundlegend verändert. Darüber hinaus stehen heute jedem beispielsweise Medikamente und Verkehrsmittel zur Verfügung.

Während in der Vergangenheit das Leben für den Durchschnittsmenschen gleichbedeutend war mit Schwierigkeiten, Gefahren, Nöten, Schicksalsenge und Abhängigkeit auf allen Seiten, erscheint die neue Welt gesichert, als ein Bereich praktisch unbegrenzter Möglichkeiten […].

Die Lebenslandschaft der neuen Massen […] bietet tausend Möglichkeiten und Sicherheit obendrein, und alles fix und fertig, zu ihrer Verfügung, unabhängig von einer vorherigen Bemühung ihrerseits, wie die Sonne am Himmel steht, ohne dass wir sie auf die Schulter gehoben hätten.

Der Massenmensch hält die Errungenschaften der Zivilisation für naturgegeben.

Immer neue Luxusgewohnheiten nahm er in seinen Lebensstandard auf; immer sicherer und von fremder Willkür unabhängiger wurde seine Stellung. Was man vorher als eine Gnade des Schicksals angesehen hätte, die in demütiger Dankbarkeit hingenommen wurde, betrachtete man jetzt als ein Recht, für das man nicht dankt, das man fordert.

José Ortega y Gasset übersieht nicht, dass der Aufstand der Massen mit einer Hebung des allgemeinen Lebensstandards bzw. „des gesamten historischen Niveaus“ einhergeht. Für fast alle in der Gesellschaft haben sich die Möglichkeiten und Potenziale vervielfacht. Und durch die Medien ist der Einzelne nicht mehr auf seine unmittelbare Umgebung beschränkt, sondern erfährt auch, was auf anderen Kontinenten geschieht.

Das heißt, der Lebensinhalt eines Menschen von mittlerer Art ist heute der ganze Planet; jeder einzelne erlebt gewohnheitsmäßig die ganze Erde.

Die Masse lässt sich nicht mehr führen und verweigert der Elite den Respekt. Rechtlich Privilegierte gibt es seit der Abschaffung der aristokratischen Vorrechte nicht mehr; vor dem Gesetz sind alle gleich. Anders als noch im 19. Jahrhundert maßt sich die breite Masse eine Meinung an und versucht „ihre Stamm­tisch­weis­heiten durchzudrücken“.

Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick ist es jedoch, dass die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall durchzusetzen. Wie es in Nordamerika heißt: Anderssein ist unanständig. Die Masse vernichtet alles, was anders, was ausgezeichnet, persönlich, eigenbegabt und erlesen ist. Wer nicht „wie alle“ ist, wer nicht „wie alle“ denkt, läuft Gefahr, ausgeschaltet zu werden.

Wir leben unter der brutalen Herrschaft der Massen.

Dabei sind die Massen nicht für rationale Argumentationen empfänglich, sondern unbelehrbar.

Denn die Grundverfassung ihrer Seele ist Unzugänglichkeit und Unbelehrbarkeit; es ist ihr angeborener Fehler, nichts zu berücksichtigen, was außerhalb ihres Horizontes ist, seien es Tatsachen, seien es Personen.

Als Vorrat von Möglichkeiten ist unser Zeitalter prachtvoll, allen historisch bekannten überlegen. Aber durch sein ungewöhnliches Format ist es über alle ihm von der Überlieferung vermachten Regulierungen, Prinzipien, Normen, Ideale hinausgetreten. Es ist mehr Leben als alles frühere Leben und eben darum problematischer. Es kann sich nicht an der Vergangenheit orientieren. Es muss sein Schicksal selbst entdecken.

Der Aufstand der Massen geht mit einem Werteverfall einher, aber José Ortega y Gasset bezweifelt die Zwangsläufigkeit eines kulturellen Niedergangs; er glaubt nicht an den „Untergang des Abendlandes“ (Oswald Spengler).

Ein Grundelement des Liberalismus ist die Toleranz gegenüber anderen Über­zeugungen und Lebensauffassungen, die Bereitschaft, abweichende Meinungen bestehen zu lassen, mit Oppositionsparteien zu regieren und selbst Minderheiten zu respektieren. José Ortega y Gasset beobachtet jedoch einen „Menschentypus“ in Europa, der nicht nur den Liberalismus ablehnt, sondern es auch gar nicht für erforderlich hält, seine Ansichten zu begründen, „der sich schlechtweg entschlossen zeigt, seine Meinung durchzusetzen“. Diese Entwicklung, befürchtet José Ortega y Gasset, werde in der Barbarei enden.

Zivilisation ist in erster Linie Wille zur Gemeinschaft. Man ist so unzivilisiert und barbarisch, wie man rücksichtslos gegen seinen Nächsten ist. Die Barbarei ist die Neigung zur Auflösung der Gesellschaft.

[…] Barbarei ist es, geben wir uns keinen Täuschungen hin, die dank der zunehmenden Aufsässigkeit der Massen in Europa anzubrechen droht.

Die Fortentwicklung der Zivilisation geht mit einer Zunahme der Komplexität einher, und es gibt nur noch wenige, die den Überblick über die Zusammenhänge behalten, zumal es im Vergleich zum 18. Jahrhundert zwar mehr Spezialisten, aber weniger Menschen mit umfassender Bildung gibt.

Darum ist der Fortschritt je größer, umso gefährdeter. Das Leben wird immer angenehmer, aber immer verwickelter.

Zusammenfassend schreibt José Ortega y Gasset:

Die europäische Zivilisation – ich wiederhole es immer wieder – hat zwangsläufig zum Aufstand der Massen geführt. Der Aufstand der Massen hat eine außerordentlich erfreuliche Seite; er ist identisch mit der beispiellosen Steigerung, die das Leben in unseren Tagen erfahren hat. Aber seine Kehrseite ist beängstigend; sie zeigt, dass dieselbe Erscheinung identisch ist mit der sittlichen Entartung der Menschheit.

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„Der Aufstand der Massen“ ist Zeitdiagnose, Kultur- und Gesellschaftskritik. Der Spanier José Ortega y Gasset (1883 – 1955) schrieb die Essays 1926 bis 1929, also in einer Zeit des Umbruchs nach dem Ersten Weltkrieg und während einer Weltwirtschaftskrise.

Einige Passagen von „Der Aufstand der Massen“ lesen sich, als handele es sich um aktuelle Beobachtungen. Beispielsweise thematisiert José Ortega y Gasset den Werteverfall durch das Vordringen der Masse und die gleichzeitige Ver­kompli­zie­rung des Lebens aufgrund des zivilisatorischen Fortschritts. Während die Menschen früher nur mitbekamen, was in ihrem Dorf geschah, erfahren sie inzwischen sehr viel mehr. José Ortega y Gasset beschreibt die Informations­erweiterung durch Kino und Zeitung. 85 Jahre später leben wir in einer lange Zeit von Hörfunk und Fernsehen geprägten Mediengesellschaft. Im 21. Jahr­hundert betrifft die Globalisierung nicht nur den Erfahrungshorizont, sondern auch eine weltweite Interaktion, die nicht zuletzt durch das Internet ermöglicht wird. Weil dadurch alles mit allem in Verbindung steht, löst jede Aktion unvorhersehbare Nebenwirkungen aus, und das Leben ist noch komplizierter geworden. Es ist bemerkenswert, dass José Ortega y Gasset diese Tendenz bereits 1930 erkannte. Was José y Gasset damals nicht ahnen konnte, ist das Entstehen globaler Eliten, aber er schildert in „Der Aufstand der Massen“, dass in der unübersichtlich gewordenen Welt die Zahl der Menschen, die nicht die Orientierung verloren haben, kleiner geworden ist, während die Masse auf Stammtischniveau darüber diskutiert und für rationale Argumente unzugänglich ist. Da setzen heute die Populisten mit griffigen Parolen an, die einfache Lösungen für komplexe Probleme vorgaukeln. Durch die Entwicklung droht auch der von José Ortega y Gasset vertretene Liberalismus unterzugehen, zu dessen Kern es gehört, andere Meinungen zu respektieren und mit einer Opposition demokratisch zu regieren.

Mit den Populisten sind die Nationalisten auf dem Vormarsch. Vor dem Zweiten Weltkrieg konnte es aufgrund von Todfeindschaften zum Beispiel zwischen Deutschland und Frankreich keine europäische Integration geben. José Ortega y Gasset propagiert jedoch in „Der Aufstand der Massen“ die Überwindung des Nationalismus durch einen europaweiten Staat bzw. Staatenbund. Nach zwei Weltkriegen teilten viele diese Ansicht, aber inzwischen hat sich die Tendenz umgekehrt.

José Ortega y Gasset gibt in „Der Aufstand der Massen“ viele Denkanstöße, bietet jedoch keine Lösungen bzw. Therapien an. Seine Ausführungen sind nicht nur unsystematisch und lückenhaft, sondern auch arrogant.

Sein Buch sei eine Untersuchung, versichert Ortega von Anfang bis Ende. Was man von einer Untersuchung gemeinhin erwartet, nämlich dass sie ihren Gegenstand benennt, das Feld der Untersuchung absteckt, die Methoden, nach denen sie vorgeht, angibt und etwas über das Ziel des Ganzen verrät, das sucht man in „Der Aufstand der Massen“ vergeblich. Ortegas Vorgehen gleicht vielmehr der Chuzpe eines Mannes, der seine Nase in ein Restaurant steckt, zurückzuckt, weil es schlecht riecht, auf dem Heimweg Erwägungen über den schlechten Geruch in Restaurants anstellt und hinterher seinen Freunden erzählt, bei seiner Untersuchung des Zustands der Gastronomie sei er zu einem ganz niederschmetternden Resultat gekommen. (Lothar Baier: Der Aufstand der Massen, „Die Zeit“, 6. Januar 1984)

Lothar Baier hat seine Kritik an „Der Aufstand der Massen“ überspitzt. Sachlich weist er darauf hin, dass José Ortega y Gasset sich wie ein Pionier geriere und andere Autoren ignoriere, die ähnliche Themen vor ihm behandelten, zum Beispiel Gustave le Bon („Psychologie der Massen“, 1895) und Sigmund Freud („Massenpsychologie und Ich-Analyse“, 1921).

In seinem Buch „Der Aufstand der Massen“ hat José Ortega y Gasset 15 ab 1926 in der von ihm mitbegründeten liberalen Zeitung „El Sol“ veröffentlichte Essays zusammengefasst. Die Originalausgabe „La rebelión de las masas“ erschien 1930 in Madrid. Die Übersetzung ins Deutsche von Helene Weyl wurde 1931 von der Deutschen Verlagsanstalt in Stuttgart veröffentlicht, aber erst die ab Januar 1956 angebotene rororo-Ausgabe traf einen Nerv der Zeit; davon wurden in den ersten sechs Jahren 150 000 Exemplare verkauft.

 

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Inhaltsangabe und Rezension: © Dieter Wunderlich 2017
Textauszüge: © Deutsche Verlagsanstalt

Hanns-Josef Ortheil - Das Kind, das nicht fragte
Der Roman "Das Kind, das nicht fragte" von Hanns-Josef Ortheil ist eine stille und heitere, märchenhaft überzogene und selbstironische Geschichte der Selbstfindung, Heilung und Erlösung, aber auch ein Loblied auf die sizilianische Lebensweise und kulinarische Genüsse.
Das Kind, das nicht fragte

 

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Mehr als zwei Jahrzehnte lang las ich rund zehn Romane pro Monat und stellte sie dann mit Inhaltsangaben und Kommentaren auf dieser Website vor. Zuletzt dauerte es schon zehn Tage und mehr, bis ich ein neues Buch ausgelesen hatte, und die Zeitspanne wird sich noch verlängern: Aus familiären Gründen werde ich das Lesen und die Kommunikation über Belletristik deutlich reduzieren.